Vorwort - Kindheit und Jugend

 

Das Jagdhaus im Westerwald

Eine große Familie

Im Gymnasium

Erste Begegnung mit der Politik

Vorwort

Wer, zum Teufel, ist dieser Rudolf Scharping? Dies hat sich so mancher am Abend des 13. Juni 1993 gefragt, als eine Mehrheit der SPD-Mitglieder entschieden hatte, daß dieser Mann ihr neuer Parteivorsitzender werden sollte. Bis dahin war Scharping einer von sechzehn Länder-Regierungschefs und in seiner Partei nicht einmal Mitglied des Präsidiums.
Rudolf Scharping will Kanzler werden. Er will auf jeden Fall lange Jahre die Nummer eins seiner Partei in Bonn bleiben. Geboren 1947, ist er der erste Vorsitzende der größten und traditionsreichsten Partei Deutschlands, der nach dem Zweiten Weltkrieg zur Welt kam. Er hat nicht, wie seine Vorgänger, Exil, Schützengräben oder Bombenteppiche erlebt. Wohl aber die Entbehrungen der Nachkriegsjahre in einem Elternhaus, in dem immer Mangel herrschte.
Dieses Buch kann, weil die Scharpings bundespolitische Karriere erst begonnen hat, nur eine Zwischenbilanz sein. Aber immerhin ist das Kapitel des Landespolitikers Scharping nahezu abgeschlossen. Der Leser erfährt etwas über den privaten und den politischen Lebensweg sowie über die Menschen, die ihn geprägt haben. Das Buch drängt keine Wertungen auf, sondern überläßt sie dem Leser. Deshalb gehören kritische Äußerungen seiner Gegner selbstverständlich dazu.
Das Vorurteil, hier sei ein Mann ganz vorne auf die politische Bühne getreten, der so etwas wie ein Retortenprodukt der neueren politischen Klasse sei, wird der Leser in diesem Buch nicht bestätigt finden. Er wird außerdem feststellen, daß Scharping, obwohl er die wilden Jahre der Juso"s aktiv miterlebt hat, in seinen Ansichten eine erstaunliche Kontinuität aufweist. Scharping selber spricht von seiner "Be- und Bodenständigkeit" und gilt als Pragmatiker. "Praxisorientierter Reformer" wäre vielleicht die treffendere Charakterisierung.
Eine Annäherung an Rudolf Scharping ist nicht einfach. Er ist keiner, der sein Innerstes nach außen kehrt. Selbst Freunden gegenüber behält er ein Stück Distanz. Das macht ihn wohl auch weniger verletztlich. Als er von diesem Buchprojekt hörte, hat er erst einmal erschrocken zurückgefragt: "Ich bin doch erst 45 - und schon eine Biographie?" Ein Nachruf zu Lebzeiten, so konnte ich ihm versichern, sollte es nicht werden.
Rudolf Scharping hat trotz seines unglaublich dichten Terminkalenders, der ihm manchmal nur drei Stunden Schlaf läßt, etliche Stunden geopfert, um zum Zustandekommen dieser ersten Biographie beizutragen und mitzuhelfen, daß sich keine Fehler einschleichen konnten. Ihm selbst, aber auch seiner Mutter Hilde und seiner Frau Jutta, die für Gespräche zur Verfügung standen, möchte ich danken. Der Dank gilt ebenso, stellvertretend für viele Gesprächspartner, Scharpings Vertrauten Herbert Bermeitinger, Joachim Hofmann-Göttig, Karl-Heinz Klär und Friedhelm Wollner. Ganz besonderer Dank gebührt Peter Munkelt und seinem Team in der Dokumentationsstelle des Erich-Ollenhauer-Hauses in Bonn.

Bonn, im Oktober 1993
Ulrich Rosenbaum


A Kindheit und Jugend



Das Jagdhaus im Westerwald


2. Dezember 1947, 7.40 Uhr. Ein dämmriger Dienstagmorgen. In einem Jagdhaus mitten im Wald, zwanzig Fußminuten vom Westerwald-Dorf Niederelbert entfernt, bringt die 25jährige Hilde Scharping mit Hilfe einer Hebamme ihr erstes Kind zur Welt; eine leichte Geburt. Es ist ein Knabe, der alsbald auf den Namen Rudolf Albert getauft wird, weil Rudolf ein Traditions-Vorname bei den Scharpings ist und der Vater Albert heißt. Die Hebamme verlangt 67 Reichsmark, eine stolze Summe.
Der Vater: Albert Scharping, Jahrgang 1904. Er stammt aus Bielefeld, ist Möbelkaufmann. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, ist er Geschäftsführer eines Möbelhauses in Görlitz an der Neiße. Er wird einberufen, kämpft unter Rommel im heißen Wüstensand. Als die Afrika-Front gefallen ist, geht für ihn der Krieg in Italien weiter.
1944. Albert Scharping bekommt Heimaturlaub, fährt zu seiner Mutter nach Bad Oeynhausen. Die hat ein möbliertes Zimmer an eine junge Frau Namens Hilde Kern vermietet. Sie arbeitet als Sachbearbeiterin bei der Pariser Niederlassung der Metallgesellschaft Frankfurt. Nach dem Rückzug der deutschen Truppen aus Frankreich wird sie in eine Außenstelle des Handelskonzerns in der Kurstadt am Rande des Teutoburger Waldes versetzt. Der Soldat und die Sekretärin sind Feuer und Flamme füreinander. Im Februar 1945 heiraten sie im oberen Westerwald unter dem Heulen der Tiefflieger. Hildes Mutter stammt von hier, ihr Vater ist Schulrektor in Frankfurt, wird ausgebombt, man trifft sich im Westerwald. Albert ist kurz in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. 1946 mietet sich das Paar in einem Jagdhaus bei Niederelbert ein, das einem iranischen Teppichhändler aus Frankfurt gehört.
Wenn Rudolf Scharping den schnellsten, wenn auch nicht gerade kürzesten Weg von seinem Wohnort Lahnstein nach Bonn nimmt, liegt die Stätte seiner Geburt nur einen Steinwurf abseits der B 49 vor Montabaur. Aber außer der Geburtsurkunde verbindet ihn nichts mehr mit dem Dorf Niederelbert, in dessen Wälder es die Eltern verschlagen hatte, als er zur Welt kam. 1991, als er Ministerpräsident geworden ist, lädt ihn der Ortsbürgermeister ein. Es gibt eine kleine Feier, Mutter Hilde ist natürlich dabei, auch Hebamme Winkler. Man trägt sich ins eigens für den großen Tag angeschaffte Gästebuch ein. Niederelbert ist herausgeputzt wie immer. 1992 wird es denn auch zweiter Landessieger im Wettbewerb "Unser Dorf soll schöner werden". Die neuromanische Kirche ragt aus dem Tal des Elbertbachs, im Neubaugebiet hinter den Hügeln reiht sich Bungalow an Bungalow. Der Wohlstand des kleinen Mannes.
Niederelbert gehört zum Westerwaldkreis, zur Kreisstadt Montabaur sind es nur wenige Kilometer. Scharping ist also, was seinen Geburtsort betrifft, ein echter "Wäller" (wie sich die Westerwälder selber nennen), wenngleich seine Eltern, die es mehr oder weniger zufällig in den Wald bei Niederelbert verschlagen hatte, schon zwei Jahre nach seiner Geburt hinunter ins Rheintal ziehen, nach Niederlahnstein.
Lahnstein, das ist schon etwas anderes als so ein Dorf im Westerwald. Hier, an der Mündung der Lahn in den Rhein, wurde deutsche Geschichte geschrieben. Mit der Gebietsreform von 1969 wurden Niederlahnstein und Oberlahnstein zu einer Stadt zusammengefügt - wieder zusammengefügt. Denn getrennt worden waren sie im 14. Jahrhundert; das Gebiet nördlich der Lahn kam zu Kurtrier, das südliche zu Kurmainz, und das angrenzende Braubach fiel der Pfalz zu. Oberlahnstein war als befestigte Stadt - Reste der Stadtmauer sind noch erhalten - bedeutender.
Das erste wichtige Datum in der Geschichte Lahnsteins war der 15. Juli 1338. Da kamen dort die deutschen Kurfürsten zusammen, weil sie sich durch Kaiser und Papst in ihren Rechten bedroht sahen. Tags darauf setzten sie auf die andere Rheinseite über, nach Rhens, und gründeten den "Kurverein von Rhense" als Bündnis zum gemeinsamen Handeln in Reichsfragen und bei der Königswahl.
Das nächste Ereignis: Am 20. August 1399 versammelten sich die Kurfürsten erneut in (Ober-)Lahnstein, um über König Wenzel zu Gericht zu sitzen, der selber aber nicht der Ladung gefolgt war. Ihm wurde neben anderem die Ermordung des Priesters Johannes Pomuk (Nepomuk) in Prag zur Last gelegt, der sich geweigert hatte, das Beichtgeheimnis der Königin zu brechen. Die Kurfürsten beschlossen die Absetzung Wenzels und erhoben am folgenden Tage auf dem Königsstuhl zu Rhens den Pfalzgrafen Ruprecht zum König. An die Absetzung des deutschen Königs aus Böhmen erinnert in Lahnstein die Wenzelskapelle mit Bauresten aus dem 14. Jahrhundert.
Zahlreiche mittelalterliche Bauten sind in Lahnstein erhalten geblieben. Am Rheinufer steht das Martinsschloß aus dem Jahre 1298, über der Stadt thront Burg Lahneck, erbaut 1245. In Niederlahnstein steht am Rheinufer die romanische Johannisbasilika, die 950 n. Chr. begonnen wurde. In den beiden Stadtzentren finden sich noch etliche alte Bauten, darunter am Lahnufer unweit der Brücke das 1697 errichtete "Wirtshaus an der Lahn". Die Lahnsteiner sind überzeugt, daß es sich hier wirklich um das Wirtshaus an der Lahn handelt, das in den schlüpfrigen Frau-Wirtin-Versen seit vielen Generationen (selbst Goethe hat eine Strophe dazugedichtet) verewigt ist. Heute befindet sich ein Edel-Restaurant in dem gelbgetünchten Gemäuer.
Historisches auch an der Peripherie Lahnsteins. Das heutige Stadtgebiet wird im Osten durch den Limes gestreift. Südlich grenzt Braubach mit seiner Marksburg an, einer der berühmtesten Rheinburgen, Sitz der Deutschen Burgenvereinigung. Einige von Scharpings Klassenkameraden verdienten sich als Schüler gerne ein paar Mark als Burgführer hinzu. Gegenüber grüßt Burg Stolzenfels.
Niederlahnsteiner und Oberlahnsteiner - das waren zweierlei Menschenschläge. Jedenfalls glaubten sie das, als sie 1969 "zwangsvereinigt" wurden. Die Familie Scharping als Niederlahnsteiner hat nie viel darauf gegeben. Rudolf wurde ins Gymnasium nach Oberlahnstein geschickt, und er selber hatte keine Probleme damit, 1980 in Oberlahnstein Eigenheimbesitzer zu werden.
Lahnstein ist, wie sollte es angesichts jahrhundertealter kurbischöflicher Herrschaft anders sein, eine katholische Stadt. Doch die Nachkriegsentwicklung hat auch hier viel verändert. Flüchtlinge kamen, die Bundeswehr wurde aufgebaut, und der Raum Koblenz wurde zu ihrem Zentrum. Viele Berufssoldaten wohnen in Lahnstein. Heute sind nur noch sechzig Prozent der Einwohner katholisch.
Oberlahnstein ist der lebendigere Teil der Stadt, hier gibt es mehr und ansehnlichere Geschäfte. Der Verkehr wurde weitgehend aus dem Zentrum verbannt. Eine deutsche Kleinstadt mit knapp 20.000 Einwohnern, sympathisch, überschaubar, für Außenstehende langweilig. Im neuesten Stadtführer wird der Ministerpräsident sogar in der Liste der "bedeutenden Lahnsteiner Bürger" geführt.

Eine große Familie


Rudolf ist das erste von insgesamt sieben Kindern. 1950 kommt Wolfgang zur Welt; er ist heute Versicherungskaufmann bei der DEVK und sitzt seit Jahren als Parteiloser in der Grünen-Fraktion des Stadtrates von Kerpen, westlich von Köln. 1952 gesellt sich Schwester Barbara hinzu; sie ist Sachbearbeiterin bei der Stadtverwaltung Koblenz, wohnt in Lahnstein. 1957 wird Michael geboren; er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Soziologie der Universität Frankfurt. 1960 dann Gabriele ("Gabi"); sie arbeitet als Erzieherin in Lahnstein. Monika (1963) und Sabine (1965) leben bei der Mutter. Monika arbeitet tagsüber in den Beschützenden Werkstätten St. Goarshausen; Sabine hat sich nach einem mehrjährigen USA-Aufenthalt entschieden, in Lahnstein zu bleiben und als Köchin am dortigen Krankenhaus zu arbeiten.
Albert Scharping findet, als Sohn Rudolf geboren ist, eine Stelle als Holz-Sachverständiger bei der Landesregierung, die damals ihren Sitz in Koblenz hat. Weil der Weg von Niederelbert zu beschwerlich ist, baut er sich 1949 - damals noch ungewöhnlich - ein "Stephansdach"-Fertighaus aus Holz am Hang von Niederlahnstein, vis-a-vis Koblenz. Doch er hat Pech. Mit der endgültigen Etablierung des Landes Rheinland-Pfalz wird Mainz Landeshauptstadt. Er will nicht umziehen. Deshalb erinnert er sich an seinen alten Beruf, mietet ein leerstehendes Brauereigebäude in Niederlahnstein und richtet dort ein Möbelgeschäft ein. Keine zwei Jahre geht das gut. An einem Wochenende räumen zwei seiner Mitarbeiter, ein Schreiner und ein Polsterer (einer von ihnen ist später Wirt in Scharpings Juso-Stammkneipe), das Geschäft aus. Vor allem das reichhaltige Stofflager für Bezüge und Gardinen lassen sie mitgehen und verkaufen es sofort auf dem schwarzen Markt.
Albert Scharping ist ruiniert. Er macht nicht Konkurs - er gibt einfach resigniert auf. Noch zeichnet sich kein Wirtschaftswunder am Horizont ab, das ein Weitermachen sinnvoll erscheinen ließe. Er findet eine neue Anstellung in einem Möbelgeschäft. Allerdings weit weg, in Ansbach. Hilde will mit den Kindern nicht ins Fränkische umziehen. Albert Scharping kehrt zurück und versucht sich als Vertreter für eine Münsteraner Gardinenfabrik. Mehr schlecht als recht. "Aber arbeitslos ist er nie gewesen", sagt Hilde Scharping. Bald geht es aufwärts: Mit einem Job als Sachbearbeiter beim Statistischen Landesamt in Bad Ems. Albert Scharping übt ihn bis zur Pensionierung aus. Und weil Müßiggang für ihn unvorstellbar ist, arbeitet er noch als Pensionär nebenbei beim Möbelhaus "Polster-Richter" in Koblenz. Er stirbt 1981.
Albert Scharping war ein meinungsfreudiger und, wenn es darauf ankam, auch streitbarer und gelegentlich sogar streitsüchtiger Mensch. "Er war autoritär", sagt Rudolf Scharping selber. "Die materiellen Umstände mögen die Ursache gewesen sein. Es war für mich jedenfalls eine schwierige Kindheit."
Rudolf wächst in der Familie auf, der Kindergarten ist zu weit weg. Er ist ein ruhiges Kind. Mit sechs Jahren wird er Ostern 1954 eingeschult. "Als ich ihn in der Volksschule abgeliefert hatte und wieder nach Hause ging, spürte ich auf einmal eine kleine feuchte Hand", erinnert sich seine Mutter. "Er war mir hinterhergelaufen. Er wollte nicht in die Schule gehen, weil es ihm zu Hause besser gefiel." Aber er hat sich schnell daran gewöhnt, bringt gute Zeugnisse nach Hause.
Die Familie wächst. Als Ältester muß Rudolf auf die anderen aufpassen und Einkäufe machen, weil die Mutter mit Heimarbeit beschäftigt ist, mit der sie das Familienbudget aufbessert. So manches Mal, als es finanziell schlecht steht, muß er beim Krämer anschreiben lassen. Mit seinem gut zwei Jahre jüngeren Bruder versteht er sich recht gut, auch wenn die beiden viel miteinander raufen. Aber auch Streiche machen sie gemeinsam. Einmal gibt es große Aufregung, als die beiden eine Wiese unterhalb des Elternhauses anzünden. Sie können aber das Feuer rechtzeitig löschen, ehe die Feuerwehr eingreifen muß.
Leidenschaftliche Fußballspieler sind die Scharping-Söhne gewesen. Damals konnte man noch ungestört vor dem Haus bolzen. Auch die 1960 geborene Schwester Gabi wird vom Fußballfieber angesteckt. Sie spielt später in der deutschen Damenfußball-Nationalmannschaft.
Rudolf schneidet in der Volksschule so gut ab, daß die Lehrer den Wechsel auf die Oberschule befürworten. Ab Ostern 1958 besucht er das Städtische (später Staatliche) Neusprachliche Gymnasium in Oberlahnstein. Damals kostet das noch zwanzig Mark Schulgeld im Monat. "Das war nicht wenig, aber das konnten wir uns gerade noch leisten", erinnert sich die Mutter. "Streng dich an, damit du so gute Noten hast, daß uns das Schulgeld erlassen wird", sagt der Vater. "Er wollte ihn zu guten Leistungen anstacheln, aber wir hätten ihn nie und nimmer von der Schule genommen, wenn das nicht geklappt hätte", beschwichtigt Mutter Hilde heute. Rudolf Scharping: "Wie auch immer - es war klar, daß die Leistung stimmen mußte. Sonst wäre Schluß gewesen mit dem Gymnasium."
Aber es klappt. Am letzten Schultag vor Weihnachten kommt die Nachricht, daß er wegen guter Leistungen eine Freistelle bekommen habe und sogar das bisher gezahlte Schulgeld zurückerstattet werde. "Ein richtiges Weihnachtsgeschenk war das", sagt Hilde Scharping. "Er war schon immer einer, der sich ein ehrgeiziges Ziel setzte."
Die Mutter - die Kinder nennen sie "Hilde" - lebt mit ihren beiden Jüngsten noch heute in jenem Fertighaus in der Taubhausstraße 16, das sie und ihr Mann 1949 gebaut hatten. Es wirkt mit seinen roten Schindeln - für Hilde Scharping muß alles möglichst rot sein -, mit denen es zur Wärmedämmung verkleidet wurde, wie ein nostalgisches Relikt zwischen den später errichteten Bungalows aus der Wirtschaftswunder-Zeit und den in den letzten Jahren hinzugekommenen postmodernen Mehrfamilienhäusern.
Im Winter saß die Familie am großen Heizofen im Eßzimmer oder im Wohnzimmer zusammen, die anderen Räume wurden spärlich mit Ölöfen geheizt. (Erst 1993 wird eine Zentralheizung eingebaut.) Die sieben Kindern hatten natürlich nicht alle ein Zimmer für sich. Unter dem Dach gab es nur vier Räume. Vater Albert baute irgendwann eine Garage an und funktionierte sie sofort zu einem Zimmer um, das sich Rudolf und Wolfgang, die beiden Ältesten, teilen mußten.
Die Scharpings sind eine katholische Familie. "Aber wir sind nie Kirchgänger gewesen", sagt Hilde Scharping. Das galt und gilt auch heute noch für Rudolf Scharping und seine eigene Familie. Sie zahlen ihre Kirchensteuer, aber selbst "Pflichtübungen" wie die Christmette kommen nicht in Frage. Geheiratet haben Rudolf und Jutta Scharping nur standesamtlich.
Politik spielt zwar keine große Rolle im Scharpingschen Elternhaus, aber: "Mein Mann und ich waren immer sozialdemokratisch eingestellt und wählten die SPD", sagt Mutter Hilde. "Das habe ich auch so in Erinnerung", sagt Rudolf Scharping, "aber das war in meinem Elternhaus kein Gesprächsthema."
Das alte Haus am Taubhausstraße ist immer Mittelpunkt der Familie geblieben. Irgendwann schneit immer eines der Kinder rein. Am zweiten Weihnachtstag treffen sich alle, samt Enkeln, bei der Mutter im engen Eßzimmer; an der Wand die Fotos aller Kinder, dazwischen irgendwo Hilde mit Rudolf, fotografiert auf seinem ersten Neujahrsempfang als Ministerpräsident; an der anderen Seite hängen Souvenirteller, die die reiselustige Mutter sammelt. "Wenn alle kommen, Rudolfs Schwiegereltern mitgerechnet, sind wir zu Weihnachten 25 an der Zahl", sagt die Mutter. "Dann platzt hier alles aus den Nähten." Tradition ist auch, daß sich die Familie trifft, wann immer die Mutter oder eines der Kinder Geburtstag hat. "Rudolf tut alles, um dabei sein zu können," sagt sie. Auch Treffen mit Schulkameraden und alten Freunden lasse er nicht aus, "selbst wenn es Mitternacht wird - aber er kommt".
Bruder Wolfgang geht schon Mitte der achtziger Jahre einen anderen politischen Weg, als er sich bei den Grünen engagiert. Sein eisernes Prinzip: kein Kommentar zu dem, was Bruder Rudolf politisch denkt und macht. "Wir reden etwa drei Mal im Jahr miteinander, aber nicht über Politik", sagt er. "Ich bin sowieso reiner Kommunalpolitiker, während der Rudolf von Anfang an höher hinaus wollte."
Scharpings Kindheit ist vom frühzeitigen Zwang zum selbständigen, aber auch gemeinsinnigen Handeln geprägt. Als er zur Landtagswahl 1987 gegen CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel, Bruder des damaligen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel und Göttinger Professorensohn, antritt, vergleicht er sich in einem Pressegespräch mit seinem Kontrahenten: "Ich bin unter anderen familiären Verhältnissen groß geworden. Ich habe mich nie gegenüber einem älteren Bruder beweisen müssen, sondern habe eher Fürsorge gegenüber sechs jüngeren Geschwistern entwickeln müssen. Und ich habe, glaube ich, auch eine andere soziale Erfahrung als Vogel. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist in einer Familie, wenn der Vater arbeitslos ist und die Mutter mit Heimarbeit und anderen wenig abgesicherten Beschäftigungen eine Familie durchbringen muß."

Im Gymnasium


Das Gymnasium Oberlahnstein, auf das Rudolf Scharping einst ging, ist längst umgezogen ins moderne Schulzentrum ganz im Süden der Stadt. In dem alten Gemäuer von 1896 in der Gymnasialstraße, wenige hundert Meter von Scharpings heutigem Eigenheim entfernt, sind heute eine Sonderschule und die Volkshochschule untergebracht.
Im Herbst 1966 macht Scharping dann nach zwölfeinhalb Jahren Schulzeit sein Abitur. Damals wird bundesweit der Beginn des Schuljahres gerade von Ostern auf den Herbst umgestellt, den betroffenen Jahrgängen so ein halbes Jahr geschenkt. Die Abiturklasse hält auch heute noch Kontakt miteinander. In der Sendereihe "Klassentreffen" konnten sich die ZDF-Zuschauer am 3. Juli 1993 selbst ein Bild davon machen, wie fröhlich und gesellig es in diesem Kreis zugeht.
Dabei war Scharping, wie sich die Klassenkameraden erinnern, vor allem in der Unter- und Mittelstufe ein ruhiger, zurückhaltender und unauffälliger Schüler. "Das Image scheint mir nachzulaufen", räumt er heute selbst ein und fügt hinzu: "Man muß ja nicht immer gleich drängen. Man kann die Dinge sich ja auch entwickeln lassen."
Er engagiert sich weder in politischen noch musischen Arbeitsgruppen. Als Sextaner nimmt er Geigenunterricht, gibt aber nach ein paar Monaten auf. Doch fleißig ist er. Seine Englischlehrerin, Frau Martin, stellt heute bei der Durchsicht ihrer alten Notenbücher fest, "daß er die meisten Referate gehalten hat".
Die Stärken von Jung-Rudolf liegen in den Fächern Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Ein guter Sportler ist er auch damals schon, spielt auf dem Fußballfeld am liebsten den Mittelläufer. Außerdem ist er Speerwerfer. "Meine Probleme hatte ich mit Latein", gibt er zu. Beim guten Teamgeist der Klasse kein Problem - man hilft sich auf Gegenseitigkeit; er kann seinem Banknachbarn, ein Nachfahre der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, mit Deutsch-Kenntnissen aushelfen. Nur beim schriftlichen Abitur, da darf er in Latein nicht zu gut sein, sonst könnte er in die mündliche Prüfung kommen, und die kleinen Mogeleien würden auffliegen. Er schließt mit "ausreichend" ab.
In der Mittelstufe hat der sonst so strebsame Rudolf einen "Durchhänger", faulenzt ein wenig. Im Zwischenzeugnis steht auf einmal: "Versetzung gefährdet." Mutter Hilde regt sich so auf, daß sie ihm eine Ohrfeige gibt - "das erste und letzte Mal", versichert sie.
Über sein Interesse am Fach Gemeinschaftskunde entsteht auch sein Engagement in der "Schülermitverwaltung". Ein Mitschüler erinnert sich, daß Scharping eine neue Verfassung für die SMV ausarbeitete: Mehr Demokratie! So wird er in der Oberstufe Klassensprecher, ist für die Schülerzeitung verantwortlich (weshalb er vorübergehend daran denkt, Journalist zu werden) und hält auch die Abiturrede über den "Einfluß der Demoskopie auf die Politik". Als Beispiel-Themen wählt er den Aufbau der Bundeswehr und die Westintegration. Für diesen Auftritt opfert er sogar vorübergehend seinen Bart und bindet eine Krawatte um.
Zur Rolle des Klassensprechers gehört es auch, für den geselligen Teil des Schullebens zu sorgen. Ob es nun die obligatorische Klassenfahrt ist (nach Scharbeutz in der Unterprima) oder das jährliche Klassenfest, das sie im Saal des katholischen Kindergartens feiern, bei Pfarrer Hergenhahn, den sie alle mögen. Da die Mädchen in der Klasse weit unterrepräsentiert sind, machen sich Vertreter der Klasse auf den Weg nach Koblenz und klopfen bei den Mädchengymnasien an. Ein paarmal werden sie rausgeschmissen. Aber dann kommt doch eine komplette Mädchenklasse angereist. Scharping: "Wir waren zuerst etwas gehemmt, aber das hat sich dann gelegt."

Erste Begegnung mit der Politik


Gegen Ende der Schulzeit interessiert sich Scharping zunehmend für die Politik. Ein Schulfreund ist bei den Jungsozialisten. Er lädt ihn ein, zu einer Versammlung mitzukommen. Aber zunächst ist es gar nicht die Politik, sondern die etwas ältere, sehr hübsche Schwester des Freundes, die ihn interessiert. Auch sie macht bei den Jusos mit.
Im September 1966, kurz vor dem Abitur, tritt Rudolf Scharping in die SPD ein. "Mein Vater war strikt dagegen", erinnert er sich. "Er sagte: In einer konservativen Kleinstadt wie Niederlahnstein schadest du dir damit nur selbst." Mutter Hilde: "Ja, so war das. Aber mein Mann war ja gar nicht gegen eine SPD-Mitgliedschaft, er meinte nur, Rudolf solle lieber während des Studiums an seinem Studienort eintreten."
Zunächst aber geht es zur Bundeswehr. Scharping meldet sich freiwillig als "Zweijähriger". "Ich hatte nichts gegen die Bundeswehr. Im Gegenteil: Auch als Juso hielt ich die Landesverteidigung für selbstverständlich. Ich wollte bewußt zwei Jahre Soldat sein." Und natürlich gibt es auch etwas mehr Geld, nämlich 390 Mark im Monat. Der normale Wehrsold beträgt damals nur 90 Mark.
Scharping wird nach Büchel in der Eifel eingezogen. Er erinnert sich: "Am ersten Tag mußten wir antreten, und der Spieß fragte: Wer hat hier Abitur?' Da bin ich ganz stolz hervorgetreten. Sie werde ich mir merken!' sagte der Spieß." Schon nach wenigen Wochen stellen die Ausbilder fest, daß bei der Musterung im Kreiswehrersatzamt Neuwied etwas übersehen worden war: Der junge Mann ist zwar kerngesund, hat aber zu dicke Brillengläser, als daß er für den Dienst an der Waffe ausgebildet werden könnte. Nach wenigen Wochen wird er wieder nach Hause geschickt und nach einem halben Jahr offiziell aus der Bundeswehr entlassen. Die Ironie der Geschichte: Wäre er als Wehrpflichtiger zum "Bund" eingezogen worden, wäre die mangelnde Sehschärfe kein Grund für eine vorzeitige Beendigung des Dienstes gewesen; man hätte ihn anderweitig eingesetzt.
Nun geht es, früher als geplant, mit dem Sommersemester 1967 nach Bonn an die Universität. Scharping studiert zunächst Jura im Hauptfach sowie Soziologie. Nach fünf Semestern steigt er auf das Hauptfach Politikwissenschaft um. Er hat es zu diesem Zeitpunkt bereits darauf abgesehen, die Politik zum Beruf zu machen. Bis zum Abschluß mit dem Magister Artium dauert das Studium dreizehn Semester. "Jeder Wahlkampf, bei dem er mitgeholfen hat, hat ihn ein bis zwei Semester gekostet", sagt seine Mutter. Er muß sich sein Studium verdienen, denn damals gibt es noch kein "BAföG", sondern nur das "Honnefer Modell" als Gnadenakt für ganz Arme. Er jobbt in den Semesterferien bei der Stadt, beim Finanzamt, in einer Großhandlung in Koblenz und zeitweilig sogar nachts in einer Tapetenfabrik.
Scharping selber kann sich an diese Anekdote nicht mehr erinnern. Damals habe er an viele Türen geklopft, um einen Job zu bekommen. Immerhin reicht das Geld, um den Führerschein zu machen. Er wird stolzer Besitzer eines gebrauchten schwarzen VW-Käfer, mit dem er später noch als stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender kreuz und quer durch Deutschland fährt.
Ferienreisen hat Scharping als Schüler und Student nicht gekannt. Die vielköpfige Familie Scharping hat den Urlaub, von gelegentlichen Ausflügen und Wanderungen abgesehen, immer daheim verbracht.