B Frühe Jahre in der Politik

Juso in Lahnstein

Wilhelm Dröscher

Paul-Leo Giani

"Assi" in Bonn

Juso-Landeschef

Neuorganisation der Schülerarbeit

Vertrauensarbeit

Ein Tag im Leben des MdL Scharping

Juso in Lahnstein


In den Jahren, in denen Scharping in Bonn studiert, ist er kein einziges Mal in der Studentenbewegung aktiv, obwohl es auch an der ehrwürdigen Bonner Uni brodelt. Er schaut mal beim Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB), mal beim Liberalen Studentenbund rein, findet aber keinen Gefallen an dem, was da geredet wird. "Das war mir alles zu theoretisch", sagt er. "Ich bin nie ein richtiger 68er gewesen." Als "sehr heterogen" bezeichnet er die 68er im nachhinein. Sie hätten gemeint, die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern zu können, den gewaltigen Veränderungen der heutigen Zeit aber stünden "die meisten hilflos gegenüber".
Scharping ist lieber als Juso im heimischen Lahnstein aktiv - ein früher Hang zur "Be- und Bodenständigkeit", die er sich selbst attestiert. Zur Studentenpolitik sagt er: "Ich wollte das nie, ich habe immer lieber Kommunalpolitik gemacht." Damals ist die kommunale Neugliederung in Rheinland-Pfalz das heißumkämpfte Thema. Landkreise und Kommunen werden zusammengelegt, aus den alten rheinpreußischen Ämtern werden neue Verbandsgemeinden geschnitten. In Nieder- und Oberlahnstein gehen die Meinungen weit auseinander. Es wird diskutiert, beide Gemeinden nach Koblenz einzugliedern. Niederlahnstein prozessiert sogar um seine Selbständigkeit.
Die Jusos kämpfen für die sinnvollste Lösung: beide Städte an der Lahnmündung zu einer Stadt Lahnstein zusammenzuschließen. Scharping macht zum ersten Mal bei einer politischen Mobilisierung der Bevölkerung mit. Er geht mit seinen Freunden von Haus zu Haus, verteilt Flugblätter, wirbt für die Idee eines nach sechs Jahrhunderten "wiedervereinigten" Lahnstein. Die Initiative hat Erfolg. Schon im Vorgriff wird ein gemeinsamer SPD-Ortsverein Lahnstein gegründet.
Doch mitten in diesen Aktivitäten, 1968, genau an seinem 21. Geburtstag, bekommt er den blauen Brief vom SPD-Bezirk Rheinland/Hessen-Nassau: ein Parteiausschluß ist eingeleitet, seine Rechte als SPD-Mitglied sind suspendiert. Was hatte der Jung-Genosse Schlimmes getan? "Da spielte bei uns in Lahnstein ein Heeresmusikkorps für den Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, und wir haben - damals gab es die Diskussion um die Starfighter - ein Flugblatt verteilt: Gebt das Geld statt für die Starfighter der Wohlfahrt und laßt die Musik umsonst spielen.' Das wurde damals als Provokation empfunden."
Und es reicht für ein Ausschlußverfahren. "Ein ziemlicher Scheiß war das damals", sagt Scharping mehr als zwei Jahrzehnte später. Aber so ist die SPD jener Jahre: vor allem staatstragend. Man regiert in Bonn mit, in einer Großen Koalition. 1968 ist das Jahr, in dem auch prominente Berliner SPD-Linke wie Harry Ristock und Erwin Beck vorübergehend gefeuert werden, weil sie bei Anti-Vietnam-Demonstrationen mitmarschiert sind.
Der Beschluß, daß der Genosse Scharping auszuschließen sei und bis zur Rechtswirksamkeit der Entscheidung sofort seine Rechte und Pflichten als Mitglied zu ruhen hätten, wird vom Vorstand des SPD-Bezirks Rheinland/Hessen-Nassau gefaßt - gegen den Willen des Vorsitzenden Wilhelm Dröscher. Der Abgeordnete aus dem äußersten Süden des Parteibezirks ist ein Linker und hat Verständnis für den aufmüpfigen Genossen vom Lahneck. Wollte die rechte Mehrheit der Bezirksführung in Wirklichkeit ihm eins auswischen? Stand sogar Herbert Wehner hinter der Rausschmiß-Aktion, wie damals vermutet wurde? Wie auch immer: Der Vorsitzende der Schiedskommission, Adalbert Kalbitzer aus Nassau, ein alter Genosse, der wie Willy Brandt aus der einstigen Sozialistischen Arbeiterjugend kommt, sympathisiert mit Scharping und zieht das Verfahren in die Länge. Scharping: "Gegenüber Kalbitzer emfand ich großen Respekt und eine noch heute bestehende Zuneigung. Wie ich überhaupt jene älterenm Genossen schätzte, die unter unglaublich schwierigen Umständen für die Sozialdemkratie eingetreten waren, wie Josef Felder, der 1933 im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte, oder Georg Buch, den ehemaligen Wiesbadener OB."
Der Parteiausschluß, formal noch gar nicht von der Schiedskommission bestätigt, wird nach zehn Monaten wieder aufgehoben. Die Jusos hatten Scharping, obwohl seine Mitgliedsrechte ruhten, inzwischen demonstrativ zum Bezirksvorsitzenden gewählt.
Scharping hilft Dröscher im Bundestagswahlkampf. "Ich habe ihm geschrieben, daß ich ihm, da ich ja nun in Lahnstein nicht in der Partei arbeiten konnte, gerne im Wahlkampf helfen möchte." Dröscher nimmt das Angebot an, Scharping zieht in die Dachkammer seines Hauses oberhalb von Kirn und ist Mädchen für alles. Er organisiert, textet Anzgeigen und Flugblätter.

Wilhelm Dröscher - der politische Ziehvater

Hamburg 1977. Die SPD hält im Congress-Centrum ihren Bundesparteitag ab. Es ist der 18. November. Auf der Tagesordnung steht unter anderem der Bericht des Schatzmeisters Wilhelm Dröscher. Doch der wird vergebens im Saal erwartet. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde: Man hat ihn tot aufgefunden in seinem Zimmer im angrenzenden Plaza-Hotel. Das kranke Herz hatte ausgesetzt. Willy Brandt gibt der traurigen Nachricht Gewißheit: "Mitten aus seiner Pflicht, mitten unter uns ist Wilhelm Dröscher gestorben, einer der Besten, ein guter Freund für viele von uns, ein Volksmann, eher still, wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt." Eine Woche später, beim Staatsbegräbnis, zu dem viele tausend Menschen zum Friedhof von Kirn kommen, sagt er: "Sein Tod kam wie das Wetter aus der Wolke, das die Leute auf dem Feld überrascht. Wir waren mitten in der Arbeit, als er aus unseren Reihen gerissen wurde."
Dröschers Tod ist ein Schock für die SPD. Erst 1975 war "der gute Mensch von Kirn" in die Bundespolitik umgestiegen, hatte sich auf dem Mannheimer Parteitag zum Schatzmeister wählen lassen. Hoffnungen verbanden sich mit seiner untadeligen Person. So manches wäre in der SPD anders gelaufen, wäre er, damals 57jährig, seiner Partei noch einige Jahre erhalten geblieben.
Scharping schreibt dreizehn Jahre später anläßlich des 7. Oktober 1990, an dem Dröscher siebzig geworden wäre: "Heimatlichkeit und Weltoffenheit, klare Ziele und Toleranz, Kameradschaft ohne Kumpeleien: Wilhelm Dröscher verband vieles und viele Menschen. Politik braucht Vertrauen und gewinnt dies durch Glaubwürdigkeit. Lem' war ein glaubwürdiger Politiker."
"Lem", so nannten ihn seine Freunde. Der junge Scharping gehört zu ihnen. Als Helfer des Mannes von der Nahe hat er entscheidende politische Prägungen erfahren. Es ist nicht übertrieben, wenn er dessen "politischer Ziehsohn" genannt wird. Er selbst sagt: "Es war ein politisches Vater-Sohn-Verhältnis."
Tue Gutes und rede darüber. Wilhelm Dröscher sah sich gern als "guter Mensch von Kirn" tituliert. Ich erinnere mich an sein bescheidenes Abgeordnetenbüro in Kirn, nicht weit vom Bahnhof. Er hatte mich eingeladen, einmal eine seiner legendären Sprechstunden mitzuerleben. Das Wartezimmer ist schon voll. Viele sind von weither gekommen, aus dem Hunsrück und der Pfalz. Gestrandete Existenzen, von der Bürokratie Mißhandelte, vom Sozialsystem im Stich Gelassene, Väter, die ihre Söhne vor dem "Bund" bewahren wollen, Bauern, die mit ihren paar Hektar Land nicht mehr zurechtkommen.
Nicht, daß nicht auch andere Abgeordnete Sprechstunden veranstalten. Aber Dröscher hört stets alle geduldig an, gibt Rat und vermittelt das Gefühl, daß er wirklich etwas in Bewegung setzt. Kein Fall wird zu den Akten gelegt, Dröscher schaltet die zuständigen Stellen ein oder gibt Prüfaufträge weiter. Besonders beeindruckt sind die Ratsuchenden, wenn Dröscher noch während des Gesprächs das Diktaphon einschaltet und Briefe diktiert.
1920 in Kirn an der Nahe als Sohn eines Sägewerkbesitzers geboren, hat Dröscher Nationalsozialismus, Krieg, Nachkriegswirren und Wiederaufbau geradezu exemplarisch miterlebt. Als Knabe macht er begeistert beim Nerother Wandervogel mit, der wohl legendärsten Gruppierung der Jugendbewegung, die schon damals ihr Zentrum auf Burg Waldeck im Hunsrück hat. Ganz anders als bei den Pfadfindern, wo Befehl und Gehorsam sowie ein Katalog von Vorschriften galten, "zeigte man uns jungen Burschen", erinnert sich Dröscher -, "was es bedeutet, für sich und andere gleichermaßen verantwortlich zu sein, gemeinsame Pläne zu besprechen, sie durchzuführen und dabei Freude und Spaß am Spiel und an der Arbeit zu haben".
Mit Hitlers Machtergreifung wird die Jugendbewegung von der Hitlerjugend teils ausgeschaltet, teils einverleibt. Dröscher ist beim Jungvolk dabei, im jugendlichen Alltag ändert sich zunächst nichts. Man macht weiter Fahrten und Wanderungen. Dröscher absolviert eine kaufmännische Lehre bei den Kirner Hartsteinwerken, besteht die Gehilfenprüfung und bekommt dort am 1. April 1939 eine feste Anstellung. Am 10. September 1939, der Zweite Weltkrieg ist keine zwei Wochen alt, wird er zum Wehrdienst eingezogen. Er ist bis zum letzten Tag Soldat. Er entkommt der Hölle des Rußlandfeldzuges und muß schließlich noch für fünfzehn Monate an die italienische Front. Ein Schicksal, das an das Helmut Schmidts erinnert.
Nach der Rückkehr kümmert er sich um das heruntergekommene Sägewerk in Kirn, wird bald Stadtrat. 1946 tritt er, der Sohn aus deutsch-nationalem Elternhaus, aus mancherlei Enttäuschung über die Besatzungsmächte der Kommunistischen Partei bei. Zwei Jahre später tritt er wieder aus, führt nun in Kirn die "Freie Liste" an, die 12 der 15 Mandate erringt. Er wird Amtsbürgermeister von Kirn-Land und übt dieses Amt bis 1967 aus. "Nachdem sich in der Folgezeit alle demokratischen Parteien um meine Mitgliedschaft bemüht hatten, entschied ich mich nach reiflicher Prüfung für die SPD, die seit dem 1. 9. 1949 meine politische Heimat ist", schreibt er. Später wird ihn die CDU, namentlich sein Wahlkreis-Gegner Elmar Pieroth, immer wieder in die kommunistische Ecke zu stellen versuchen.
1953 kandidiert er das erste Mal im Wahlkreis Bad Kreuznach/Birkenfeld zum Bundestag - erfolglos. Ausgerechnet 1957, im "Adenauer-Wahljahr", entreißt er der CDU ihre Hochburg - sein Gegenkandidat ist der legendäre klerikal-konservative Professor Süsterhenn - und gibt sie vierzehn Jahre nicht wieder aus der Hand. Das alles ist sein ganz persönlicher Erfolg, denn allein ein spektakulärer Erststimmen-Vorsprung von (1961 und 1965) jeweils rund 10.000 Stimmen - bundesweiter Rekord - sichert ihm das Mandat; erst mit der Zeit wird der Wahlkreis 152 zur SPD-Domäne.
Dröscher gehört zeit seiner Bonner Abgeordneten-Tätigkeit dem Landwirtschaftsausschuß, zeitweise zusätzlich dem Verteidigungsaussschuß an. Das seit 1970 geltende Weingesetz mit den Klassifizierungen "Qualitätswein" sowie "Kabinett", "Spätlese" und "Auslese" für Prädikatsweine trägt weitgehend seine Handschrift. Er ist ein Verfechter der Genossenschaftsidee, steht selbst als Aufsichtsratsvorsitzender der Winzergenossenschaft Rheingrafenberg in Meddersheim vor.
In der eher konservativen Landes-SPD ist Dröscher trotz aller Erfolge nicht überall gut gelitten. Er gilt als Linker. Seine eigene Standortbeschreibung: "Generell kann ich sagen, daß ich in den großen politischen Fragen zur linken Mitte meiner Partei gehöre. In manchen Fragen zählte ich zu den ausgesprochenen Linken', zum Beispiel als es darum ging, die Atombewaffnung zu verhindern und die Notstandsgesetze zu bekämpfen." Er streitet 1966 auch vehement gegen die Große Koalition. Deren Architekt Herbert Wehner wird gleichwohl später sein Freund; der zuckerkranke SPD-Fraktionschef bekommt regelmäßig seine Sonderabfüllung knochentrockenen Weines aus Meddersheim.
Dröscher unterstützt die aufmüpfigen Jusos, darunter auch den jungen Rudolf Scharping. Er hilft mit, daß er 1969 wieder in die Partei aufgenommen wird. Es entwickelt sich eine enge persönliche Freundschaft. Scharping und seine Frau Jutta besuchen die Dröschers im Urlaub, Dröscher macht seinerseits gerne in Lahnstein halt.
Nach allerlei Querelen und - vorwiegend pfälzischen - Intrigen tritt im April 1970, ein Jahr vor der Landtagswahl, der Mainzer Oberbürgermeister Jockel Fuchs, der im Januar 1970 schon zum Spitzenkandidaten ausgerufen war, vom Amt des SPD-Landesvorsitzenden zurück. Der rechte Flügel versucht zwar noch, den Bundestagabgeordneten Adolf Müller-Emmert als Nachfolger aufzubauen, doch Dröscher wird im Mai 1970 Landesvorsitzender und zugleich Spitzenkandidat für die Landtagswahl am 21. März 1971. Die regionale Popularität des "guten Menschen von Kirn" bringt die SPD zwar knapp über die 40-Prozent-Hürde, aber zu mehr reicht es nicht. Dröschers sichere Prognose, die CDU werde ihre absolute Mehrheit verlieren, erfüllt sich nicht.
In einem Bändchen, das Scharping 1978 zusammen mit Freunden herausgegeben hat, findet sich diese Passage, die zeigt, wie sehr er sich seinen Ziehvater zum Vorbild genommen hat: "Wilhelm Dröscher hat das Parlament und seine Arbeit darin verstanden als Bestandteil einer einheitlichen politischen Arbeit. Ein anderer Teil - ganz gleichberechtigt und dennoch schwerer darzustellen - war Dröschers Arbeit für seine Partei in Rheinland-Pfalz. Flächenbrand' hat er selbst 1971 zum Landtagswahlkampf als Stichwort gegeben. Gemeint war: Keine Gemeinde sollte ausgelassen werden bei dem mühsamen Versuch der Verbreitung sozialdemokratischer Überzeugungen und Ziele. In seiner Zeit als SPD-Landesvorsitzender hat Wilhelm Dröscher jede Verbandsgemeinde in Rheinland-Pfalz besucht, Versammlungen gemacht, diskutiert, Betriebe und Verwaltungen aufgesucht, mit tausenden Bürgern gesprochen."
In seinen "zehn Punkten zur Vertrauensarbeit der SPD" formuliert Dröscher 1976 das Ziel, vier Prozent der Bevölkerung als Parteimitglieder zu gewinnen. Er selber hat in seiner Zeit als SPD-Landeschef von 1970 bis 1977 die Mitgliederzahl der SPD in Rheinland-Pfalz um rund 20.000 auf über 70.000 steigern können; die SPD hat damit mehr Mitglieder als die "Staatspartei" CDU.
1975 tritt Dröscher erneut als Spitzenmann an. Diesmal - die politische Großwetterlage ist schlecht für die SPD - reicht es nur für 38,5 Prozent. Mittlerweile hat Dröscher den Fuß in die Bundespolitik gesetzt. 1973 wird er in den Bundesvorstand der SPD gewählt. Auf dem gleichen Parteitag (in Hannover) kann Alfred Nau, seit dem Neubeginn nach dem Kriege Schatzmeister der Partei, nur nach einer Intervention von Willy Brandt noch einmal in seinem Amt bestätigt werden. Im ersten Wahlgang war er durchgefallen - eine Quittung für die Umstände der Einstellung des parteieigenen Berliner "Telegraf". Dröscher wird nun Vorsitzender der Geschäftskommission, übernimmt praktisch die Verantwortung für das zwar immer noch umfangreiche, aber marode SPD-Medienimperium und bereitet sich darauf vor, 1975, auf dem Mannheimer Parteitag, auf Wunsch Brandts das Schatzmeister-Amt von Nau zu übernehmen. Deshalb steigt er ab 1975 schrittweise aus der Landespolitik aus. Gleichzeitig erneuert er sein europäisches Engagement. Von 1965 bis 1971 hatte er dem Europäischen Parlament angehört, 1974 wird er Vorsitzender des Bundes der Sozialdemokratischen Parteien in der EG. Dröscher hat viele persönliche Freunde in Europa, wie François Mitterrand, Sicco Mansholt oder Karel van Miert.
Kenner sagen, Dröscher sei nicht zufällig an jenem Tag einem Herzanfall erlegen, als er seinen ersten Rechenschaftsbericht als Schatzmeister abzulegen und Vorschläge für die Zukunft der Parteifinanzen und -unternehmen vorzulegen hatte. Fünf Jahre später gerät auch die SPD in den Sog der Parteispendenaffäre, und mancherlei Merkwürdigkeiten über die Amtsführung des Dröscher-Vorgängers Alfred Nau kommen ans Licht.
Zur Neuauflage der Dröscher-Erinnerungen von 1978 schreibt Scharping 1993 in seinem Vorwort als Quintessenz dessen, was Dröscher ihm bedeutet hat, nieder: "Mein eigenes politisches Handeln wurde von Wilhelm und Lydia Dröscher geprägt. Viele schöne Stunden verbrachte ich mit der ohnehin großen Familie Dröscher in Kirn und deren nicht weniger großen Freundeskreis. Von Wilhelm Dröscher habe ich gelernt, daß Politik gestalten und Verantwortung übernehmen bedeutet. Er hat sich für Menschen eingesetzt und für ein sozial gerechteres Leben."
Doch einen Konflikt hat es zwischen den beiden gegeben. Als es darum geht, wer 1972 an seiner Stelle im Wahlkreis 152 für die SPD kandidieren soll, empfiehlt Dröscher den Bonner Regierungssprecher Conrad Ahlers. Scharping kann nicht verstehen, wie sein linker Mentor Dröscher diesem ausgewiesenen Mann des rechten Flügels sein mühsam aufgebautes politisches Erbe überlassen kann. Er ist damals Assistent beim Bundestagsabgeordneten Dietrich Sperling, wie er Vertreter des linken Flügels. Scharping setzt unter dem Briefkopf von Sperling einen Brief an Dröscher auf, in dem er sein Unverständnis über diese Personalempfehlung zum Ausruck bringt. Sperling unterschreibt den Brief. Dröscher informiert Ahlers darüber, und es kommt zum offenen Streit. Ahlers wird gleichwohl nominiert und von den Bürgern zwischen Birkenfeld und Bad Kreuznach 1972 und 1976 direkt gewählt. Er stirbt am 19. Dezember 1980.

Paul-Leo Giani

Auch in Dröschers erstem Landtagswahlkampf 1971 ist Scharping natürlich dabei. Wahlkampfleiter ist damals Paul Leo Giani, seit 1969 Scharpings Stellvertreter im Juso-Landesvorsitz. Zwischen beiden entwickelt sich eine enge Freundschaft. Die Familien fahren gemeinsam auf Camping-Urlaub. Politisch spielen sich die beiden die Bälle zu. Sie drängen, angeregt durch den Kommunalpolitischen Kongreß der Jusos, auf eine Novellierung der Gemeindeordnung, um die Kommunalpolitik zu politisieren. Sie ist damals völlig konsensorientiert, was zur Folge hat, daß die SPD-Gemeinderäte mehr an der Macht-Teilhabe als an der Macht selber interessiert sind. Dagegen anzugehen, bedeutet natürlich Konflikte. Aber er und Scharping, so erinnert sich Giani, hätten den ganzen ideologischen Ballast der Juso-Argumentation beiseite geschoben und die Sache praktisch angegangen. Giani: "Rudolf Scharping war schon damals ein Pragmatiker oder, besser gesagt, ein praxisorientierter Mensch."
Giani heiratet Dröschers älteste Tochter Dorothee. 1972 geht er nach Bonn, als Wissenschaftlicher Referent der SPD-Bundestagsfraktion. Er baut ein neues Referat für die Bund-Länder-Koordination auf. Seine Arbeit trägt bald erste Früchte. Giani weiß aus seiner Tätigkeit als Dröschers Wahlkampfleiter, wie schlecht die Opposition von der Mehrheitspartei CDU behandelt wird. Dienstwagen mit Chauffeur und gar noch Autotelefon - das gibt es nicht. In anderen Bundesländern, zum Beispiel dem SPD-regierten Nordrhein-Westfalen, geht es umgekehrt der CDU nicht besser. Giani nimmt mit den Beteiligten Verhandlungen auf. Ergebnis: In Düsseldorf wie in Mainz wird die Opposition besser ausgestattet. Auch Dröscher bekommt seinen Dienstwagen mit Fahrer und Telefon, und eines Tages wird auch Scharping davon profitieren.
Der Mainzer Giani geht 1975 nach Wiesbaden, wird Geschäftsführer der SPD-Fraktion in Hessen und zwei Jahre später zusätzlich Landesgeschäftsführer der hessischen SPD. Später macht ihn Holger Börner zum Chef der Staatskanzlei.
Giani, der im rot regierten Hessen auf der Sonnenseite sitzt, hat seinen Freund auf den harten Oppositionsbänken jenseits des Rheins über all die Jahre mit politischem Material munitioniert. Vorhaben der hessischen Regierung, vor allem in der Regionalpolitik, werden auf rheinland-pfälzische Bedingungen umgeschrieben und als Initiativen im Landtag eingebracht. Scharping erhält die politischen Daten, die die CDU-Landesregierung der Opposition nicht herausrücken will.
1983 ist Giani der Architekt der ersten rot-grünen Koalition. Er und sein Freund in Mainz diskutieren oft darüber, ob man mit den Grünen zusammengehen kann. Giani: "Rudolf Scharping war damals in dieser Frage offen, aber für ihn waren die rheinland-pfälzischen Grünen kein Partner, der mit Joschka Fischer und seinen Leuten vergleichbar gewesen wäre." Als 1987 die hessische Koalition zerbricht, hält auch Scharping das rot-grüne Modell für gescheitert. Giani steigt tief enttäuscht aus der Politik aus. Heute ist er ein erfolgreicher Anwalt, der namhafte Medienunternehmen und die gemeinnützige Wohnungswirtschaft betreut. Auf beiden Feldern holt Scharping nach wie vor seinen Rat.

"Assi" in Bonn


Doch zurück zum Jahr 1969. Nachdem Dröscher wieder in den Bundestag gewählt worden ist, wird Scharping, der ja ohnehin in Bonn studiert, sein Assistent. Als Dröscher 1971 als Oppositionsführer nach Mainz geht, muß er sich nach einem neuen Job in Bonn umsehen, um sein Studium zu finanzieren. Er bewirbt sich um eine Honorarvertrags-Stelle in der von Reimut Jochimsen geleiteten Planungsabteilung von Willy Brandts Kanzleramt. Die Sache scheitert an Sicherheitsbedenken. Als Landesvorsitzender hatte Scharping an DDR-Reisen der Jusos teilgenommen, und nach Befragung von zwei rheinland-pfälzischen SPD-Leuten haben die Sicherheitsexperten von Kanzleramtsminister Horst Ehmke Bedenken gegen den Bewerber.
Dröscher spricht daraufhin selber mehrere linke Bundestagsabgeordnete an, ob sie für seinen tüchtigen Mitarbeiter keine Verwendung hätten. Der hessische Abgeordnete Dietrich Sperling traut Dröschers Empfehlung und stellt den jungen Genossen als "Assi" ein. Scharping behält diesen Job, bis er selber 1975 in den rheinland-pfälzischen Landtag einzieht. Im ersten Handbuch des Landtages, in dem sein Name erscheint, gibt er eine Bonner Dienst-Telefonnummer an - es ist die gleiche, die Sperling noch heute hat.
Die Zeit bei Sperling führt ihn in die legendäre 16. Etage des "Langen Eugen", des Bonner Abgeordnetenhochhauses, an die an anderer Stelle im Zusammenhang mit Hugo Brandt zu erinnern sein wird. "Es war ein fröhliches Arbeiten", erinnert sich Scharping gerne. "Wir haben viele Späßchen gemacht. Ich erinnere mich an Jux-Anfragen an die Bundesregierung über die Falze von selbstgedrehten Zigaretten oder Anfragen an die Bundestagsverwaltung, ob die Haltung von Katzen im Abgeordnetenhochhaus erlaubt sei."
Und das hatte folgenden Hintergrund: Scharping war in seiner Wohnung ein Kater zugelaufen, den er Willy nannte. Tagsüber nimmt er ihn fortan mit ins Büro. Willy sitzt auf seiner Schulter, wenn er auf der Schreibmaschine tippt, und schließt auch Freundschaft mit seinem Chef Sperling und den anderen Menschen auf der 16. Etage. Der Bundestags-Direktor hat ein Einsehen und erteilt eine "Ausnahmegenehmigung für das Halten einer Katze im 16. Stock".
Sperling erinnert sich: "Rudolf Scharping arbeitete sehr selbständig. Er konnte auch gute Ratschläge geben, weil er den Bundestagsbetrieb durchschaute. Er konnte mit wenigen Handgriffen und Überlegungen die Arbeit reduzieren. Schon damals war er, was ihm heute zugute kommt, ein glänzender Informationsverarbeiter, der ohne Verlust von Kerngehalten Informationen reduziert in seinem Kopf speichern kann. Er hatte schon damals ein gutes Gespür dafür, welche Vorgänge sich von selbst erledigten. Schon damals bekam man als Abgeordneter Unmengen bedruckten Papiers. Rudolf Scharping legte die Sachen, die nicht erkennbar dringlich waren, für zwei Wochen beiseite und schaute dann nach, ob sie überhaupt noch von Bedeutung waren." (Notabene: Noch heute macht er es so, auch bei der Terminplanung.)
1975 kommt es zu einer denkwürdigen Umkehrung der Rollen von Chef und Mitarbeiter. Scharping soll als Juso-Vizechef eine Delegation von Jung-Parlamentariern für eine Reise in die Sowjetunion zusammenstellen. Er schmuggelt den damals 42jährigen Sperling in die von ihm geleitete Delegation ein. Für Sperlings künftige politische Aktivitäten soll diese Reise besondere Bedeutung bekommen: Er knüpft erste Kontakte, reist immer häufiger in die UdSSR und wird Präsident der deutsch-sowjetischen Vereinigungen und der späteren Nachfolge-Organisation, der "Arbeitsgemeinschaft deutscher Ostgesellschaften".
Sperling kann sich gut an diese erste Reise nach Moskau und Georgien erinnern. "Scharping war einer der Jüngsten, aber er war Delegationsleiter und protokollarisch entsprechend wichtig. Er hatte sofort durchschaut, welche Funktion die Begleiter hatten, die uns von sowjetischer Seite zugeordnet waren, und daß sie natürlich dem KGB zu berichten hatten. Er dachte sich folgenden Trick aus: Er erklärte unsere Begleiter zu gleichberechtigten Mitgliedern der Delegation und setzte ständig gemeinsame Beratungen an. Das sei bei den Jusos so demokratischer Brauch. Als man uns nahelegte, am Denkmal des unbekannten Soldaten einen Kranz niederzulegen, rief er alle, auch unsere Begleiter, zusammen, um gemeinsam zu diskutieren, ob dieser Akt ratsam sei oder daheim in Deutschland mißverstanden werden könnte. Wir haben den Kranz nicht niedergelegt. Unsere Begleiter muß das alles wohl beeindruckt haben. Jedenfalls hat unser Dolmetscher von damals später in der Perestrojka-Zeit eine aktive Rolle gespielt."
Die Freundschaft mit Sperling hat die Jahre überstanden. Als Scharping Oppositionsführer in Mainz ist, versorgt Sperling ihn mit Papieren, an die er als Bundestagsabgeordneter und Parlamentarischer Staatsskretär im Bundesbauministerium leichter herankommt als ein Mainzer Oppositionsabgeordneter.
Bei all den Jobs und zusätzlichen politischen Aufgaben ist es kein Wunder, daß sich Scharpings Studium in die Länge zieht. 1974 schließt er dann mit dem Examen des Magister artium bei dem berühmten Politikwissenschaftler Karl-Dietrich Bracher ab. Thema seiner Magisterarbeit: "Probleme eines regionalen Wahlkampfes am Beispiel des Bundestagswahlkampfes 1969 der SPD im Wahlkreis Bad Kreuznach." Er hat seine Erfahrungen mit dem Wahlkreis von Wilhelm Dröscher wissenschaftlich aufgearbeitet. Bracher hat später einmal gesagt, die gründliche Magisterarbeit hätte auch gut und gerne als Doktorarbeit eingereicht werden können.
Scharping aber ist nach 13 Semestern an einem schnellen Studienabschluß interessiert. Bonn ist für ihn nur Studien- und Wohnort. Er hat zunächst eine Bude in der Schumannstraße, gleich gegenüber der legendären "Schumannklause", in der damals linke Studenten und Politiker an der Theke stehen. Doch er gehört nicht zu den Stammgästen. Später bewohnt er ein Elf-Quadratmeter-Zimmer im Studentenwohnheim Fritz-Tillmann-Haus direkt an der Mensa, schließlich eine Bude an "Pützchens Markt" in Beuel, ehe er mit seiner Partnerin und späteren Frau Jutta in die Adolstraße zieht.
Seine Magisterarbeit hat er an einem Stück während sechs Wochen geschrieben, in denen Jutta zu Besuch bei einer Freundin auf den Philippinen ist. Wer denkt beim Thema der Arbeit nicht an die Dissertation von Helmut Kohl über das Entstehen der Parteien in Rheinland-Pfalz? Es gibt aber eine noch direktere Parallele: Auch Scharpings Counterpart, der Helfer von Dröschers Wahlkreisgegner Elmar Pieroth, schreibt auf Grundlage seiner Erfahrungen eine Doktorarbeit. Sein Name: Kurt Faltlhauser, seit 1980 Bundestagsabgeodneter der CSU in München. Faltlhausers Doktorarbeit liegt Scharping bereits vor, als er seine Magisterarbeit schreibt. "So ein bißchen habe ich davon profitieren können", gibt er zu.

Juso-Landeschef

Schon 1969, noch nicht einmal wieder in die Partei aufgenommen, wird Scharping Landesvorsitzender der Jusos und bleibt es fünf Jahre lang. Er erlebt also die Aufbruchphase der SPD-Jugend hautnah mit. 1974, auf dem Münchener Juso-Bundeskongreß, wird er dann einer der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der rebellischen SPD-Nachwuchsorganisation (unter der Ägide der Bundesvorsitzenden Heidemarie Wieczorek-Zeul, mit der er, Ironie der Geschichte, fast zwei Jahrzehnte später um den Parteivorsitz streitet). Scharping warnt in der Kandidatendebatte davor, daß die Jusos Gefahr liefen, auf Bundesebene Debatten zu führen, die mit der praktischen Arbeit der Basis nichts mehr zu tun hätten. Bei seiner Wahl erhält er eine knappe Mehrheit, ebenso bei seiner Wiederwahl 1975.
Jusos. Das bedeutet seinerzeit Konflikte nach außen (mit der Mutterpartei) und alsbald im Innern (der Kampf zwischen "Refos" [Reformern], "Anti-Revisionisten" und "Stamokap" [Anhänger der Theorie vom Staatsmonopolistischer Kapitalismus]). Der Wandel beginnt 1969, als im Dezember die alte, parteifromme Juso-Garde auf dem Münchener Bundeskongreß abgewählt wird und Karsten Voigt für drei Jahre Chef der Jugendorganisation wird. Scharping ist in München dabei, als das Selbstverständnis der Jusos mit dem Beschluß "Zustand und Aufgabe der SPD" grundlegend neu definiert wird:
"Ansatzpunkt für eine Arbeit der Jungsozialisten in der SPD bildet die kritische Analyse der politischen Programmatik der Partei. Dabei muß von der Einsicht ausgegangen werden, daß Demokratie ohne Sozialismus und Sozialismus ohne Demokratie Leerformeln bleiben. Statt eines falsch verstandenen Pragmatismus streben die Jusos Erkenntnis der gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte an und suchen nach optimalen Modellen für die stärkere Humanisierung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens. Die Sozialdemokratische Partei auf Bundesebene hat sich immer mehr den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und der vorherrschenden Bewußtseinslage der westdeutschen Bevölkerung angepaßt. Dabei hat sie ihre sozialistische Konzeption aufgegeben zugunsten eines falschen Pragmatismus und zugunsten einer weitgehenden Sterilität des Parteilebens und der Parteidiskussion. Sie hat ihren Charakter als Klassen-Partei aufgegeben, um sich auch bürgerlichen Gruppen zu öffnen und von ihnen wählen zu lassen. Die Ideologie der ,Volkspartei' zwingt alle in der SPD vertretenen Gruppen, schon im vorparlamentarischen Raum Kompromisse einzugehen. Deshalb vertritt die SPD zur Zeit nicht konsequent die eigentlichen Interessen des lohnabhängigen Bevölkerungsteils. Ziel sozialdemokratischer politischer Arbeit muß nach Ansicht der Jungsozialisten die Demokratisierung aller Lebensbereiche der Gesellschaft sein in Betrieb und Wirtschaft, Familie und Partei, Schule und Hochschule, Verwaltung und Justiz."
Ein Jahr später, auf dem Bundeskongreß in Bremen, wird dieses Konzept unter dem Schlagwort "Strategie systemüberwindender Reformen" weiterentwickelt. Der Begriff stammt aus der 68er Bewegung und wurde zum ersten Mal von Knut Nevermann verwendet. Es kommt zum Streit darüber, ob damit mehr gemeint sein soll "als parlamentarische Reformpolitik zur Demokratisierung von Macht" (Norbert Gansel). Daß man mehr will, nämlich eine gründliche Veränderung der Gesellschaft und die Überwindung des Kapitalismus, konkretisiert sich dann unter dem Schlagwort "antikapitalistische Strukturreform".
Als weiteres Element der Juso-Arbeit kommt damals die sogenannte "Doppelstrategie" hinzu. Gemeint ist die "Arbeit auf zwei Ebenen", also einerseits über die Parteischiene und in den Parlamenten, andererseits in Bürgerinitiativen und auf der Straße. Daß dies die Mutterpartei mit Unbehagen sieht, ist verständlich. Hinzu kommt, daß die Jusos in ihren außerparlamentarischen Aktivitäten immer wieder Bündnisse mit den Jugendorganisationen der DKP eingehen.
Parteichef Willy Brandt bestellt daraufhin bei dem Politologen Richard Löwenthal ein Abgrenzungspapier "Sozialdemokraten und Kommunisten". Der Parteivorstand beschließt am 26. Februar 1971, daß in der SPD kein Platz sei für "jene, die aus der parlamentarisch-demokratischen Reformpartei des Godesberger Programms eine Kaderpartei revolutionären Typs machen wollen".
Das wollen die Reformer, zu denen Scharping zählt, auch gar nicht. Im September 1971 erscheint, herausgegeben von Norbert Gansel, in der Buchreihe "rororo aktuell" ein Band mit dem Titel "Überwindet den Kapitalismus oder Was wollen die Jungsozialisten?", zu dessen Autoren neben Gert Börnsen, Horst Heimann, Jürgen Egert, Walter Momper, Gerd Wartenberg und Henning Scherf auch Rudolf Scharping gehört. Der damalige rheinland-pfälzische Juso-Chef befaßt sich mit dem Thema "Nationaler Sozialismus - Internationaler Kapitalismus?". Auf diesen ersten veröffentlichten Beitrag Scharpings wird an anderer Stelle noch genauer einzugehen sein.
Dieses Buch hat seine besondere Entstehungsgeschichte. 1970, auf dem Bremer Juso-Bundeskongreß, spalten sich die "Reformer" in die "Voigtisten" (zu denen auch Wolfgang Roth gehört) und "Ganselisten", die auf dem Kongreß unterliegen. Die ersteren vertreten einen "konsequenten Marxismus", die anderen - und zu denen gehört Scharping - einen "ethischen Sozialismus". Sie sind praxis- und reformorientiert und halten es mit dem Motto "Laßt tausend Blümchen an der Basis blühen". Vor allem sind die "Ganselisten" für eine klare Abgrenzung zur DKP. Streitpunkt ist damals auch, wie man mit einer Einladung von SED-Chef Walter Ulbricht an den Juso-Bundesvorstand umgehen soll. Gansel ist heftig dagegen, sie anzunehmen. Voigt und sein Stellvertreter Roth reisen dennoch nach Ost-Berlin, und das ausgerechnet während der ersten harten Haushaltsdebatte, der sich die Regierung Brandt zu stellen hat.
"Wir waren ein verschworener Haufen, der leider schrumpfte, und zur Tarnung nannten wir uns immer nach dem letzten Ort, an dem wir uns getroffen hatten", erinnert sich Gansel. Und so treffen sie sich denn Anfang 1971 in Volxheim bei den Schwiegereltern von Scharping. Es gibt Wein aus dem eigenen Weinberg und Hausmannskost. Gansel: "Daß man uns damals ethische Sozialisten' nannte, hatte für den, der ein wenig Plattdeutsch verstand, eine doppelte Bedeutung: Gut eten un trinken.' Denn das gehörte immer dazu." Und dazu gehörte auch der selbstgebackene Kuchen von Gansels englischer Ehefrau Lesley.
In Volxheim entsteht das Konzept für das Rowohlt-Buch. Ein weiteres Mal trifft sich der Kreis in Övelgönne bei Lübeck, und aus dem "Volxheimer Kreis" wird nun der "Övelgönner Kreis". Schließlich nennt sich die Gruppe dann "Volxgönner Kreis". Als der von Karsten Voigt geleitete Bundesausschuß der Jusos von der Buch-Ankündigung des Rowohlt-Verlages erfährt, beschließt er, daß die Verwendung des Namens "Jungsozialisten" im Titel zu verbieten sei. Verlagslektor Freimut Duve pfeift darauf. Ungewollt hat Voigt noch Reklame gemacht: Das Buch muß nachgedruckt werden und erzielt die zweithöchste Auflage in der Geschichte der Buchreihe "rororo-aktuell".
Die Juso-Mehrheit ärgert sich, als das Buch erscheint, ganz besonders über einen Aufsatz über die Deutsche Kommunistische Partei, hinter dem alle Autoren stehen und für den schleswig-holsteinischen Jusos Rainer Naudiet und Gerd Walter verantwortlich zeichnen. Darin wird die Bündnisstrategie der DKP bloßgestellt, die durch Aktionseinheiten die Jusos für ihre Ziele einspannen wolle, und festgestellt, daß die Jusos nicht daran interessiert sein könnten, einer solchen dogmatischen Organisation auf die Beine zu helfen. "Keine spektakulären Demonstrationen einer Einheitsfront" fordern Naudiet und Walter.
Im Januar 1993 treffen sich einige der Autoren des Rowohlt-Bändchens von 1971, darunter Scharping, wieder und stellen befriedigt fest: Sie haben über all die Jahre eine kontinuierliche politische Linie gehalten, während Voigt und Roth die ihre erheblich korrigieren mußten. Voigt selber, darauf heute angesprochen: "Ja, so war das. Fragt sich nur, was besser ist."
Gansel und Scharping sind über die Jahre Freunde geblieben. In den ersten Monaten des Jahres 1993 hält Gansel seinen alten Kumpel Scharping darüber auf dem laufenden, was wirklich in Björn Engholm vor sich geht, als die Barschel-Affäre wieder zum Thema wird. So kann es Scharping im Gegensatz zu Gerhard Schröder vermeiden, falsch zu reagieren. Er stärkt Engholm in Briefen und Telefonaten den Rücken.
1972 macht die Jugendorganisation der SPD noch kräftig Wahlkampf für Willy Brandt, befindet sich in weitgehender "linker" Identität mit der Partei. In der Ära des Bundesvorsitzenden Wolfgang Roth (1972-74) nimmt die Ideologisierung zu, die Jusos definieren sich als marxistische Avantgarde. Hatte in guter 68er Tradition zunächst die "Doppelstrategie" die Juso-Praxis bestimmt, beginnt nun die Flucht in die Theoriedebatte. Sie geht wesentlich von dem Bremer Soziologen Detlev Albers aus, dem Chefideologen der "Stamokap"-Gruppe, die sich der Theorie des "staatsmonopolistischen Kapitalismus" verschrieben hatte. Den Begriff hatte zuerst Lenin in "Staat und Revolution" geprägt und definiert: "Insbesondere weist der Imperialismus, weist die Epoche des Bankkapitals, die Epoche der gigantischen kapitalistischen Monopole, die Epoche des Hinüberwachsens des monopolistischen in den staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine ungewöhnliche Stärkung der Staatsmaschinerie' auf, ein unerhörtes Anwachsen ihres Beamten- und Militärapparats in Verbindung mit verstärkten Repressalien gegen das Proletariat sowohl in den monarchistischen als auch in den freiesten, republikanischen Ländern."
In diesem ideologischen Umfeld bewegt sich damals Juso-Arbeit. Scharping, der mit marxistischen Theorien nichts am Hut hat und nicht einmal die "Doppelstrategie" so richtig angewandt hatte, hält mit Norbert Gansel, Johano Strasser, Loke Mernitzka, Uli Maurer, Michael Müller, Gerd Andres, Hermann Scheer, Ottmar Schreiner, Gerd Walter und anderen die Bastion der "Refos", also der gemäßigsten der drei Gruppierungen. Es gelingt, den Vormarsch der "Stamokaps" und auch der "Anti-Revis" unter der Führung des Hannoveraners Gerhard Schröder zu bremsen. Aber die Kräfteverhältnisse sind knapp. 1975 wird Heidemarie Wieczorek-Zeul mit nur 168 von 300 Stimmen wiedergewählt, noch einmal kann sich der reformorientierte Flügel auch inhaltlich mit einem Posititionspapier zur "Demokratisierung aller Lebensbereiche" durchsetzen. 1976 kommt dann die Wende: Die Anti-Revis verbünden sich mit den Stamokaps, neuer Juso-Vorsitzender wird zuerst Klaus-Uwe Benneter und nach dessen Parteiausschluß Gerhard Schröder.
So vergleichsweise "brav" die Jusos in der Ära Wieczorek-Zeul noch sind - Wahlniederlagen in Hamburg, Rheinland-Pfalz und Schlewsig-Holstein werden im Frühjahr 1974 von der Parteirechten vor allem ihnen angelastet. Es gibt eine Reihe von Parteiordnungsverfahren. Am 2. April, einen Monat vor seinem Rücktritt als Kanzler, verlangt Parteichef Willy Brandt in einer dramatischen Zehn-Punkte-Erklärung "sozialdemokratische Geschlossenheit". Deshalb dürfe es keine "Doppelstrategie gegen die eigene Partei und ihre Politik geben." Er warnt davor, die Partei zu einem Debattierclub zumachen und sie auf "Klassenkampfvorstellungen des vorigen Jahrhunderts" zurückdrängen zu wollen. Die Arbeitsgemeinschaften - eine Warnung, die an die Jusos adressiert ist - "dürfen nicht zur Partei in der Partei umfunktioniert werden".

Neuorganisation der Schülerarbeit


Heidemarie Wieczorek-Zeul erinnert sich gern an die gemeinsame Zeit im Juso-Bundesvorstand. "Rudolf Scharping war fleißig, aber auch gesellig. Damals haben wir als Bundesvorstand auch gemeinsam Urlaub gemacht. Zweimal waren wir in den Sommerferien in der Nähe von Bozen auf einem Hof, den ein Juso aus Düsseldorf geerbt hatte. Rudolf brachte seine Jutta mit. Er war damals nicht nur jederzeit als Verfasser von Papieren einsetzbar, sondern auch als Fußballer. Er gründete eine eigene Juso-Fußballmannschaft, die so manches Freundschaftsspiel organisiert hat."
Im Juso-Bundesvorstand ist Scharping ab 1974 zuständig für die Schülerarbeit. Unterstützt wird er vom zuständigen Parteireferenten Pitt Weber, dem späteren Bonn-Staatssekretär von Oskar Lafontaine. Weber: "Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er da mit seinem Bart im Juso-Sekretariat sitzt. Rudolf Scharping unterschied sich auf wohltuende Weise von anderen Juso-Funktionären, die immer nur Forderungen an die Partei stellten. Auch er verstand es sehr wohl, die Interessen der Jusos zu vertreten, aber auf eine pragmatische Art. Er war immer sachlich und zuverlässig. Die Arbeit mit ihm war angenehm."
Scharping verfaßt ein Papier zur Jugendarbeit, das an Parteichef Willy Brandt und Bundeschäftsführer Holger Börner weitergereicht und ohne große Änderungen am 16. September 1974 vom Parteivorstand beschlossen wird. Scharping hat auch ans Praktische gedacht: Ein Referat für Schülerarbeit solle in der Parteizentrale eingerichtet werden. Den Posten des Referenten bekommt ein Mitstreiter Scharpings in der Schülerarbeit: Joachim Hofmann aus dem Vorstand der hessischen Jusos.
Als Schüler-Experte der Jusos wird Scharping im Oktober auch das erste Mal 1974 beim SPD-Parteiarchiv "aktenkundig": mit einem Interview im SPD-Mitgliederblatt "Sozialdemokrat Magazin" (heute "Vorwärts"). Man werde, so kündigt er mit Blick auf den Vorstandsbeschluß an, "bestehende Juso-Schülergruppen ausbauen und neue gründen, damit Schüler ihre besonderen Probleme im Schulbereich wirklich anpacken und lösen können".
Vor dem Hintergrund der endlosen Theoriediskussionen und der zunehmenden innerlichen Ablösung großer Teile der Jusos von der SPD zeigt der folgende Interview-Satz, wie parteinah Scharping denkt: "Dabei sind dann diese konkreten Probleme mit den übrigen Vorstellungen der Partei und der Jungsozialisten zu verbinden." An anderer Stelle spricht er von der "Notwendigkeit einer solidarischen Aktion mit Jusos und SPD". Damals schon weniger Ideologe als Pragmatiker, sorgt er sich, daß man "den Bezug zu den ganz konkreten Problemen und Interessen der Jugendlichen verliert". Die Diskussionen auf den Juso-Bundeskongressen fänden "schwer in die unmittelbare Praxis der einzelnen Arbeitsgemeinschaft Eingang". Nicht nur bei den Jusos, auch bei der SPD selbst sei seit 1969 "der Trend festzustellen, sich aus den Vorfeldern politischer Arbeit zurückzuziehen und sich auf Probleme zu konzentrieren, die sich unmittelbar aus dem Parteileben und aus der Regierungstätigkeit ergeben".
Obwohl es mit Joachim Hofmann nun eigens einen Schülerreferenten "in Verantwortung der Partei, aber angesiedelt bei den Jusos" (so die Formel) gibt, dem er die Richtlinien vorzugeben hat, investiert der Schülerbeauftragte Scharping nicht weniger Zeit als vorher in seine Aufgabe. Er reist quer durch die Republik, besucht die Bezirkskongresse der Jusos. "Ist er noch in der Nordkurve oder in der Südkurve?" witzeln seine Juso-Genossen, wenn er sich verspätet. Eine eigene Bundes-Schülerkommission der Jusos ist bald entstanden, in der rund 500 Schülergruppen vereinigt sind, die fast ebensoviele Schülerzeitungen herausgeben. Auf der CDU-Seite agiert damals Matthias Wissmann als Junge-Union-Vorsitzender, der mit dem erfolgreichen Aufbau der Schüler-Union die SPD erst so richtig auf den Plan gerufen hat.
Die Freundschaft Scharpings mit seinem einstigen Schüler-Referenten Hofmann hat übrigens gehalten. Hofmann ist in den folgenden Jahren Referent in der Bundestagsfraktion, spezialisiert sich auf Bildungspolitik und Jugendforschung und wird schließlich nach Lafontaines Wahlsieg dessen Dienststellenleiter in Bonn. Von dort holt ihn Scharping 1991 als Staatssekretär ins Mainzer Bildungsministerium.
Joachim Hofmann-Göttig, wie er sich heute mit vollem Namen nennt, hatte also mit fast zwei Jahrzehnten Abstand zweimal Scharping zum "Chef". Zieht er den Vergleich, so kommt er zu dem Schluß: "Er hat sich in seiner Art wenig verändert. Er konnte schon immer vielerlei gleichzeitig tun, und es war und ist oft ein Wunder, wie er alles unter einen Hut bringt. Er war schon immer fleißig, konnte systematisch arbeiten. Er beherrscht Arbeitsmethoden wie ein Hans-Jochen Vogel, aber er braucht dazu keine Klarsichthüllen. Und er hat mit seinem extrem guten Gedächtnis stets alles mehr im Kopf als auf dem Papier gehabt. Ehrgeizig ist er immer gewesen, aber es war nicht der persönliche Karriere-Ehrgeiz, sondern ein Durchsetzungs-Ehrgeiz. Menschen konnte er binden, indem er sie an seinen Tisch holte. Solange ich ihn kenne, hatte er ein offenes Haus."
Eine einzige Funktion bei den Bundes-Jusos behält Scharping übrigens bis 1978 bei: Koordinator für die Teilnahme an den Weltjugendfestspielen.

Vertrauensarbeit


Ende 1981 ist die SPD mal wieder in der Krise. Die Mitglieder laufen davon. Der Kanzler liegt mit seiner eigenen Partei wegen der geplanten Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen im Clinch. Soziale Leistungen werden zur Disposition gestellt. In einem Thesenpapier "zur Identität der Sozialdemokratie" warnt der Politologe und stellvertretende Vorsitzende der SPD-Grundwertekomission, Richard Löwenthal, daß die Berufstätigen der SPD davonlaufen würden, wenn sie sich nur noch um "Randgruppen und Aussteiger" kümmere. Annemarie Renger sorgt für die Verbreitung des Löwenthal-Papiers. Der Wahlforscher Manfed Güllner sieht die "Vertrauenspolster" der SPD in den Kommunen schwinden.
Der "Stern" beauftragt mich mit einer Reportage von der SPD-Basis. Lothar Schwartz, damals Parteisprecher der SPD in Bonn, rät mir, mich an den Landtagsabgeordneten und SPD-Kreisvorsitzenden Rhein-Lahn zu wenden. Der verstehe etwas von Vertrauensarbeit. Ich lande in irgendeinem trüben Saal in Nassau an der Lahn. Scharping veranstaltet gerade ein Kreis-Forum zum Thema Rettungsdienste. Alle sind sie gekommen, die Feuerwehr, das Rote Kreuz, der Arbeiter-Samariterbund, private Krankentransporteure. Wahrlich nicht alles SPD-Anhänger. Jeder kann hier seine Sorgen loswerden. Scharping hört sich das an, kommt schnell auf den Punkt. Gibt es Ecken im Rhein-Lahn-Kreis, wo das Risiko, zu sterben, weil der Notarzt zu lange braucht, ungebührlich hoch ist? Was bringt die Privatisierung von Rettungsdiensten?
Abends ist Scharping beim Ortsverein Fachbach an der Lahn. Der Saal im Gasthof Engel ist rappelvoll. Der Landtagsabgeordnete trifft - der Beifall zeigt es - den Ton, als er zur Nachrüstungsfrage sagt: "Der Frieden wird nicht durch Abschreckung, sondern durch gegenseitigen Handel und Austausch zwischen Ost und West gesichert." Oder auch, auf die Debatte um Sozialkürzungen anspielend: "Das soziale Netz ist nicht vom Himmel gefallen, die Partei geht nicht pfleglich damit um."
Später, als Scharping schon wieder weitergefahren ist, sitze ich mit einigen SPD-Mitgliedern zusammen. Keiner, der schlecht über ihn redet. Und nun bekommt Fachbach sogar eine Umgehungsstraße, weil er die Landesregierung jahrelang mit dem Projekt genervt hat. Scharping wird an seiner Basis, wenn schon nicht von allen geliebt, so doch geachtet.
Seit Ende der sechziger Jahre ist der Juso Scharping in der Kommunalpolitik aktiv, die ersten Jahre nicht als Mitglied des Stadtrates - er ist lediglich "sachkundiger Bürger" -, sondern als vorwärtsdrängender örtlicher Juso-Funktionär. Er versucht der sehr konservativ geprägten örtlichen SPD, die sich gerne mit der Mehrheitspartei CDU arrangiert, um auch ein Stückchen vom Kuchen zu bekommen, Dampf zu machen. Als Schüler von Dröscher hält er sich allerdings zugute, die Tricks gemieden zu haben, mit denen damals die Jusos die Partei zu überrollen versuchten; zum Beispiel mit nächtelangen Sitzungen, bei denen abgestimmt wurde, wenn die Arbeiter längst gegangen waren. Nach 22.30 Uhr, so sein Prinzip, dürfe nicht abgestimmt werden.
Es gibt in Lahnstein aber auch Menschen, die Scharping völlig anders sehen. Zum Beispiel Margot Lauschke, Eisenbahn-Gewerkschafterin, lange Jahre SPD-Vertreterin im Lahnsteiner Stadtrat und auch Mitglied des Ortsvereins-Vorstands. Sie sagt: "Rudolf Scharping hat die stramme linke Welle eingeführt. Nächtelang gingen die Auseinandersetzungen, als er und die anderen Jusos kamen und beschlossen, die Macht zu übernehmen. Da gab es keine menschlichen Hemmschwellen. Auch sein ÖTV-Mitgliedsbuch konnte ihn nicht davon abhalten, gegen Gewerkschafter wie mich vorzugehen. Er hat gegen den Radikalenerlaß gewettert und verlangt, daß die SPD in Bonn die Koalition mit der FDP aufkündigt."
Die Äußerungen der Margot Lauschke passen zu dem Generationenkonflikt, der in den siebziger Jahren die SPD beherrscht und auch das Klima in den Ortsvereinen bestimmt. 1974 kommt es zum endgültigen Bruch zwischen Margot Lauschke und der SPD. Zur Kommunalwahl bekommt sie nur den - gleichwohl aussichtsreichen - Platz 11, während eine junge Genossin auf Platz 4 kommt, den sie sich erhofft hatte. Unmittelbar vor der Wahl ruft Frau Lauschke zur Wahl einer "Freien Bürgerliste" auf, der sie sich nach der Wahl dann auch anschließt. Die Lahnsteiner SPD beantragt den Ausschluß von Margot Lauschke wegen parteischädigenden Verhaltens, der schließlich von der Bundesschiedskommission bestätigt wird. Sie schließt sich daraufhin der Ökologisch-Demokratischen Partei des Herbert Gruhl an, die ihr bald aber auch zu links ist.
1974 also kommt Scharping in den Stadtrat von Lahnstein. Er behält dieses kommunalpolitische Standbein bis zu seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 1991. Von 1979 bis 1991 sitzt er zusätzlich im Kreistag von Bad Ems. In diesen Jahren kann sich die SPD in Lahnstein aus ihrer hoffnungslosen Minderheitsposition herausarbeiten. Ein Erfolg, der die Handschrift Scharpings trägt. Er kümmert sich um die Probleme der Menschen, nutzt ab 1975 vor allem sein Landtagsmandat, das er als Vollzeitjob versteht, um etwas für Gemeinde und Kreis zu tun.
Von seinem Lehrmeister Dröscher übernimmt er sofort die Einrichtung der wöchentlichen Bürgersprechstunden. 1982 berichtet er in dem von Hans Wallow, seinem Mitstreiter aus dem Kreis Ahrweiler, herausgegebenen Buch "Bitte einsteigen" über seine Erfahrungen: "Im letzten Jahr waren etwa 370 Bürger dort. Schwierigkeiten vieler Bürger mit den Verwaltungen begegne ich ständig. Daraus entsteht viel Arbeit, aber man kann helfen und bekommt zahlreiche Kenntnisse über die soziale Wirklichkeit und die Auswirkungen politischer Entscheidungen, die ich sonst nie gewinnen könnte... Da gibt es viele, die sich von Verwaltungen eben nur verwaltet' fühlen; einige, die Hilfe beim Ausfüllen von Formularen brauchen. Da ist für die Betreuung eines jugendlichen Strafgefangenen zu sorgen. Eltern bitten um Hilfe bei der Einberufung ihres Sohnes in einen möglichst heimatnahen Standort der Bundeswehr. Andere erwarten Hilfe, weil sie vom Wehrdienst beruflichen oder finanziellen Schaden erwarten müssen. Ich erinnere mich an einen jungen Landwirt, der seinen Betrieb frisch gepachtet hatte. Er sollte eine Wehrübung machen, nur eine Woche. Wer in der Woche seine achtzig Kühe versorgen sollte, hat die Behörde nicht untersucht. Da ist aber auch einer, der seine Medizinerausbildung beenden will, aber wegen Aktivitäten für eine kommunistische Gruppierung im öffentlichen Dienst Schwierigkeiten bekommt."
Es sei Aufgabe des Abgeordneten, Hilfe zu leisten, wo es geht, schreibt Scharping. Alle Erwartungen könnten nicht erfüllt werden, vor allem dann, wenn die Bürger glaubten, "daß es gewissermaßen mit einem Knopfdruck bei der richtigen politischen Beziehung gehe." Es habe auch keinen Sinn, jedes Anliegen zu unterstützen. "Manchmal muß ich einfach erklären, daß ich mich für bestimmte Interessen und Belange nicht einsetzen will; manchmal sind Entscheidungen unangreifbar. Aber auch dann kann ein klärendes Gespräch nützlich sein."
"Sicher hat nicht jeder Bürger mit Beschwerden recht, und die Mitarbeiter auf den Verwaltungen sind nicht seelenlose Roboter", schreibt er weiter. "Sicher kann beispielsweise eine Sozialverwaltung bei einer großen Zahl von Fällen nicht gleichmäßig aufmerksam sein, und mancher wird im Gespräch auch zugänglicher sein als sonst und einsichtiger mit eigenen Ansprüchen und Zielen umgehen. Wenn aber einer einen halben Tag Urlaub opfert, um bei einer Verwaltung um Rat zu fragen, und dann auf die Zeit nach der Frühstückspause vertröstet wird; wenn jemand auf Ausbildungsförderung angewiesen ist und wegen eines kleinen Versäumnisses vielleicht erst Wochen später das dringend benötigte Geld bekommt; wenn einer mit Kindern hinter einer Entscheidung auf einen Bekleidungszuschuß bei der Sozialhilfe herlaufen muß -- das sind dann Fälle, in denen zu Recht den Bürger - und mich auch - der Zorn packt."
Scharping resümiert: Ohne die regelmäßigen Sprechstunden "wüßte ich viel weniger. Ohne die Bürgersprechstunde hätte ich manche politische Initiative gar nicht ergreifen können. Und: mein Risiko auf abgehobene Politik' wäre größer, als es sowieso schon ist."
Auch die Foren, wie jenes mit den Rettungsdiensten, sind zentraler Bestandteil von Scharpings Vertrauensarbeit, seit er 1974 Kreisvorsitzender ist. Drei- bis viermal findet das "Forum Rhein--Lahn" zu einem bestimmten Thema statt. Scharping erläutert das Prinzip: "Wir laden zu einem Thema jedesmal Sachverständige und Betroffene ein. Ein Beispiel: Im Kreis gibt es einige Jugendzentren, meistens in den Städten. In den übrigen knapp 130 Gemeinden gibt es sie nicht; viele Gemeinden sind einfach zu klein und zu schwach dafür. Entsprechend ist die Jugendarbeit außerhalb der Vereine und Verbände schlecht. Wenn wir nach Möglichkeiten der Verbesserung suchen, machen wir (wie in diesem Fall) zweierlei: wir fragen in anderen Kreisen herum, und wir fragen möglichst viele, die direkt betroffen sind. Also werden zu einem solchen Forum eingeladen: die Jugendzentren und ihre Mitarbeiter, kirchliche und gewerkschaftliche Gruppen, die Pfadfinder und die Jugend der Feuerwehr, die Landjugend, die Jusos und viele andere. Das ist der Versuch, über den parteipolitischen Tellerrand zu gucken. Wenn eine Diskussion über staatliche Strukturpolitik und die Förderung von Betrieben ansteht, geht das ähnlich: dann werden Betriebsräte und Gewerkschaften, Handwerker und Kammern eingeladen, oder Ärzte, Krankenhäuser, Rotes Kreuz und Kommunalpolitiker, wenn es um die Krankenhauszielplanung im Lande geht. Solche Diskussionen münden in entsprechende Anträge zum Beispiel bei der Beratung des Kreishaushaltes, oder führen zu parlamentarischen Initiativen.
Systematisch betreibt Scharping als Kommunal- und Landespolitiker das, was in der Parteidiktion "politische Vorfeldarbeit" genannt wird. Willy Brandt hatte seine Genossen dazu aufgefordert, in die Vereine zu gehen und dort als Sozialdemokraten Vorbilder zu sein. Scharping engagiert sich beispielsweise im örtlichen Fußballverein SG Eintracht Lahnstein. Er ist seit 1975 dessen Vorsitzender, später Präsident. Und als der Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes in Finanznöten ist, geht er für vier Jahre in den Vorstand, um sich um die Sanierung zu kümmern.
Daß er konfliktträchtige Engagements in der Kommune nicht scheut, zeigt sein jahrelanger Einsatz für das Lahnsteiner Jugendzentrum. Zunächst gibt es ein solches Zentrum nicht, weil die Stadt angeblich weder Geld noch geeignete Räume dafür hat. Schließlich wird dann doch eine ehemalige Obdachlosenbaracke zur Verfügung gestellt. Sie gerät, weil es keine hauptamtliche Betreuung gibt, schnell als Drogen- und Alkohol-Umschlagplatz in Verruf. 1978 gründet Scharping mit anderen Bürgern einen Förderverein. Damit ist zunächst einmal die Voraussetzung geschaffen, daß im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ein Betreuer eingestellt wird. 1981 richtet die Stadt dann ein festes Jugendzentrum ein. Natürlich gibt es immer wieder Konflikte mit dem damals noch konservativ dominierten Stadtrat, und Scharping muß wieder und wieder schlichten.
In seinen "Streiflichtern" von 1982 schreibt er dazu: "Eine Alternative zu dieser Art von Engagement sehe ich nicht, wenn man den Abstand zu Institutionen und Parteien verringern will. Solange sich deren Vertreter in Gremien, anhand von Tagesordnungspunkten, Anträgen und Vorlagen mit Problemen auseinandersetzen, bleibt das alles Papier. Ohne persönlichen Beitrag, ohne eigenhändiges Zupacken und Rückgrat entsteht keine Glaubwürdigkeit - und keine Chance, Skeptiker zu überzeugen und für die Arbeit in Parteien zu gewinnen."
In jenen Jahren macht Scharping auch ganz praktische Erfahrungen mit der Umweltpolitik, über die er sich schon früh theoretisch geäußert hat. In Braubach, der südlich an Lahnstein angrenzenden Gemeinde, gibt es aus alter Tradition eine Blei- und Silberhütte. In den siebziger Jahren ergeben Messungen, daß vor allem von der Bleiverarbeitung erhebliche Belastungen der Luft ausgehen. Die Weinberge sind bereits vom Blei verseucht, viele Menschen leiden unter Krankheitssymptomen. Die Hütte muß eigentlich sofort geschlossen werden, doch sie ist der einzige größere Arbeitgeber am Ort. "Ein klassischer Konflikt zwischen Umweltschutz und dem Erhalt von Arbeitsplätzen war das damals", erinnert sich Scharping. Er hängt sich als Landtagsabgeordneter in die Sache hinein. Ergebnis: Die Hütte wird saniert. Es entsteht die noch heute technisch modernste Anlage Europas für das Recycling von Blei-Akkumulatoren.
Und der Lohn all dieser Mühen? Langsam aber stetig gewinnt die SPD im heimatlichen Lahnstein an Boden. Die CDU ist hier zunächst dicke Mehrheiten gewohnt. Die Familie des CDU-Landtagsabgeordneten Rudi Geil, der später Innenminister wird, ist hier seit Generationen bodenständig. Bei der Landtagswahl 1979 rutscht die Union in der Stadt Lahnstein unter fünfzig Prozent, und acht Jahre später liegt die SPD bereits vorn. Das ist der Durchbruch. Ein Trick dabei: Die SPD hat auch parteilose Kanidadaten auf die Liste genommen; das kommt an.
Bei der Kommunalwahl 1989 wird die SPD mit Scharping als Listenführer stärkste Fraktion im Rat, und die CDU hat nur noch vierzig Prozent. Erstmals gilt ein neues Wahlsystem ähnlich dem baden-württembergischen, das Kumulieren und Panaschieren zuläßt. Scharping erhält in Lahnstein durch dieses Verfahren rund 19 000 Stimmen bei rund 10 000 Wahlzetteln, auf denen je drei Kreuze vergeben werden konnten. Ein klarer Vertrauensbeweis also.
Im Rhein-Lahn-Kreis - Scharping wird 1979 zum ersten Mal in den Kreistag gewählt - entwickeln sich die Stimmanteile ähnlich positiv, allerdings hat die SPD hier einen besseren Wählersockel. Lahnaufwärts zwischen Nassau und Diez gibt es traditionelle SPD-Hochburgen wie das in eine Lahnschleife eingeschlossene Geilnau, wo mehr als zwei Drittel sozialdemokratisch wählen.
Bei der Landtagswahl 1991 gibt es dann in Rheinland-Pfalz zum ersten Mal Wahlkreise für die Direktwahl der Kandidaten und Listen für die Zweitstimme. In Lahnstein wählen 50,5 Prozent Scharping direkt, 47,9 die SPD. In seinem Wahlkreis, der den westlichen Teil des Rhein-Lahn-Kreises umfaßt, sind es 49,3 (SPD: 46,7) Prozent. Im Rhein-Lahn-Kreis insgesamt erhält er sogar 51,5 (SPD: 49,7) Prozent.

Ein Tag im Leben des MdL Scharping


Es gibt niemanden, der dem jungen Politiker Rudolf Scharping nicht größten Fleiß nachsagt. Politik füllt sein Leben aus. 1982 schildert er in "Streiflichtern" seinen Alltag. Er greift die am 31. August 1981 beginnende Woche heraus:

Montag:
in der Frühe von meinem Wohnort in Lahnstein nach Mainz in den Landtag, Gespräche mit der Gewerkschaft der Polizei wegen des Landeshaushalts, Büroarbeiten; am späten Nachmittag in Dahlheim, einer kleinen Gemeinde im Taunus, wo die heimische SPD-Kreistagsfraktion tagt; gedacht als Anerkennung der Bürger, die ihre Gemeindehalle in tausenden von Arbeitsstunden selbst gebaut haben; abends gegen 21.00 Uhr zu Hause: Lesen, Aufarbeiten der Post.
Dienstag: ein Arbeitstag im Büro; um 18.00 Uhr in Mainz, Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Anti- Kriegstag (Gedenken an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges) mit einer Rede von Kirchenpräsident Hild. Unangenehm daran, daß heute die wöchentliche Sprechstunde zu Hause ausfallen mußte. Danach zurück nach Lahnstein zu einem Treffen mit Mitarbeitern im Jugendzentrum. An der Wand des Jugendzentrums zwei Schreibmaschinenseiten mit einem Aufruf zur Mitarbeit, denn: "Sonst machen die Politiker, was sie wollen."
Mittwoch: vormittags im Mainzer Büro; um 16.00 Uhr in Koblenz ein Treffen mit Redakteuren von Schülerzeitungen und Schülern aus der Schülermitverwaltung zur Vorbereitung eines offenen Jugendkongresses, den Junge Presse, Landesschülerbeirat, Jusos und SPD-Landtagsfraktion gemeinsam veranstalten; abends zu Hause: Artikel schreiben, Post aufarbeiten.
Donnerstag: in Mainz, Gespräche über Kommunalwahlrecht mit Mitarbeitern, anschließend Büroarbeit; abends eine Veranstaltung bei der SPD in Neuwied über die Arbeit der rheinland-pfälzischen SPD-Landtagsfraktion.
Freitag: wieder in Mainz, diverse Gespräche und natürlich die Arbeit im Büro; um 17.00 Uhr die wöchentliche Bürgersprechstunde in Bad Ems, abends eine Veranstaltung in Koblenz: die Jusos schließen einen Wettbewerb ab, den sie für Schülerzeitungen über "Frieden und Abrüstung -- gegen Tod und Hunger in der Dritten Welt" veranstaltet haben.
Samstag: am Vormittag zu Hause; nachmittags Termine mit Kommunalpolitikern in der näheren Umgebung.
Sonntag: zu Hause; politikfreies Wochenende nennen wir das in Rheinland-Pfalz, von dem ich manchmal denke: frommer Selbstbetrug. Treffen mit Leuten aus dem Stadtjugendring, dem Sozialarbeiter und dem Stadtjugendpfleger. Sie bringen Frauen und Kinder mit; wir machen gemeinsam Mittagessen und reden über die Arbeit im Jugendzentrum.

Rückblickend auf seine Arbeit "vor Ort" sagt Scharping heute: "Viele Politiker sehen nur den Wald und nicht die Bäume. Ich habe die Bäume kennengelernt, und deshalb kenne ich auch den Wald." Für ihn sei Basisarbeit stets die Umsetzung des Godesberger Programms gewesen: Menschen aus verschiedenen Überzeugungen zusammenzubringen, ihre Meinungen zu bündeln. "Darin liegt der Erfolg der Volkspartei." Die Foren beispielsweise seien für ihn deshalb stets mehr gewesen als nur eine Arbeits- oder gar nur Wahlkampfmethode, sondern Ausdruck politischer Überzeugung: "Alles anhören und dann prüfen, was sich davon zusammenbinden läßt."
1984 wird Scharping zum Vorsitzenden des Parteibezirks Rheinland/Hessen-Naussau mit rund 30 000 Mitgliedern gewählt. Ein Jahr später, 2 000 neue Mitglieder sind hinzugekommen, erlebt der Bezirk unter Scharpings Ägide in Simmern (Hunsrück) einen ungewöhnlichen Parteitag. Scharping hat das gewohnte Ritual durchbrochen. Die Versammlung wird zu einem politischen Jahrmarkt. Die Ortsvereine sind mit Ständen vertreten, es gibt Begegnungen am Rande, mehr Gäste als Delegierte tummeln sich in der Hunsrück-Halle. Die Regularien des Parteitags geraten zur Nebensache. "Politik ist mehr als Tagesordnung, Antrag, Beschluß und Geschäftsordnung", sagt Scharping zur Eröffnung des Bezirksparteitages. "Politik ist lebendiges Arbeiten, gegenseitiges Helfen, Ringen um die Verwirklichung gemeinsamer Ziele." Politik, das sei auch "Argument, Lachen, Freude. Eine Frage der Kultur, der Freundschaft, der Freude an wachsender Kenntnis."