Ulrich Rosenbaum

»Es wird
nichts wieder
wie es war«

18 Interviews mit Willy Brandt
und zwei Reportagen

1989 bis 1992

Vorbemerkung
19. Oktober 1989: Was halten Sie von dem Neuen, Herr Brandt?
15. Januar 1990: Die SED verdient abgelöst zu werden
16. Januar 1990: Rückfall im Osten nicht vorstellbar
29. Januar 1990: Eine Reportage aus Gotha
3. Februar 1990: Was sollen die nächsten Schritte sein, Herr Brandt?
13. Februar 1990: Die Einheit ist da
26. Februar 1990 - Eine Reportage aus Leipzig: Wo ein Willy ist, ist auch ein Weg
5. März 1990: Ich habe mit diesem Tempo nicht gerechnet
6. März 1990: Die SPD wird die DDR regieren - aber nicht allein
17. März 1990: Macht die Demokratie zum Gewinner!
5. Mai 1990: Einheit ja, aber nicht so rasch
5. Juli 1990: Beitritt noch vor der Wahl
27. September 1990: Herr Brandt, welche Chancen hat Lafontaine?
26. November 1990: Die SPD kommt wieder
8. Dezember 1990: Engholm ist gut und stark
1. Februar 1991: Wird Saddam jemals nachgeben, Herr Brandt?
24. Mai 1991: Auch Deutsche zur UN-Friedenstruppe!
23. August 1991: Die müssen erst über den Winter kommen
16. Januar 1992: Ich bitte um Ablösung
11. Mai 1992: Der Kanzler gehört nach Berlin
Nachbemerkung

 

Vorbemerkung

Nach seinem Ausscheiden als Parteivorsitzender (1987) war es um Willy Brandt stiller geworden. Auch wenn er als SPD-Ehrenvorsitzender und Präsident der Sozialistischen Internationale noch mannigfache Aufgaben hatte. Als im Herbst 1989 das SED-Regime in der DDR zusammenbrach, sah Brandt eine neue Herausforderung auf sich zukommen: mitzuwirken an der Vollendung der deutschen Einheit, von der er immer geträumt hatte, ohne zu hoffen, das er sie noch erleben würde.
Willy Brandts letztes Interview am 10. Mai 1992 in seinem Büro am Tulpenfeld

Nach dem Fall der Mauer zog Brandt durch die DDR, um der neuentstandenen Sozialdemokratie auf die Beine zu helfen. In diese Dokumentation habe ich zwei Reportagen von diesen Reisen aufgenommen. Die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 brachte dann die bittere Enttäuschung. Die Ost-SPD wurde geschlagen. Brandt setzte sich in der Folgezeit dafür ein, daß Berlin wieder deutsche Hauptstadt werden sollte. Unvergessen auch sein Einsatz für die Deutschen, die Saddam Hussein im Herbst 1990 praktisch zu Geiseln genommen hatte.

In manchmal sehr dichter Abfolge - denn schließlich waren auch die Ereignisse dicht genug - gewährte Willy Brandt mir als Bonner Korrespondenten der "Bild"-Zeitung eine Reihe von Interviews. Darunter auch sein allerletztes, bevor er in die Klinik ging, aus der zum Sterben heimkehrte nach Unkel.

Manche der Interviews sind in der "Bild"-Zeitung in leicht gekürzter Fassung erschienen. Hier sind nun die von Brandt autorisierten Texte vollständig dokumentiert. Die gekürzten Passagen sind in eckige Klammern [...] gesetzt.

Für die Unterstützung beim Zustandekommen der Interviews danke ich Klaus Lindenberg.

Ulrich Rosenbaum

 

 
19. Oktober 1989

Was halten Sie von dem Neuen, Herr Brandt?

Erich Honecker ist gestürzt, der neue Mann an der Spitze der DDR heißt Egon Krenz. Viele sehen in ihm den Reformer. Und den Mann, der verhindert hat, daß die massenhaften Proteste nicht in einem Blutbad nach chinesischem Vorbild endeten. Aber das Fortbestehen des Staates DDR steht noch außer Zweifel. Willy Brandt äußert sich über Krenz zum ersten Mal in der Bild"-Zeitung.

Was halten Sie persönlich von Egon Krenz, was wird sich unter ihm ändern?

Ich bin nicht dazu da, dem neuen ersten Mann der DDR Zensuren zu erteilen. Daß er die Sicherheitsorgane zu verantwortungsvollem Verhalten gegenüber den Demonstrationen dieser Tage angehalten hat, verdient anerkannt zu werden.

Wird er die Erwartungen der Reformbewegung erfüllen können?

Man befindet sich drüben trotz und gerade wegen der personellen Veränderungen in einem Übergangsstadium. Ich bin skeptisch, was das Eingehen auf die Forderung nach ernsthaften Reformen angeht.

Kann er die Lage der Menschen verbessern, wird die deutsche Einheit wieder zu einem realistischen Ziel?

Die Lage der Menschen kann nur verbessert werden, wenn man sie nicht mehr gängelt. Das engere Zusammenrücken der Deutschen wird dann zu einem realistischen Ziel, wenn es sich in die europäischen Rahmenbedingungen einfügt.

 

15. Januar 1990

Die SED verdient abgelöst zu werden

Die Mauer ist am 9. November 1989 gefallen. "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört," hat Willy Brandt am Tag danach gesagt. Auch in der DDR hat sich eine SPD (zunächst "SDP") gebildet, die in ihrer Arbeit allerdings noch behindert wird. Für den 6. Mai sind Neuwahlen angesetzt. (Der Termin wird später auf den 18. März vorverlegt.) Die Regierung Modrow versucht vergebens, das Engagement von West-Politikern wie Brandt in der DDR zu bremsen.

Die Behinderungen für die Opposition zeigen, daß sich die SED nicht so schnell ablösen lassen will ...

Wer entmannt sich schon gerne selbst und vollständig. Aber ich glaube, daß die Behinderungen eher dazu führen, daß sich die Menschen in noch größerer Mehrheit, als ich es ohnehin erwarte, für eine neue Politik entscheiden.

Kann man Modrow trauen?

Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß er es aus seiner Sicht der Dinge ehrlich meint. Aber ich vergesse natürlich nicht, daß er der Repräsentant einer Partei ist, die trotz ihrer Kurskorrekturen abgelöst zu werden verdient.

Und Modrows Warnung vor Einmischung" bundesdeutscher Parteien zugunsten der DDR-Opposition?

Man kann sich nicht abschotten. Schließlich verfolgen wir in beiden Teilen Deutschlands über Fernsehen und Rundfunk mit, was jeweils die andere Seite sagt. Ist das Einmischung? Ich will im übrigen gar nicht an die Zeiten erinnern, als sich die SED bei uns sehr stark engagierte, auch über die Medien hinaus.

... Sie meinen die DKP-Finanzierung?

Sie sagen es. Ich meine, die Parteien in der Bundesrepublik sind gut beraten, wenn sie nicht den Eindruck erwecken, als wollten sie die Parteien drüben gängeln.

Werden Sie selbst im Wahlkampf drüben auftreten?

Wahlkampf im engeren Sinne möchte ich dort nicht betreiben. Ich gehe in den nächsten Wochen und Monaten in eine Reihe von Veranstaltungen, die nichts mit dem eigentlichen Wahlkampf zu tun haben, aber gleichwohl die Fragen berühren, die nicht nur die Sozialdemokraten drüben bewegen, sondern die Landsleute im Ganzen.

Die Sozialdemokraten der DDR nennen sich jetzt SPD. Gibt es bald eine gemeinsame Sozialdemokratie in ganz Deutschland?

Wie unabhängig die beiden Parteigruppierungen voneinander bleiben oder wie eng sie miteinander kooperieren - die Sozialdemokratie ist wieder da, nicht nur in Westdeutschland, sondern in Deutschland. Und sie wird es erst recht sein, wenn die beiden Teile Deutschlands enger zusammenwachsen, als man das vor kurzem noch für möglich gehalten hätte.

Wird die SPD bald drüben wieder die Rolle spielen wie vor 1933?

Die deutsche Sozialdemokratie kommt aus Sachsen. Aber auch in Thüringen, Mecklenburg und Brandenburg war sie früher stark, und es gibt hinreichend Anzeichen dafür, daß sie eine maßgebende Rolle unter den neuen Kräften spielen wird.

Soll die Vertragsgemeinschaft mit der DDR schon vor dem 6. Mai besiegelt werden?

Ich weiß nicht, wie man über eine Worthülse beschließen soll. Denn das ist es bisher. Man muß allmählich wissen, was in der Hülse drinstecken soll und was in den praktischen und ökonomischen Fragen in den nächsten Wochen und Monaten und nicht erst in ferner Zukunft geschehen soll. Im übrigen spricht alle Vernunft dafür, einen formellen Abschluß nicht vor den Wahlen in der DDR vorzunehmen.


16. Januar 1990

Rückfall im Osten nicht vorstellbar

Der zweite Teil des vorangehenden Interviews. Michail Gorbatschow, der die politische Öffnung des Ostblocks erst in Gang gesetzt hat, droht nun selber hinweggefegt zu werden.

Viele sind in Sorge um Gorbatschow - Sie auch?

Man soll den Teufel nicht an die Wand malen. Ich hoffe dringend, er möge mit seinen Problemen in der Sowjetunion vorankommen, und zwar rascher als bisher.

Stehen die Veränderungen in Osteuropa auf dem Spiel?

Nein. Sie haben ein Stadium erreicht, in dem ein Rückfall in frühere Verhältnisse nicht mehr gut vorstellbar ist.

In den Sowjetrepubliken, die jetzt unabhängig werden möchten, entstehen jetzt auch unabhängige sozialdemokratische Parteien. Unterstützen Sie das?

Zwischen den beiden Weltkriegen hat es in den baltischen Republiken - als diese noch unabhängig waren - nicht nur sozialdemokratische Parteien gegeben, sondern sie haben, wie in Lettland, dort auch regiert. In Lettland, Litauen und Estland gibt es diese Strömungen, und ich sehe nicht ein, warum sie sich nicht entfalten können sollen. Ich sehe auch nicht ein, warum sich in den Republiken der Sowjetunion nicht eine Art Pluralismus entwickeln soll, der auch in einem Mehrparteiensystem seinen Niederschlag finden könnte.

[In der SPD bewegt sich offenbar alles auf Lafontaine zu ...

Ich bin dafür nicht zuständig.

Aber Sie sind Ehrenvorsitzender, Ihr Rat ist gefragt.

Die Dinge haben ein Stadium erreicht, wo es meines Rates nicht mehr bedarf.

Schätzen Sie Lafontaine?

Wir kennen einander gut, schon als er noch Juso war. Die enge, auch freundschaftliche Verbindung hat darunter nicht gelitten, daß wir generationen-mäßig ein ganzes Stück auseinander sind und unterschiedliche Erfahrungen mitbringen.

Hat die SPD mit Lafontaine eine Chance, obwohl Kohl soviel Zustimmung findet?

Ich bin, was Lafontaine und die SPD betrifft, zuversichtlich. Die Dinge können sich rasch verändern und neu einpendeln. Die Landtagswahlen werden ihre Wirkung haben. Auch die Wahlen am 6. Mai in der DDR.]

 

 

29. Januar 1990: Eine Reportage aus Gotha

Willy Brandt: Die DDR ist nicht mehr notwendig"

Das thüringische Städtchen Gotha (58.500 Einwohner) erbebte von Willy, Willy!"-Rufen. 120.000 Menschen (Vopo-Schätzung) waren Samstagabend auf dem großen Marktplatz zu Füßen des Schlosses Friedenstein gekommen, um Willy Brandt reden zu hören.

Immer wieder Beifallsstürme, wenn Brandt Deutschlands Zukunft beschwor: Die Einheit wächst von unten, niemand kann sie uns mehr streitig machen." Dann Sprechchöre: Deutschland, einig Vaterland."

Der SPD-Ehrenvorsitzende kam zur Neugründung des SPD-Landesverbandes Thüringen. In Gotha war die SPD 1875 aus zwei Bewegungen entstanden. Im gleichen Saal wie damals, im Tivoli", versammelten sich am Wochenende vor der schwarz-rot-goldenen Traditionsfahne 60 Delegierte. Gäste neben Brandt Egon Bahr (er will vielleicht in Thüringen für die Volkskammer kandidieren) und Hoesch-Vorstandschef Rohwedder, Buchhändlerssohn aus Gotha. Ibrahim Böhme, Geschäftsführer, der DDR-SPD (jetzt 72.000 Mitglieder) und voraussichtlich Ministerpräsidentenkandidat, befürwortete eine Beteiligung an der Regierung Modrow: Wir wollen den 6. Mai als Wahltag sichern." Er versprach: Für ehemalige SED-Mitglieder gibt es einen Aufnahmestopp.

Für den 76jährigen Willy Brandt war es ein Marathon: An einem Tag drei Reden - und ein Besuch der Wartburg, Symbol der deutschen Einheit. Er besuchte das Zimmer, in das Luther verbannt war.

In Eisenach (30.000 Zuhörer) wurde ihm ein Transparent Volksentscheid" entgegengehalten. Brandt: Wer könnte nicht dafür sein?" Eine eigene DDR ist nicht mehr notwendig". Und: Einheit kommt nicht irgendwann in zehn, zwanzig Jahren, sondern sie ist das Zusammenrücken der Menschen in allernächster Zeit." In beiden Teilen Deutschlands müßten sich die fremden Truppen Schritt für Schritt zurückziehen. Eines Tages werden wir wieder unter uns sein," sagte er unter zigtausendfachem Jubel.

Willy Brandt hat neue DDR-Pläne: Am 19. März will er mit einem Sonderzug nach Erfurt fahren - wie auf den Tag genau zwanzig Jahre vorher, als er als erster Kanzler in die DDR reiste und mit Stoph sprach. Trotz Stasi riefen danach die Menschen Willy, Willy!". Brandt heute: Da begann die Phase der kleinen Schritte. Jetzt machen wir die größeren Schritte."


3. Februar 1990

Was sollen die nächsten Schritte sein, Herr Brandt?

Der Termin der Volkskammerwahl ist auf den 18. März festgelegt worden. In Umfragen gilt die Ost-SPD als klarer Favorit. Auch Modrow und Gorbatschow setzen jetzt langfristig auf die deutsche Einheit, vorausgesetzt, beide Teile werden bündnispolitisch neutral.

Wie sollten die nächsten Schritte zur deutschen Einheit aussehen?

Nach dem 18. März sollte möglichst schnell ein gemeinsamer Regierungsausschuß gebildet werden. Nicht zu spät danach ein Parlamentarischer Rat, in den die Parlamente in Bonn und Ostberlin gleich viele Vertreter entsenden. Der nächste Schritt: eine gemeinsame Ministerpräsidentenkonferenz, die zusammentreten könnte, sobald es drüben wieder Länder gibt.

Wie beurteilen Sie die Modrow-Initiative?

Ich halte die Erklärungen von Gorbatschow und Modrow für sehr wichtig. Das Ziel der Einheit scheint nicht mehr umstritten zu sein. Noch wichtiger ist allerdings jetzt, daß man mit den praktischen Dingen auf wirtschafts- und währungspolitischem Gebiet rasch vorankommt.

Was halten Sie von einem neutralen Deutschland?

Die Formel von einer sicherheitspolitischen Neutralität ist nicht hilfreich. Deutschland läßt sich nicht ausklammern oder zu einem Vakuum machen. Vielmehr müssen wir bewährte Freundschaften pflegen und daran mitarbeiten, daß anstelle der Konfrontation ein System zur dauerhaften Sicherung des europäischen Friedens geschaffen wird.

Haben Bush und Gorbatschow wirklich schon grünes Licht zur Einheit gegeben?

Ich meine in der Tat, daß für einen Bund der beiden deutschen Staaten die Ampeln auf Grün stehen. Was darüberhinausreicht, bedarf der Klärung und braucht deshalb Zeit. Und noch einmal: Jetzt kommt es darauf an, sich auf die praktischen Fragen zu konzentrieren.

 

13. Februar 1990

Die Einheit ist da

Der Einigungsprozeß geht weiter. Kohl und Gorbatschow haben bereits die Weichen gestellt. In der DDR ist der Wahlkampf voll entbrannt. Der SPD mit ihrem Spitzenmann Ibrahim Böhme wird die absolute Mehrheit vorausgesagt.

Könnte es statt der nächsten Bundestagswahl schon eine gemeinsame Parlamentswahl geben?

Ist es nicht zuerst wichtig, daß wir es nach dem 18. März mit zwei demokratisch legitimierten Parlamenten zu tun haben, die im Namen der Menschen sprechen können? Was danach geschieht, ist abhängig von den beiden Prozessen, aus denen die Verwirklichung der Einheit bestehen wird: Erstens den praktischen Fragen wie Währungsunion, soziale Angleichung - dies soll nach dem 18. März so schnell wie möglich laufen. Und zweitens dem Aushandeln des sicherheitspolitischen Status Deutschlands, was nicht von uns allein abhängt.

Ibrahim Böhme von der DDR-SPD möchte die Einheit noch dieses Jahr, aber vier Jahre lang sollen beide Parlamente gemeinsam tagen.

Die Einheit ist da, wenn die Volkskammer nach dem 18. März für die Menschen in der DDR bekundet, daß sie die Einheit will. Dann müssen die Fragen ausgehandelt werden, von denen ich gesprochen habe. Solange dieser Prozeß läuft, sollte ein Gremium beider Parlamente gemeinsam tagen. Sicher muß das nicht vier Jahre dauern.

Welche Rolle soll Berlin spielen?

Eine zentrale Rolle. Es schiene mir in hohem Maße unvernünftig, das Parlament an einem und die Regierung an einem anderen Ort haben zu wollen.

Was für Berlin spricht?

Ja, aber was nicht bedeuten muß, daß Bonn entleert wird. Es gibt wichtige Aufgaben, die Bonn weiter wahrnehmen kann.

Wie bewerten Sie das Treffen Kohl-Gorbatschow?

Ich begrüße jeden realen Schritt, der die Teilung Deutschlands und Europas überwinden hilft. Allerdings spricht die Vermutung dafür, daß sich die militärischen Statusfragen nicht so rasch beantworten lassen wie die Zusammenführung der Währungs- und Wirtschaftsgebiete.

War es ein historischer Tag", wie der Kanzler meint?

Dies ist ein Zeitabschnitt, in dem den Menschen in Deutschland mit propagandistischer Vereinfachung und sachfremder Hektik besonders wenig gedient ist. Man braucht auch nicht aus fremden Hauptstädten als Neuigkeiten zu verkünden, was dem aufgeklärten Publikum durchaus bekannt ist.

Die Reaktionen aus dem Ausland sind nicht nur positiv. Frau Thatcher sieht schon neue Kriegsgefahren.

Ich denke, daß man sich geduldig aber auch bestimmt mit den Befürchtungen auseinandersetzen muß. Ich selbst vermag nicht einzusehen, wieso sich etwas im Verhältnis zur Umwelt der Qualität nach verändern soll, wenn wir 80 statt 65 Millionen in einem Staat darstellen. Es gibt keinen berechtigten Vorwand, nicht ernsthaft und zügig über den Status Deutschlands zu reden. Sonst kriegen die Deutschen den Eindruck, über die deutsche Einheit wurde nur solange positiv befunden, solange nicht die Gefahr" bestand, daß sie Wirklichkeit werden könne.


26. Februar 1990 - Eine Reportage

120 000 in Leipzig: Wo ein Willy ist, ist auch ein Weg

Willy Brandt in Leipzig - für den SPD Ehrenvorsitzenden eine Stunde des Triumphs. 120 000 feierten ihn auf dem Augustus-Platz (Karl-Marx-Platz). Sie riefen "Willy, Willy!" und sangen "Hoch soll er leben", hielten Transparente wie Wo ein Willy ist, ist auch ein Weg". Über ihren Köpfen wogte ein Meer schwarz-rot-goldener Fahnen. Und darüber lag ein grauer Dunst aus Wolken und Schmutz. Wegen der dicken Luft hatte Brandt auf einen Stadtbummel verzichtet, war lieber im Hotel geblieben.

Dann die Kundgebung. Immer wieder mußte er unterbrechen, zu laut toste der Beifall. Er sagte den Leipzigern eine große Zukunft voraus, "als Industrie- aber auch Büchermetropole, die diese Stadt einmal war". Er beschwor die Menschen, am 18. März zur Wahl zu gehen und die DDR nicht zu verlassen. "Die deutsche Einheit kann nicht bedeuten, daß wir uns alle im Westen wieder finden." Und: "Hier bleiben, auf Erneuerungen und Verbesserungen setzen und nicht die DDR leerlaufen lassen!"

Dann entdeckte er ein Transparent, das es gar nicht gut mit ihm meinte. Aufschrift: Wendehälse gibt es auch im Westen. Willy Brandt im September 1989: "Wiedervereinigung ist die Lebenslüge der zweiten deutschen Republik.'" Brandt konterte: "Die Wiedervereinigung war eine Lebenslüge, Neuvereinigung ist die Parole." Er mahnte, das geeinte Deutschland sozial- und nachbarschaftsverträglich zu gestalten. "Das könne man nicht, wenn man nach der DDR-Gaststättenverordnung verfährt: Sie werden plaziert!" Die Sachsen lachten.

Beim Parteitag der Ost-SPD war Brandt vorher einstimmig zum Ehrenvorsitzenden gewählt worden. Parteivize Meckel: "Willy Brandt ist eine Symbolfigur für viele Deutsche." Die Ehrung überwältigte den 76jährigen, er hatte Tränen in den Augen. In seiner Dankesrede plädierte er für eine gemeinsame Verfassung, die "hüben wie drüben" ihre Bestätigung durch das Volk finden müsse. Und er warnte: "Der Zug der Einheit rollt. Jetzt kommt es darauf an, daß niemand unter die Räder kommt. Das zu verhindern ist wichtiger als der Komfort derjenigen, die Erster Klasse fahren."


5. März 1990

Ich habe mit diesem Tempo nicht gerechnet

Brandt macht Wahlkampf in der DDR. Sein ursprünglich exakt für den 20. Jahrestag geplanter Besuch in Erfurt (am 19. März 1970 hatte er sich im Stoph getroffen) wird auf den 3. März vorverlegt. Brandt grüßt noch einmal von Fenster im Erfurter Hof" herunter. Auf dem Domplatz eine Kundgebung mit 70 000 Menschen. Es wird in diesen Tagen viel schmutzige Wäsche gewaschen. Auch Brandt selber ist nicht mehr tabu.

Sozialdemokraten werfen der Ost-CDU vor, daß sie eine Blockpartei gewesen ist. Ist dieser Vorwurf gerecht?

Ich verstehe, daß Sozialdemokraten in der DDR einige Christdemokraten darauf hinweisen, wie lange sie dabei gesessen haben in den staatlichen Funktionen. Und daß sie nicht widersprochen haben, nicht einmal beim Schießbefehl. Aber es gibt wichtigere, nach vorn gerichtete Themen.

Sitzt die SPD nicht im Glashaus? Nicht alle Sozialdemokraten sind ja 1946 gegen die Vereinigung der KPD gewesen, und manche waren auch in der Regierung.

Ja, auch wenn die große Mehrheit dagegen war, gab es welche, die voller Illusionen hineingegangen sind in diese Einheitspartei. Doch die meisten sind schon ein paar Jahre danach untergebuttert worden. Aber es ist doch wohl etwas ganz anderes, bis ins Jahr 1989 ohne Widerspruch die Maßnahmen der SED-Regierung gebilligt zu haben, oder daran zu erinnern, wer früher einmal Sozialdemokrat war. Im übrigen halte ich von dieser Art von Polemik nichts. Wie ich überhaupt meine, man sollte nicht alle Unarten unserer Wahlkämpfe in die DDR exportieren.

Ihnen wird der Satz vorgehalten, die Wiedervereinigung sei die Lebenslüge der zweiten Republik. Bereuen Sie diese Äußerung heute?

Wenn ich gewußt hätte, wie er mißbraucht wird, hätte ich denselben Gedanken vermutlich klarer formuliert. Der Gedanke lautet: Es wird nichts wieder wie es war. Ich bin für Neuvereinigung, es gibt kein Zurück zum Reich oder zu den alten Grenzen. Deswegen zu behaupten, man sei nicht für die deutsche Einheit gewesen, ist eine Zumutung gegenüber jemandem, der sich seit seiner Zeit in Berlin mindestens so sehr wie andere um die Einheit gekümmert hat und der als Kanzler bei den Verträgen mit Moskau 1970 und der DDR 1972 darauf bestanden hat, daß ein Brief zur deutschen Einheit" hinterlegt wurde. Darin ist festgehalten, daß das Recht auf Selbstbestimmung nicht untergegangen ist.

Hatten Sie den Glauben an die Einheit schon aufgegeben?

Ich habe mit diesem Tempo der Entwicklung nicht gerechnet. Ich möchte mal denjenigen sehen, der das auch nur im Frühjahr 1989 genau vorausgesehen hätte. Ich habe aber schon im Juni 1989 aufgeschrieben: Warum, mit welchem Recht und aufgrund welcher Erfahrung ausschließen, daß eines Tages in Leipzig und Dresden usw. Hunderttausende auf dem Beinen sind und ihre staatsbürgerlichen Rechte einfordern. Aber: geschnuppert hat man das schon. Und ich habe schon vor Jahren im Angesicht der Mauer gesagt, daß zusammenwachsen wird, was zusammengehört.

 

6. März 1990

Die SPD wird die DDR regieren - aber nicht allein

Der zweite Teil des Interviews vom Vortag. Die Wahlchancen der SPD und ihres Spitzenkandidaten Ibrahim Böhme am 18. März werden inzwischen nicht mehr ganz so hoch gehandelt. Kohl kämpft für die Allianz für Deutschland" und ihren Spitzenmann Lothar de Maiziére.

Einige ihre Parteifreunde wollten auf Honeckers Forderung eingehen, die DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen.

Ich war nicht der Meinung, daß man sich damit ernsthaft befassen sollte. Aber das ist ein künstlicher Streit. Denn tatsächlich hat es unter unserem Dach der einheitlichen deutschen Staatszugehörigkeit eine gesonderte Zuordnung der DDR-Bürger unter die dort geltenden Bestimmungen gegeben.

Ibrahim Böhme und seine Freunde haben lange Zeit im Untergrund ohne Anerkennung ohne die SPD arbeiten müssen. Warum?

Man kann nicht auf etwas reagieren, was man im einzelnen nicht kennt. Das hat die Illegalität so an sich. Ich habe mit Ibrahim Böhme und seinen Freunden, die im August 1989 die neue Sozialdemokratie begründeten, zum erstmöglichen Zeitpunkt Verbindung aufgenommen. Jüngere Kollegen aus dem Bundestag hatten sich schon vorher um jeden möglichen Kontakt mit der Opposition in der DDR bemüht.

Sie wollen eine rasche Einheit. Lafontaine redet von längeren Fristen. Ist er da eigentlich der richtige Kanzlerkandidat?

Es ist doch legitim, daß jemand aus seiner Verantwortung als Ministerpräsident dem Wunsch dem Wunsch nach Einheit die Warnung hinzufügt, nicht den Kopf in den Sand zu stecken und die vielen praktischen Schwierigkeiten nicht zu übersehen, die zu meistern sind. Ich sehe hier überhaupt keinen Gegensatz, sondern eine unterschiedliche Betonung.

Sind Sie dafür, daß sich die Deutschen eine neue gemeinsame Verfassung geben?

Ich bin schon allein deshalb dafür, weil die Menschen von der Ostsee bis zum Vogtland auch auf diese Weise das Gefühl vermittelt bekommen sollen, sie haben mitgewirkt an der gemeinsamen verfassungsmäßigen Grundlage. Im übrigen bin ich der Meinung, unser Grundgesetz hat sich glänzend bewährt. Es könnte im großen und ganzen zur Grundlage genommen werden. Es würde uns niemand daran hindern, eine durch Volksabstimmung zu bestätigende gemeinsame Verfassung Grundlage relativ schnell auf den Tisch zu bringen, selbst wenn einige Fragen wie die der etwaigen Länderneugliederung vorerst noch offengelassen würden.

Was würden Sie sagen, wenn man Ihnen anbietet, Präsident eines gemeinsamen parlamentarischen Gremiums zu werden?

Ich habe Ämter gehabt und strebe keine mehr an. Wenn in einem gemeinsamen parlamentarischen oder verfassungsgebenden Gremium mein Rat von Nutzen sein kann, werde ich mich dem nicht entziehen.

Wie schätzen Sie die Chancen der SPD am 18. März ein?

Ich gehe mit einiger Sicherheit davon aus, daß die Sozialdemokraten die stärkste Partei sein werden. Aber ob sie nun ein bißchen mehr oder weniger haben, ändert nichts daran, daß alle Vernunft dafür spricht, die Regierung auf breiterer Grundlage als auf der einer einzigen Partei aufzubauen.


17. März 1990

Macht die Demokratie
zum Gewinner!

Einen Tag vor der Volkskammerwahl ein letzter Appell von Willy Brandt. Der Wahltag 18. März sollte dann zur großen Enttäuschung für die DDR-SPD werden. Dies, obwohl Wolfgang Schnur vom CDU-unterstützten Demokratischen Aufbruch" kurz zuvor als Stasi-Spitzel entlarvt worden war. Nach der Wahl ereilte SPD-Spitzenmann Ibrahim Böhme das gleiche Schicksal.

Wie lautet Ihre Botschaft an die Bürger der DDR einen Tag vor der Wahl?

Geht wählen! Und macht die Demokratie zum eigentlichen Wahlgewinner!

Was haben Sie bei der Affäre Schnur empfunden?

Das ist ein armes Schwein. Der zusätzliche Fehler, den er unter den veränderten Bedingungen gemacht hat, war, nicht Rechenschaft zu geben, sondern eine politische Führungsaufgabe anzustreben.

Haben West-Politiker nicht zu massiv in den DDR-Wahlkampf eingemischt?

Der Wahlkampf ließ sich nicht in Watte packen. Auch wenn keiner hingegangen wäre, hätte das Fernsehen voll hineingewirkt. Wie denn überhaupt die gesamte Veränderung östlich von uns zum großen Teil nur durch die Rolle der elektronischen Medien zu verstehen ist.

Muß nicht nach dem 18. März in der Bundesrepublik der politische Streit hinter dem nationalen Konsens zurücktreten?

Warum erst jetzt danach fragen, was aufgrund gemeinsamer Interessen geboten ist? Außerdem geht es mehr um eine Holschuld der Regierung als um eine Bringschuld der Opposition.

Welche Schritte sollte eine neue DDR-Regierung zuerst anpacken?

Mit Bonn den Zeitplan festlegen für eine gemeinsame Währung, die Wirtschaftseinheit und die sozialen Absicherungen. Und dann die Rechtsprobleme: Soll bundesdeutsches Recht rückwirkend in der DDR gelten - ab wann - oder nicht? Das greift zum Beispiel in der Eigentumsfrage sehr tief in das Leben der Menschen ein.

Die West-SPD ist uneins, wie schnell die Währungsunion kommen sollen. Wie stehen Sie dazu?

Ich halte es mit Edzard Reuter, der gesagt hat: Es wäre schön, wenn man Zeit hätte, aber aus politischen Gründen hat man keine Zeit. Es muß also sehr schnell etwas geschehen.

Wie schnell und auf welchem Weg kann die Einheit kommen?

Die alleinige und rechthaberische Berufung auf den Artikel 23 hat sich als Flop erwiesen. Es gibt die Einheit nur in Etappen. Mit der Währungs- und Wirtschaftseinheit kann und muß jetzt angefangen werden.

Sie haben im italienischen Fernsehen die Öffnung der Mauer als unüberlegte Entscheidung" bezeichnet, die uns an den Rand des Chaos" gebracht hat ...

Das ist ein Mißverständnis, wie es bei Hin- und Rückübersetzungen schon mal entsteht. Ich habe von einer "kopflosen Entscheidung" gesprochen, weil am 9. November die DDR die Mauer öffnete, ohne vorher eine Abstimmung mit den Behörden West-Berlins und des Bundes vorzunehmen. "Hieraus hätte leicht ein Chaos werden können," habe ich hinzugefügt. Im nachhinein bin ich froh, daß die Dinge nicht aus dem Ruder gelaufen sind und die Menschen in der DDR so vernünftig geblieben sind.


5. Mai 1990

Einheit ja, aber nicht so rasch

In der DDR regiert nach der Volkskammerwahl eine Koalition aus CDU, SPD und Liberalen. Die vier Alliierten von einst und die beiden deutschen Regierungen führen Verhandlungen über die Herstellung der deutschen Einheit.

Erwarten Sie von den 2+4-Verhandlungen an diesem Wochenende rasche Schritte zur deutschen Einheit?

Es wird nicht so rasch gehen, wie einige der Beteiligten gemeint haben. Ein gutes Ergebnis ist auch besser als ein überstürztes.

Wie sollte die Frage der Bündniszugehörigkeit eines vereinigten Deutschland gelöst werden?

Die Bundesrepublik gehört zu den westlichen Gemeinschaften. Hiervon sollte auch das vereinte Deutschland profitieren. Dies sollte natürlich nicht ausschließen, in allem Ernst und mit aller Kraft für ein umfassendes System der europäischen Sicherheit zu arbeiten.

Sie haben gesagt: Wir Deutsche wollen wieder unter uns sein." Sollen fremde Truppen verschwinden?

Zum einem selbstständigen Land gehört: Wenn fremde Truppen auf einem Territorium stehen, muß durch Vertrag vereinbart sein, wie viele und wie lange.

Soll es weiter Atomwaffen auf deutschem Boden geben?

Wenn es nach mir geht: Nein!

[In den vom Kommunismus befreiten Staaten setzen sich die bürgerlichen Kräfte durch. Wo bleiben die Chancen für die Sozialistische Internationale, deren Präsident Sie sind?

Die politischen Gewichte in den bisher kommunistisch regierten Ländern werden sich noch erheblich verändern. Und die Sozialistische Internationale hat sich überhaupt nicht darüber zu beklagen, daß das Interesse an ihr erlahmt sei.]

Kann im vereinten Deutschland die SPD noch die führende Kraft werden?

Aber gewiß hat die SPD gute Chancen, zum führenden Faktor der deutschen Politik zu werden.


5. Juli 1990

Beitritt noch vor der Wahl

Seit dem 1. Juli besteht die Währungsunion mit der DDR. Trotz Brandts früherer Bedenken will die DDR nun nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik beitreten. Am 2. Dezember soll gemeinsam der Bundestag gewählt werden. Oskar Lafontaine, gezeichnet vom Messerattentat, hat sich entschieden, Kanzlerkandidat zu bleiben. Seine distanzierte Haltung zum Einigungsprozeß, sein anfängliches Nein zum ersten Staatsvertrag mit der DDR, sind in der SPD umstritten. Auch das einst gute Verhältnis des Enkels" zu Brandt ist daran zerbrochen und wurde auch später nie gekittet.

Wann soll die DDR der Bundesrepublik beitreten und wie steht es mit dem Wahlrecht?

Ich hielte es für absurd, mit zweierlei Wahlrecht Abgeordnete in einen gemeinsamen Bundestag zu wählen. Also. gemeinsames Wahlrecht und Beitritt der DDR zum Grundgesetz vor der Wahl.

Die SPD hatte es bisher gar nicht so eilig mit der Einheit, das Tempo bestimmte der Kanzler ...

In Wirklichkeit ist das Tempo von den Menschen selbst beschleunigt worden. Es gab viele Gründe dafür, den Weg nicht ganz so schnell zu gehen. Aber die Volksstimmung war dagegen. Die SPD hat deshalb zum richtigen Zeitpunkt gesagt: Gesamtdeutsche Wahlen so rasch wie möglich.

Wie soll der neue Staat heißen?

Bundesrepublik Deutschland" wäre auch für die Zukunft keine schlechte Staatsbezeichnung.

Und Berlin als Hauptstadt?

Ja, aber die Diskussion über die Hauptstadtfrage sollte versachlicht werden. Berlin als Hauptstadt muß nicht bedeuten, daß Bonn entvölkert wird. Die Interessen Bonns und seiner Bevölkerung bedürfen vielmehr sorgfältiger Berücksichtigung. Bei der regionalen Streuung von obersten Bundesbehörden und Gerichten sollte es bleiben.

Ist Oskar Lafontaine der richtige Mann in dieser historischen Situation.

Oskar Lafontaine ist der beste Anwärter der SPD für das Amt des Bundeskanzlers.

Und Ihr persönliches Verhältnis zu ihm?

Es war und ist freundschaftlich.

Wie beurteilen Sie die ersten Erfahrungen mit der D-Mark in der DDR?

Die Menschen haben sich in ihrer großen Mehrheit nüchtern, verantwortungsbewußt und illusionsfrei verhalten. Das begrüße ich. Die mit dem Übergang verbundenen Probleme werden noch schwierig genug.

Also Sorgen für die Zukunft?

Im ganzen bin ich zuversichtlich. Sorgen muß man sich wegen der Arbeitslosigkeit und wegen der Anpassung des Lohn- und Gehaltsniveaus machen. Zweifel hege ich hinsichtlich des Zeitplans für den Außenstatus des vereinigten Deutschland einschließlich der auf das Kriegsende zurückgehenden Vorbehaltsrechte der damaligen Siegermächte. Und noch ein Punkt liegt mir am Herzen: die in Teilen der DDR um sich greifende Ausländerfeindlichkeit. Hier gegenzusteuern müßte schon jetzt als ein Stück gemeinsamer Verantwortung verstanden werden.

Gar so gut steht die SPD bisher in der DDR nicht da.

Durch die für Ende September geplante Vereinigung mit der West-SPD wird sie politisch gestärkt werden. Aber sie ist nach wie vor schwer benachteiligt, wo es um die personelle und materielle Ausstattung geht.

Sie meinen die Vermögensfragen der Parteien?

Es geht einerseits darum, daß die SPD Anspruch darauf hat, für das ihr genommene Vermögen entschädigt zu werden. Andererseits um die Regulierung des unrechtmäßigen Besitzes der früheren Einheitspartei und der mit dieser verbundenen Blockparteien. Das läßt sich nicht im Handumdrehen lösen. Doch gleiches Startchancen bei den bevorstehenden Wahlen sind ein vordringliches Problem. Wenn die SPD hierbei extrem benachteiligt werden sollte, wird sich eine verfassungsrechtliche Auseinandersetzung kaum vermeiden lassen.


27. September 1990

Herr Brandt, welche Chancen hat Lafontaine?

An jenem 27. September findet in Berlin die Vereinigung von SPD Ost und West statt. Die staatliche Vereinigung ist für den 3. Oktober vorgesehen. Am 14. Oktober sollen die Landtage in den wiederentstandenen Ländern der Ex-DDR gewählt werden.

Hätten Sie die Vereinigung der SPD lieber früher gesehen?

Ja. Aber es wäre weder möglich noch richtig gewesen. Eine frühere Vereinigung hätte zu Lasten des Selbstwertgefühls derer gehen können, die sich neu und noch unter den Bedingungen der SED-Diktatur in Bewegung gesetzt hatten. Daß die Vereinigung der Partei vor der staatlichen Vereinigung erfolgt, war höchste Zeit.

Die SPD in der DDR ist nicht im besten Zustand...

Es ist einiges besser geworden in den letzten Monaten. Jetzt wird es zu einem größeren Austausch von Ideen und Menschen kommen. Das wird die SPD auch in der bisherigen DDR auf die Beine bringen.

Wie sehen Sie heute die Frage ehemaliger SED-Mitglieder in der SPD?


Ich bin nach wie vor der Meinung, daß über deren Aufnahme die Parteiorganisationen vor Ort entscheiden müssen. Ich verstehe gut, daß dort weiterhin strenge Maßstäbe angelegt werden, wo es sich um ehemalige Funktionäre der SED handelt, zumal solche, die Dreck am Stecken haben. Aber solchen, die hineingepreßt wurden in die SED, die um ihrer Existenz willen hineingegangen sind, und auch solchen, die guten Glaubens dabei waren und neue Überzeugungen gewonnen haben, sollte man die Tür nicht vor der Nase zuschlagen.

Gilt dies auch für die Gesamtgesellschaft im vereinigten Deutschland?

Es wäre ja absurd, wenn man auf Dauer strengere Maßstäbe an Mitläufer der SED anlegte als an Mitglieder der Blockparteien.

Könnte sich durch die neuen Mitglieder aus der DDR das Spektrum der SPD nach rechts verschieben?

Rechts und links - das ist mir zu schematisch. Richtig ist aber, daß es in der SPD der DDR ziemlich durchgängig eine Dogmenfreiheit gibt. Das ist eher ein Vorteil.

Könnte die PDS der SPD-Linken Wähler abziehen?

Wohl kaum. Vielleicht ein paar junge Intellektuelle. Trotzdem rate ich meiner Partei, hier keinen Freiraum zu lassen.

Welche Chance hat Lafontaine überhaupt gegen einen Kanzler der Einheit"?

Wir stehen ja noch vor dem Beginn des eigentlichen Wahlkampfes. Ich habe den Eindruck, daß Lafontaine gut gerüstet ist, die Fragen zu beantworten, die sich die Menschen in beiden Teilen Deutschlands stellen. Das sind die Fragen der sozialen Sicherung, der Arbeitsplätze, der ökologischen Erneuerung.

Zur Golfkrise: Liegt ein Krieg in der Luft?

Das ist die Sorge, die UN-Generalsekretär Perez des Cuellar artikuliert hat. Damit meinte er, daß ein großer Teil der arabischen Welt Saddam Hussein folgen könnte. Aber ich setze immer noch auf die Chance, daß eine größere kriegerische Auseinandersetzung vermieden werden kann. Gerade nach den jüngsten Beschlüssen des Weltsicherheitsrats zur Luftblockade, denen ja nur Kuba nicht gefolgt ist.

[ Soll sich das vereinigte Deutschland an UN-Truppen beteiligen?

Wenn es um die sogenannten Blauhelme geht, habe ich nichts dagegen. Wir haben und ja in Namibia auch schon beteiligt. Wenn dazu das Grundgesetz ergänzt werden muß, bin ich dafür. Was aber die Beteiligung an Truppen betrifft, so meine ich, daß wir gerade wegen der Herstellung der Einheit keine übertriebene Eile zeigen sollten.]


26. November 1990

Die SPD kommt wieder

Die Golfkrise spitzt sich zu. Iraks Diktator Saddam Hussein reagiert auf die internationale Blockade, indem er Ausländer nicht mehr ausreisen läßt Am 5. November reist Brandt nach Bagdad, um zu vermitteln. Am 9. November kehrt er mit 189 Geiseln, darunter 138 Deutsche, nach Frankfurt zurück. Anschließend steigt er sofort wieder in den Bundestagswahlkampf ein, tritt vor allem im Osten auf. Doch die Plätze sind längst nicht mehr so voll wie in den Wochen nach dem Fall der Mauer. Die Umfragen stehen schlecht für die Sozialdemokraten. Außer in Brandenburg kam sie schon bei den Landtagswahlen im Oktober nirgendwo an die Macht.

Sie waren gerade erst wieder auf Wahlkampftour in der ehemaligen DDR. Wie ist die Stimmung für die SPD?

Ich stoße auf viel Freundlichkeit. Die SPD in den neuen Bundesländern hat bekanntlich unter alles anderem als gleichen Startchancen anfangen müssen. Das wird sich in den nächsten Jahren ausgleichen können. Wenn ich allein aus Sicht meiner Partei zu urteilen hätte, wäre ich zuversichtlich.

Und die Stimmung allgemein?

Die Freude über das Ende der kommunistischen Herrschaft dauert an. Aber es gibt schrecklich viel Unsicherheit. Die zu überwinden ist Aufgabe der nächsten Bundesregierung - mehr noch als der eben erst in ihre Aufgaben hineinwachsenden neuen Landesregierungen.

Wie würden Sie eine Woche vor der Wahl das Wahlziel formulieren?

Nicht anders als Oskar Lafontaine, der Kanzlerkandidat. Ich sage den Menschen, daß Deutschland eine starke Sozialdemokratie braucht.

Es wird viel darüber geredet, daß der Begriff Sozialismus" diskreditiert sei und ihn die Sozialdemokratie nicht mehr benutzen sollte.

In Mitteleuropa ist nicht zu verkennen, daß der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus" alles betroffen gemacht hat, was dem Namen nahekommt. Das ist eine vorübergehende Erscheinung und wird in einigen Jahren wieder anders aussehen. Viel wichtiger als Begriffe sind die Inhalte. Und die Inhalte, die mit Sozialdemokratie verbunden sind, werden wieder da sein - unabhängig vom Namen.

Welche Hoffnung auf die wirtschaftliche Entwicklung machen Sie den Menschen in Ostdeutschland?

Ich eigne mich hier nicht als Ausputzer. Doch ich meine guten Gewissens sagen zu können, daß die wirtschaftliche Aufforstung in drei bis fünf Jahren überzeugende Ergebnisse zeigen wird. Inzwischen kann den Menschen in den neuen Bundesländern niemand verübeln, wenn sie auf ihre Recht pochen, daß ihre Lebensverhältnisse so bald wie möglich an die in der bisherigen Bundesrepublik angeglichen werden. Also: weder krankhafte Wehleidigkeit noch falsche Bescheidenheit.

Wie steht es um die Bewältigung der SED-Vergangenheit?

Das ist nicht mehr nur eine Aufgabe für die Landleute in der ehemaligen DDR. Der Bund ist jetzt in der Pflicht. Es fehlt an einer deutlichen Differenzierung zwischen denen, die sich eigentlichen Sinne schuldig machten, und denen, die sich irrten und durchmogelten. Je besser alte Seilschaften aufgebrochen und dubiose Vermögensverhältnisse offengelegt werden, um so eher gelingt die wünschenswerte Aussöhnung der breiten Schichten unseres Volkes im Osten.


8. Dezember 1990

Engholm ist gut und stark

Die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 hat die SPD auf eine Ein-Drittel-Partei zurückgeworfen. Noch schlimmer das Ergebnis in Berlin, wo die SPD-Regierung Momper abgewählt wird. Hans-Jochen Vogel hat seinen Rückzug vom Amt des Parteivorsitzenden angekündigt. Oskar Lafontaine will es nicht übernehmen und hat sich nach Spanien in Urlaub begeben. Es heißt, Brandt habe ihn im Parteivorstand offen kritisiert. Die Erwartungen richten sich nun auf Björn Engholm, der sich aber Bedenkzeit ausgebeten hat. Vogel drängt auf eine Entscheidung bis Weihnachten.

Nach der Wahlniederlage auch noch eine Führungskrise. Was ist los mit der SPD?

Wenn eine große Partei einen solchen Mißerfolg hinzunehmen hat, ist es ein gutes Zeichen, wen man nicht zur Tagesordnung übergeht sondern sich erst einmal auf den Weg der Selbstprüfung begibt.

Am meisten wird Björn Engholm als künftiger Vorsitzender genannt.

Es ist überhaupt kein Zweifel, daß der schleswig-holsteinische Ministerpräsident ein guter und starker Kandidat ist. Ich kann allerdings nicht ganz die Hektik verstehen, die jetzt um diesen Vorgang entstanden ist. Die SPD wählt auf einem Parteitag Ende Mai und nicht an Heiligabend. Und sie wählt auch die stellvertretenden Bundesvorsitzenden und einen Bundesgeschäftsführer. Aber ich sehe ein, daß durch die Landtagswahl in Hessen (20. Januar 1991 - d. Red.) ein gewisser Zeitdruck entstanden ist.

Engholm hat Bedenken, ob ein Ministerpräsident, der fern von Bonn regiert, die Partei führen kann.

Das ist ein ernstzunehmendes Bedenken. Freilich, ein Landeschef hat regelmäßig in Bonn zu tun. Ich habe damals, als ich Regierender Bürgermeister von Berlin war, solche Termine mit Parteiterminen verbunden. Natürlich muß man auch noch zusätzliche Tage aufwenden. Der Vorsitz erfordert zwar eine erhebliche Präsenz, aber die ist mit der ordentlichen Führung einer Landesregierung nicht unvereinbar.

Es gibt Berichte, daß ein Redebeitrag von Ihnen im Parteivorstand der letzte Auslöser für Lafontaines Verzicht auf den Parteivorsitz war. Haben Sie das auch so empfunden?

Überhaupt nicht. Richtig ist, daß ich an uns alle die Frage gerichtet habe, ob die SPD - so richtig es war, die soziale und die ökologische Frage in den Vordergrund zu stellen - nahe genug am Empfinden des deutschen Volkes in der Frage der deutschen Einheit war. Aber das war nicht einseitig auf die Person von Oskar Lafontaine bezogen.

Sie sollen angedeutet haben, daß Sie im Frühjahr an Rücktritt vom Amt des Ehrenvorsitzenden gedacht haben.

Nein, das ist grober Unfug.

[Wie haben Sie das Wahlergebnis von Berlin aufgenommen?

Das war für mich ein richtiger Schock. Ich muß zu meiner eigenen Beschämung sagen: Ich habe das bei meinen Aufenthalten in Berlin nicht mitgekriegt. So kann man sich irren. Es ist die eigentümliche Lage entstanden, daß das Gewicht der SPD im Ostteil der Stadt stärker ist als im Westteil, wo sie schon einmal mehr als das Doppelte als am vergangenen Sonntag gebracht hat.

Hat Momper einen entscheidenden Fehler gemacht?

Momper hat eine gute Figur abgegeben. Aber ich möchte nicht auch noch Salz in die Wunden streuen, denn das war ein richtiges Debakel und nicht nur ein Rückgang um wenige Prozente wie bei der Bundestagswahl. Das zwingt nicht nur zu einer Selbstprüfung, sondern zu einer Reform an Haupt und Gliedern.]

Sie sind Alterspräsident des ersten gesamtdeutschen Bundestages ...

Das ist ein etwas zweifelhaftes Vergnügen, weil es sich allein aus dem Geburtsdatum ableitet. Aber es ist trotzdem etwas Besonderes - in Berlin, in einem Bundestag, der erstmals aus Wahlen in allen deutschen Ländern hervorgeht. Darauf freue ich mich.

Werden Sie die Gelegenheit nutzen, dem Bundestag etwas mit auf den Weg zu geben?

Das ist so gute Übung. Ich verrate natürlich noch nicht, was ich sagen werde. Aber sicher werde ich darauf hinweisen, daß die kommenden vier Jahre erstens die entscheidenden sein werden für die Integration der neuen Bundesländer und des vereinigten Berlin, und das heißt an den Verfassungsauftrag zur Herstellung gleicher Lebensverhältnisse zu denken. Zweitens, daß es die vier Jahre sind, in denen die europäische Einigung einen entscheidenden Schritt voran macht. Und drittens, daß die Bundesrepublik gefordert sein wird, wo es um weltpolitische Verantwortung geht, wobei unsere Rolle eine in und mit Europa sein muß.


1. Februar 1991

Wird Saddam jemals nachgeben, Herr Brandt?

Nach der Besetzung Kuwaits durch irakische Truppen haben die Großmächte gehandelt. Mit Rückendeckung der UNO greifen Sie nun direkt am Golf ein. Deutschland beteiligt sich nur indirekt durch Waffenhilfe an die Verbündeten und Finanzhilfe für Israel. Gleichzeitig wird ruchbar, daß deutsche Firmen Saddam Hussein bei der Aufrüstung geholfen haben.

[Die SPD spricht sich für einen Waffenstillstand am Golf aus. Sehen Sie dafür eine Chance?

Für einen Waffenstillstand haben sich im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mehrere arabische Staaten eingesetzt. Wenn es dazu überhaupt eine Chance gibt, dann wohl nur, wenn der Irak deutlich erklärt, daß er zum Rückzug aus Kuwait bereit ist. Das sagt auch die SPD.]

Sie kennen Saddam Hussein persönlich. Wird er jemals nachgeben?

Wer will genau wissen, was in Saddams Kopf vor sich geht. Vielleicht hat er sich vorgenommen, als Märtyrer der arabischen Massen in die Geschichte einzugehen.

Was tut die Sozialistische Internationale, deren Präsident Sie sind?

In Wien tagt am Freitag das Präsidium der Internationale sozialdemokratischer Parteien. Das ist eine stattliche Zahl von Regierungschefs, Außenministern und Parteiführern. Israel ist genauso vertreten wie Ägypten, Frankreich und Großbritannien oder Italien. Wir werden versuchen, dem Generalsekretär der UN bei Wegen aus der Golfkrise behilflich zu sein.

Mit einer eigenen Initiative?

Wir wollen vor allem Informationen austauschen. Aber gerade ein solcher Kreis ist auch dazu da, nicht nur über den Krieg zu reden, sondern auch das, was danach kommt, also eine Friedensordnung für den Nahen Osten. [Öffentliche Erklärungen sind aber nicht vorgesehen.]

In den USA, England und Israel haben wir Deutschen derzeit den Ruf von Drückebergern. Beunruhigt Sie das?

Ich fühle mich durch quatschige Vorwürfe nicht getroffen. Aber ich wünschte mir, daß unsere Interessen überzeugender vertreten würden.

Können wir uns auf Dauer von internationalen Verpflichtungen freikaufen?

Freikaufen ist nicht der richtige Ausdruck. Wir liefern ja auch nicht nur Geld. Aber Deutschland müßte schon deutlicher machen, wofür es was und wieviel in den vor uns liegenden Jahren zu leisten gewillt ist - und wofür nicht.

Bei der Debatte um deutsche Rüstungshilfe für den Irak zeigt die Union auch auf die früheren SPD-Kanzler. Fühlen Sie sich betroffen?

Nein, ich fühle mich nicht betroffen. Ich habe noch, als ich nicht mehr Bundeskanzler war, an Beratungen des Bundesverteidigungsrates teilgenommen und mich unter anderem gegen umfassende Panzerlieferungen an Staaten dieser Region engagiert. Im übrigen: Heute entsteht eine Schieflage, wenn Lieferungen verschiedener Staaten Anfang der 80er Jahre gleichgestellt werden mit dem, was im Vorfeld dieses Krieges passiert ist. Damals galt Saddam Hussein - ob zu Recht oder zu Unrecht - fast als ein Verbündeter des Westens gegenüber dem bösen Khomeini.

[Bush denkt an eine neue Weltfriedensordnung, wenn Saddam Hussein erst einmal besiegt ist. Ist das nicht eine faszinierende Idee?

Das Ende der Ost-West-Konfrontation alter Prägung bot die Chance auf eine bessere internationale Ordnung. Diese Chance ist nicht vertan. Die Vereinten Nationen müssen reformiert und als Friedensstifter gestärkt werden.]


24. Mai 1991

Auch Deutsche zur UN-Friedenstruppe!

Der Golfkrieg hat die Frage deutscher Teilnahme an internationalen Einsätzen in den Mittelpunkt gerückt - Thema auch auf dem SPD-Bundesparteitag Ende Mai in Hannover, auf dem zugleich Björn Engholm zum neuen SPD-Vorsitzenden gewählt werden soll. Außerdem steht die Entscheidung in der Hauptstadtfrage vor der Tür.

Kommt es nächste Woche auf dem SPD-Parteitag in Bremen zur Zerreißprobe über die deutsche Beteiligung an UNO-Aktionen?

Nein, zu sogenannten Zerreißproben wird es nicht kommen. Parteitage sind auch nicht dazu da, alles zu verhandeln, was von jetzt an bis zum Ende der Welt ansteht, sondern sich zu einem überschaubaren Zeitraum zu äußern.

Was raten Sie den Delegierten?

Keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß die Vereinten Nationen gestärkt werden müssen. Wir können uns nicht von friedenserhaltenden und weltfriedenssichernden Aktionen ausschließen. Aber wir sollten nicht allein an die militärische Seite der Friedenssicherung denken. Und zweitens darf sich die SPD nicht aus der Debatte darüber ausklinken, was europäische Sicherheit heißt.

Kanzler Kohl will die SPD zwingen, einer Grundgesetzänderung für den Bundeswehreinsatz außerhalb der NATO zuzustimmen.

Bei allem Respekt - aber der Bundeskanzler kann die SPD zu gar nichts zwingen. Über Änderungen des Grundgesetzes muß man sich verständigen wie in der Vergangenheit. Im übrigen liegt es auch im Interesse der SPD, für klare Grundgesetzbestimmungen zu sorgen. Dabei ist klar: Deutsche Expeditionskorps kann es nicht geben.

Werden Sie für den Parteitag noch eine Initiative ergreifen?

Ich habe meinen Beitrag dazu geleistet, daß es einen Initiativantrag zur Stärkung der Vereinten Nationen geben wird.

Wer macht noch mit?

Hans-Jochen Vogel und Björn Engholm sowie jedenfalls die Experten der Fraktion, Günter Verheugen und Norbert Gansel.

Erhard Eppler hat eine Verschiebung der Entscheidung angeregt.

Was jetzt entschieden werden muß, sollte auch entschieden werden. Und dazu gehört auch die Frage der sogenannten UNO-Blauhelme.

Wird mit dem neuen Vorsitzenden Engholm der Generationswechsel in der SPD eingeleitet?


Der Generationswechsel hat. wie die Reihe der sozialdemokratischen Ministerpräsidenten zeigt, weithin stattgefunden.

Raten Sie Engholm, auch schon die Kanzlerkandidatur anzumelden?

Alles zu seiner Zeit.

Welche Zukunft geben Sie der gegenwärtigen Bundesregierung?

Deutschland hätte eine tüchtigere Regierung verdient.

Über vorgezogene Neuwahlen? Oder über eine große Koalition?

Das sind ungelegte Eier. Sicher kann man nicht ausschließen, daß eine Regierung vorzeitig scheitert. Eine große Koalition wäre nicht die Lösung, der ich den Vorrang geben würde.

[Bonn oder Berlin - Was halten Sie von den Bemühungen um einen dritten Weg"?

Ich bin sehr für einen sachlichen Ausgleich, aber nicht für einen faulen Kompromiß.

Wäre die Trennung von Parlament und Regierung ein fauler Kompromiß?

Jedenfalls keine überzeugende Lösung. Sie wäre nicht sehr praktikabel. Jetzt muß man die Grundsatzfrage klären und dann sehen: Wie sieht eine Lösung "Berlin und Bonn" oder "Bonn und Berlin" aus. Auf die Ausfüllung des "und" kommt es an.]



23. August 1991

Die müssen erst über den Winter kommen

In Moskau haben konservative Kräfte einen Putsch gegen Gorbatschow versucht. Die Welt hält den Atem an. Doch der Putsch scheitert. Der neue Held heißt Boris Jelzin.

Haben Sie mit dem Scheitern des Putsches gerechnet?

Ich war nicht sicher, wie die Sache ausgehen würde. Daß der Putsch so rasch scheitern würde, hat mich überrascht und gefreut.

Gorbatschow, Friedensnobelpreisträger wie Sie - welche Rolle wird er künftig spielen?

Jedenfalls ist er Staatspräsident. Dann kommen Wahlen, die vermutlich vorgezogen werden. Vorher wird sich klären, was aus der Partei werden mag - und aus Gorbatschows Position an der Spitze.

Sollte der Westen jetzt mehr auf Jelzin setzen?

Ich war immer dagegen, ihn zu unterschätzen. Ich bin jetzt aber dagegen, sich zum Richter über Dinge zu machen, die in Moskau entschieden werden müssen. Wer das größere Gewicht hat, darüber entscheiden die demokratischen Kräfte dort.

Ist der Kommunismus in der UdSSR am Ende?

Glasnost und Perestroika haben bereits einen Veränderungsprozeß eingeleitet. Der Entwurf für ein neues Parteiprogramm der KPdSU ist schon kein kommunistisches Programm mehr, aber ob es überhaupt noch behandelt wird und ob in der Substanz noch etwas von der kommunistischen Partei bleibt, wage ich sehr zu bezweifeln.

[Wie steht es mit der Sozialdemokratie in der UdSSR?

Für mich ist der Adressat zunächst einmal die demokratische Bewegung, sind Leute wie Schewardnadse und Jakovlew. Ein Teil dieser Bewegung ist sicher sozialdemokratisch. In den baltischen Staaten sind sogar die alten sozialdemokratischen Parteien wieder da.]

Muß der Westen jetzt mehr Hilfe leisten?

Ja, die müssen erst einmal über den nächsten Winter kommen. Im übrigen aber ist technische Hilfe wichtiger als Kapital. Dies ist den Menschen im Westen auch eher einsichtig zu machen.


16. Januar 1992

Ich bitte um Ablösung

Nach seinem Sommerurlaub 1991 hat sich Brandt, weil er Schmerzen hat. gründlich untersuchen lassen. Im Oktober wird er in Köln zum ersten Mal am Darm operiert. Brandt zieht sich danach weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Das erste Interview nach seiner Rückkehr aus Südfrankreich gibt er Bild" und kündigt dabei erstmals öffentlich seinen Rückzug vom Präsidentenamt der Sozialistischen Internationale an.

Wie fühlen Sie sich ein Vierteljahr nach Ihrer Darmoperation?

Die Operation vom letzten Herbst habe ich gut überwunden. Die vielen guten Wünsche, die mich erreichten, haben mir gutgetan.

[Welche Zukunftspläne haben Sie?


Über Mangel an Arbeit kann ich mich nicht beklagen. In stärkerem Maße, als ich dem gerecht werden kann, werde ich - zumal auf internationalem Gebiet - um Rat gefragt.]

Sie sind nach wie vor Vorsitzender der Sozialistischen Internationale ...

Ich habe wissen lassen, daß ich nach über 15 Jahren um Ablösung bitte, wenn die internationale Gemeinschaft der sozialdemokratischen Parteien ihren nächsten Kongreß durchführt.

[In wessen Hände möchten Sie den Vorsitz legen?

Der Nachfolger oder die Nachfolgerin wird nicht durch mich bestimmt, sondern darüber werden sich die Parteiführer in den nächsten Monaten verständigen.]

Wie beurteilen Sie den Zustand der SPD?

Der Zustand der SPD ist besser als das durch die Medien vermittelte Erscheinungsbild.

Trotz der anhaltenden Kanzlerkandidaten-Debatte?

Sie macht immerhin deutlich: Die Sozialdemokraten leiden jedenfalls nicht an Personalmangel, wenn sie ihre chancenreiche Mannschaft für 1994 benennen.

Was sagen Sie zu den ersten Erfahrungen mit dem Stasi-Unterlagengesetz?

Die Betroffenen können sich ein Bild von der Bespitzelung machen, der sie ausgesetzt waren. Das ist gut, wenn auch oft schmerzlich. Aber der Rückblick sollte nicht den Blick für die Gegenwart und Zukunft verstellen, wofür tagtäglich auf allen Gebieten noch eine Menge zu tun ist.

Wie wirkt sich der Zerfall der UdSSR für uns aus?

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, um zu begreifen, daß uns in Deutschland und Europa die Vorgänge in Rußland und den anderen Nachfolgerepubliken noch erheblich in Mitleidenschaft ziehen werden. Um so wichtiger ist, daß der Westen konstruktiv reagiert. Nicht nur dort, wo es um das berechtigte Interesse daran geht, daß die Atomwaffen nicht außer Kontrolle geraten. Von Waffen wird man bekanntlich nicht satt, von deren Verschwinden auch nicht gleich.

Englands Regierung gab Dokumente frei, wonach der damalige Berliner Innensenator Lipschitz plante, in der Silvesternacht 1961/62 einen Teil der Mauer zu sprengen. Wußten Sie als Regierender Bürgermeister davon?

Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, mit einem solchen Vorgang befaßt gewesen zu sein.


11. Mai 1992

Der Kanzler gehört nach Berlin

Willy Brandt hat Schmerzen. Er weiß, daß der Krebs wiedergekommen ist und eine weitere Operation unausweichlich wird. Am Nachmittag des 9. Mai lädt er Bild"-Redakteur Ulrich Rosenbaum zu einem Interview in sein Bundestagsbüro. Die SPD streitet sich in jenen Tagen um die richtige Oppositionsstrategie, die Republik hat gerade einen einschneidenden Streik im öffentlichen Dienst hinter sich. Das Interview erscheint am 11. Mai. Es sollte das letzte überhaupt sein, daß der große Mann der SPD gegeben hat. Einen Tag später läßt er sich in die Kölner Uni-Klinik fahren.

Junge Politiker aus allen Fraktionen des Bundestages plädieren dafür, den Umzug nach Berlin auf das Jahr 2010 zu verschieben, weil kein Geld da sei...

Ich hielte eine Verschiebung des Umzugs auf das Jahr 2010 für absurd. Aus dem Beschluß des Bundestages vom Juni 1991 ergibt sich die Pflicht, die Voraussetzung für die Arbeit der Bundesorgane in Berlin zügig zu schaffen. Allerdings muß man deshalb nicht nach der teuersten Lösung suchen. Und die Interessen Bonns müssen immer mit im Auge behalten werden.

[Würden Sie das Jahr 1998 akzeptieren?

Ich will mich nicht auf ein Jahr festlegen. Aber diese Jahreszahl bleibt nahe dran an dem, was dem Bundestag vorgeschwebt hat, als der Beschluß gefaßt wurde.]

Wie sehen Sie die Aufgabenteilung zwischen Bonn und Berlin?

Ich bin der Meinung, Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundestag gehören nach Berlin. Was der Bundeskanzler dann noch mit seiner Regierung macht, ist ein Zusatzproblem. Beträchtliche Teile der Verwaltung des Bundes und der Ministerien können in Bonn bleiben.

[Nach neuesten Umfragen bekommen die Republikaner weiter Zulauf, weil die Deutschen von den Parteien genug haben. Was tun?

Die Parteien, insbesondere die beiden großen Parteien, müssen die Unzufriedenheit eines ansehnlichen Teils der Bevölkerung ernst nehmen. Sie müssen dem, wo es berechtigte Ursachen dafür gibt, nachgehen, ohne irgendjemandem nach dem Munde zu reden.]

Die SPD bietet ein verworrenes Bild. Mal will sie mit der Regierung reden, mal nicht. Was raten Sie?

In Wirklichkeit wissen alle, daß man in einer Situation wie der jetzigen auch mit der Regierung reden muß. Eine selbstbewußte Opposition gibt sich nicht auf, wenn sie über wichtige Sachfragen mit der Regierung redet.

Gerhard Schröder sagt, entweder knallharte Opposition oder Regierungsbeteiligung.

Nur nach knallharten Beratungen läßt sich feststellen, welche Formen eines parteiübergreifenden Zusammenwirkens möglich sind. Ich finde, man sollte gründlich prüfen, ob es die Möglichkeit gibt, einzelne Komplexe aus dem Wechselspiel Regierung-Opposition herauszunehmen und sie gemeinsam zu tragen, auch wenn die einen in der Regierung sind und die anderen nicht. Eine große Koalition bliebe für mich immer nur ein letzter Ausweg.

Ist die Regierung am Ende?

Auch ein objektiv gegebenes Ende kann sich erheblich in die Länge ziehen, wie man schon bei früheren Phasen manchmal festgestellt hat. Aber sicher ist, daß nach dem Rücktritt Genschers für die Regierung Kohl nichts mehr so ist, wie es vorher war. Da ist eine Menge ins Rutschen gekommen.

Welche Lehre muß man aus dem jüngsten Streik ziehen?

Beide Seiten sollten gelernt haben, daß es besser ist, sich vor einem größeren Arbeitskonflikt klarzumachen, was möglich ist und was nicht. Die gegenseitige Information über die Spielräume hätte besser sein können. Ich bin jedenfalls froh, daß der Konflikt beigelegt ist. Die gesamtwirtschaftliche Lage birgt noch genügend ungelöste Konflikte.]


Nachbemerkung

Willy Brandt wird am 22. Mai noch einmal operiert. Die Ärzte brechen die Operation nach zehn Minuten ab. Er wird am 30. Mai nach Hause entlassen. Er tritt nicht mehr in der Öffentlichkeit auf. Ab Ende Juni empfängt er Freunde wie Johannes Rau, Egon Bahr, Hans Koschnick, Hans-Jochen Vogel, Hans-Jürgen Wischnewski, Holger Börner, Björn Engholm, Hans Eichel und Rudolf Scharping. Ferner besuchen ihn Helmut Schmidt (6. Juli), Richard von Weizsäcker (29. Juli) und Helmut Kohl (27. August).
Am 8. September läßt Willy Brandt seine Teilnahme am Kongreß der Sozialistischen Internationale, als deren Präsident er nach 16 Jahren ausscheidet, absagen. Er kann mittlerweile keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen. Hans-Jochen Vogel verliest am 15. September sein Grußwort. Am 17. September besucht ihn Spaniens Ministerpräsident Felipe Gonzalez . Drei Stunden später kommt Frankreichs Ex-Ministerpräsident Pierre Mauroys, sein Nachfolger im SI-Vorsitz. Sie trinken ein Glas Wein miteinander. Am 20. September fährt Michail Gorbatschow spontan nach Unkel. Er wird nicht mehr vorgelassen. Brandts Krankheit ist zu weit fortgeschritten. Hans-Jochen Vogel ist am 24. September der letzte Besucher.
Am 8. Oktober 1992 um 16.35 Uhr stirbt Willy Brandt im Alter von 78 Jahren in seinem Haus in Unkel am Rhein. Am 17 . Oktober wird er mit einem Staatsakt im Reichstag zu Berlin geehrt und anschließend auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof im Kreis von Familienangehörigen und Freunden beigesetzt.

 

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