C Landtagsabgeordneter


Im Landtag

Das erste "Duell" mit Helmut Kohl

Umbruch in der Landespartei

Ein unbequemer Abgeordneter

Klaus von Dohnanyi

Aufstieg zum Fraktionsgeschäftsführer

Hugo Brandt

Im Landtag


Schon 1971 ist Scharping das erste Mal Landtagskandidat, allerdings auf der aussichtslosen "B-Liste". 1975 wird er dann zu seiner eigenen Überraschung unter fünf Bewerbern für den Landtag aufgestellt und am 9. März 1975 gewählt. In seiner ersten Legislaturperiode wird er noch unter seinem vollen Namen "Rudolf Albert Scharping" geführt und nennt als Beruf: "Wissenschaftlicher Mitarbeiter". Als "Assistent von Bundestagsabgeordneten" bezeichnet er seine Tätigkeit. Außerdem, so erfährt man, ist er Mitglied der Gewerkschaft ÖTV und der Arbeiterwohlfahrt.
Schon am 25. März, der neue Landtag ist noch gar nicht zusammengetreten, erscheint in der Mainzer "Allgemeinen Zeitung" das erste Kurzporträt des Neulings. "Der Juso aus dem Rheintal' will erst einmal die Nase in den Landtag' stecken, um dann voll einsteigen' zu können", berichtet das Blatt nach einem Gespräch mit ihm, in dem er sich im übrigen dagegen verwahrt, als Jugendhansel' betrachtet zu werden. Weiter heißt es, Scharping glaube zwar, "daß ihm als Juso auch in der Fraktion Vorbehalte gegenüber auftauchen, meint aber, diese durch nüchterne und sachliche Arbeit' abbauen zu können". Er sei sich der "Schützenhilfe einiger ihm gut bekannter Parteigenossen sicher". Er betrachte sich nicht also Karrieristen, möchte die "Frustration der Bundestagsabgeordneten" (die er als MdB-Mitarbeiter selber miterlebt habe) "nicht am eigenen Leibe erfahren". Auf die Frage, ob er denn beim Wahlvolk ankomme, gibt der gerade 27jährige eine verblüffende Antwort: "Schon, vor allem bei den Älteren." Er legt Wert darauf, in der Bundesbahn weiterhin zweiter Klasse zu fahren (obwohl ihn sein Frei-Ticket als MdL künftig die erste Klasse ermöglicht), um Eindrücke von den Menschen zu gewinnen. Er plädiert sogar für eine "klassenlose Bundesbahn". Sein Abgeordneten-Mandat betracht er als "Full-time-Job", und seinen Wählern will er Rechenschaft über seine Diäten ablegen. Den Genossen in Mainz kündigt er an, er halte es "nicht für ausgeschlossen, Meinungen nach außen zu vertreten, die in der Fraktion keinen Anklang finden".

Das erste "Duell" mit Helmut Kohl


Doch so schnell, wie er sich das vielleicht gedacht hat, kommt er noch nicht zu Wort. In der konstituierenden Sitzung des Landtags am 20. Mai darf er - weil er der Jüngste ist - als vorläufiger Schriftführer die Anwesenheit festellen, indem er alle Abgeordneten ab Buchstabe "M" aufruft.
Seine "Jungfernrede" darf er erst am 29. Januar 1976 halten. Mit sicherem Instinkt hat er sich auf ein Thema gestürzt, das der Landesregierung unter Helmut Kohl nicht sehr angenehm ist: IPEKS. Es geht um das "Integrale Planungs-, Entscheidungs- und Kontrollsystem", das sich die Landesregierung für nahezu fünf Millionen Mark zugelegt hat. Der Debatte liegt ein Antrag der FDP zugrunde, die damals mit der SPD in der Opposition ist. Scharping kritisiert in seinem Redebeitrag, daß dieses Planungsinstrument keinerlei parlamentarischer Kontrolle unterliege, daß aber vor allem nicht klar werde, wozu es eigentlich von Nutzen sei. Die Landesregierung habe bislang nur definiert, was IPEKS nicht sei. Er frage sich, wie funktionstüchtig ein solches Instrument sei, wenn es gestern den jungen Menschen empfehle, Lehrer zu werden, und nun auf einmal keine Lehrer mehr eingestellt werden könnten. Oder wenn IPEKS sechs Sozialstationen pro Jahr für erforderlich halte, die zuständige Sozial-Staatssekretärin aber erkläre, es könnten höchstens zwei werden.
Dann fährt er fort (wobei man sich erinnern muß, daß damals die Regierung Schmidt mit einem Haushaltsstrukturgesetz die Ausgabenbremse gezogen hat und auch die Länderkassen leer sind): "Ich will Sie mit diesen Feststellungen auf eines hinweisen, was meines Erachtens ebenfalls eine nüchterne Diskussion erfordert, nämlich, daß nicht nur der politische Bewegungsspielraum von Landespolitik relativ eng ist - für meine Begriffe -, sondern daß Planung gerade auf der Ebene einer Landesregierung von Außenbedingungen abhängig ist, die sie notwendigerweise nicht oder nicht sinnvoll einplanen kann."
Daraufhin vermerkt das Protokoll den Zwischenruf des Abgeordneten (und Ministerpräsidenten) Dr. Kohl: "Das ist in der Tat wahr!"
Scharping nimmt den Zwischenruf auf: "Natürlich ist das richtig, und ich weiß..."
Erneuter Zwischenruf von Kohl: "Das hätten Sie als ersten Satz sagen sollen, dann hätten Sie sich alles andere ersparen können!"
Scharping läßt sich nicht aus dem Konzept bringen und setzt den unterbrochenen Satz fort: "... daß Ihnen auch da wieder nur der schlichte Hinweis auf eine angeblich mißwirtschaftende Bundesregierung einfällt; aber ich glaube, es sollte über das IPEKS der Landesregierung geredet werden." Daraufhin ein erneuter Kohl-Zwischenruf: "Ja!"
Scharping hatte sich gründlich auf diesen ersten Auftritt vor dem Plenum vorbereitet. "Lebhaften Beifall bei der SPD", vermerkt das Protokoll. Mit seiner ausgefeilten Argumentation erschreckt er aber andererseits die biederen Alt-Genossen. Damals kommt der Spitzname "Genosse Scharfsinn" auf. Wer ihn erfunden hat, ist unbekannt.
Beim Thema IPEKS läßt er nicht locker. Im Frühjahr 1977 stellt der Landesrechnungshof fest: "Das Konzept IPEKS gedieh bisher nicht zur praktischen Anwendung... Im ganzen gesehen sind die Anstrengungen im Rahmen von IPEKS weitgehend nicht als sinnvoll zu bezeichnen. Die Ausgaben entsprechen daher - gemessen am Erfolg - nicht im vollen Umfang einer wirtschaftlichen und sparsamen Mittelverwendung."
Am 5. Mai 1977 debattiert der Landtag über den Prüfungsbericht. Scharping nutzt die Gelegenheit, um die politischen Werte auseinanderzunehmen, die der Planungsarbeit zugrunde lagen. "Ein skandalöses Spiel mit Grundrechten" ist das für ihn. Außerdem versucht er den Nachweis zu führen, daß IPEKS von der CDU für parteipolitische Propagandazwecke benutzt worden sei. Erneut fordert er parlamentarische Kontrolle ein.
Dazu soll es auch bald kommen: Zwei Wochen später setzt der Landtag auf Antrag der Oppositionsfraktionen SPD und FDP einen Untersuchungsausschuß ein, an dem Scharping für die SPD mitwirkt. Schon am 5. Oktober wird der Abschlußbericht vorgelegt - wie nicht anders zu erwarten mit abweichenden Meinungen. Während die Union feststellt, IPEKS habe "Planungsabläufe verbessert", kommen die SPD-Abgeordneten Scharping, Thorwirth, Weirich sowie FDP-Fraktionschef Eicher zu dem Ergebnis: "Ein Schrank voll Papier für fünf Milllionen Mark, in den niemand mehr reinschaut." Und:"Die Verflechtungen von IPEKS mit reiner CDU-Parteipolitik wurden eindeutig bewiesen." In der Debatte über den Ausschußbericht faßt Scharping zusammen, daß die Arbeit von IPEKS "nur aus dem Interesse der regierungstragenden Partei zu erklären war, daß also Steuermittel für Arbeiten ausgegeben wurden, die eindeutig dem Parteiinteresse der CDU dienten".

Umbruch in der Landespartei


Scharpings politischer Ziehvater Wilhelm Dröscher kündigt schon bald nach der 75er Wahl seinen Rückzug aus der rheinland-pfälzischen Landespolitik zum Jahresende an, weil er auf Wunsch von Willy Brandt auf dem Mannheimer SPD-Bundesparteitag im November Schatzmeister der Bundespartei werden soll.
Sofort beginnt das Gerangel um seine Nachfolge im Vorsitz der Landtagsfraktion. Die Alternative heißt Karl Thorwirth, Direktor der Stadtwerke Mainz, oder Hans Schweitzer, Bezirksleiter der IG Chemie. Es entbrennt eine Debatte, die nur vor dem Hintergrund zu verstehen ist, daß zu jener Zeit der Landtag noch ein Feierabend-Parlament mit bescheidenen Diäten ist. Der neue Fraktionschef müsse sich hauptberuflich seinem Amt widmen, sagen die Gegner Thorwirths, der seinen Stadtwerke-Job nicht aufgeben möchte. Vertreten wird diese Forderung von einer Gruppe, zu der auch Scharping gehört. Der Jung-Politiker kategorisch: "Wir können uns keinen Fraktionsvorsitzenden leisten, der diese Arbeit wie anno dazumal nebenbei machen will." Daß Thorwirth dann im November zum Fraktionschef gewählt wird, obwohl er seinen Stadtwerke-Posten behalten will, hängt mit der Verunsicherung über ein aktuelles Diäten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zusammen.
Dröscher bleibt Landtagsabgeordneter und zunächst auch Landesvorsitzender. 1976 betraut er Scharping mit der (ehrenamtlichen) Aufgabe des Landesgeschäftsführers. Im Juni 1977 zieht sich Dröscher dann endgültig von der landespolitischen Bühne zurück. Hans Schweitzer, der schon im März von ihm den Vorsitzen des SPD-Bezirks Rheinland/Hessen-Nassau übernommen hatte, wird neuer Landesvorsitzender.

Ein unbequemer Abgeordneter


In seiner ersten Legislaturperiode wird Scharping meist als Jungsozialisten-Vertreter im Landtag etikettiert. Er kümmert sich, abgesehen vom Sonderthema IPEKS, um die Jugend- und Bildungspolitik und haut zum Beispiel ordentlich auf die Pauke, als die Wirtschaft gegen den "Reformeifer" in der Berufsbildung wettert. In seinem ersten Zeitungseitrag als MdL schreibt er dazu: "Die Moral von der Geschichte ist wiederum eine dreifache: 1. Die Tatsache wird erneut klar, daß Unternehmer wirtschaftliche Machtmittel zu politischem Druck einsetzen. - 2. Propaganda gegen Reformen soll von diesen Tatsachen ablenken und Reformen bremsen. - 3. Um so notwendiger ist für Sozialdemokraten, die Nützlichkeit des demokratischen Sozialismus erfahrbar zu machen; dazu brauchen wir Reformen, die - nicht nur wegen der beruflichen Bildung - die Machtverhältnisse in Staat und Wirtschaft verbessern."
Und wie es sich für einen Juso gehört, kümmert er sich auch um das Thema "Berufsverbote". Am 26. Januar 1978 kommt es zu einer Debatte, die von der CDU auf die Tagesordnung gesetzt worden war. Anlaß ist die Unterschriftenaktion für eine Lehramtsanwärterin aus Speyer, die wegen DKP-Zugehörigkeit bereits vom Vorbereitungsdienst ausgeschlossen worden war. Unterschrieben hatten auch - deshalb die Aufregung bei der CDU - der SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Büchner und der SPD-Landtagsabgeordnete Jörg Heidelberger. Scharping hält sich in seiner Rede nicht lange mit einer allgemeinpolitischen und moralischen Bewertung der Einstellungspraxis im öffentlichen Dienst auf, sondern weist der CDU-Landesregierung nach, daß sie gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstoße, wenn sie bereits bei der Aufnahme in den Vorbereitungsdienst den Verfassungsschutz einschalte. Im übrigen, so weist er nach, würden DKP-Mitglieder in den juristischen Vorbereitungsdienst durchaus aufgenommen - nur nicht in den Vorbereitungsdienst für den Schuldienst .
Auch als Scharping am 15. Juni 1978 - auf der Tagesordnung steht das "Verfahren bei der Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst" - erneut zum Thema Radikalenerlaß spricht, argumentiert er strikt entlang der Rechtsprechung, um der Landesregierung nachzuweisen, daß sie einen wesentlichen Grundsatz nicht einhält: Die bloße Mitgliedschaft in einer als verfassungswidrig eingestuften Partei reiche nicht aus, jemanden vom öffentlichen Dienst auszuschließen. Er läßt sich von seiner Linie auch nicht abbringen, als ihn der CDU-Abgeordnete Loosen mehrfach mit der Zwischenfrage unterbricht, ob denn Väter schulpflichtiger Kinder nicht Anspruch darauf haben, daß deren Lehrer "auf der Grundlage unserer freiheitlichen Ordnung stehen". Scharpings erste Antwort: "Verehrter Kollege Loosen, ich nehme an, daß Väter und Mütter diese Auffassung vertreten sollten." Als Loosen immer wieder nachhakt, antwortet ihm Scharping: "Ich habe gelernt, daß das Bundesverfassungsgericht Recht setzt, und da bin ich dann schon der Meinung, daß Sie sich im Lande Rheinland-Pfalz dessen befleißigen sollten, was das Bundesverfassungsgericht vorgeschrieben hat."
Der linke Scharping gibt so recht keine Angriffsflächen her. Aber 1978 gibt es dann doch einen Sturm im Wasserglas, als bekannt wird, daß er nach Havanna zu den kommunistisch gelenkten Weltjugendfestspielen reisen will. Er stelle sich damit "in die Kulisse einer politischen Propagandaschau", polemisiert die Junge Union. Es handele sich um eine "politische Torheit". Doch Scharping läßt sich nicht beirren: Er nehme als Mitglied der Sprechergruppe nichtkommunistischer Jugendverbände teil, und man habe zur Bedingung gemacht, daß man seine Auffassungen in Havanna ungehindert verbreiten dürfe.
Das Verhältnis zum Fraktions-Establishment ist in dieser ersten Legislaturperiode nicht spannungsfrei. Karl Thorwirth erinnert sich heute: "Scharping war ja damals in hoher Funktion bei den Jusos, und die jungen Leute haben es uns nicht gerade leicht gemacht. Damals ging es in Rheinland-Pfalz um die Verwaltungsreform, und da brauchte uns die CDU. Was da geplant war, das war im wesentlichen vernünftig, aber Scharping und andere waren der Meinung, daß man den anderen grundsätzlich nicht die Kastanien aus dem Feuer holen sollte." Die politischen Auseindersetzungen, so Thorwirth rückblickend, seien allerdinds nur vordergründig gewesen. "In Wirklichkeit ging es um Machtpositionen." Außerdem habe nach 1974 die Polarisierung zwischen Brandt- und Schmidt-Anhängern selbst in Rheinland-Pfalz eine starke Rolle gespielt.
"Diejenigen, die damals meinten, ein Abgeordnetenmandat müsse ein Vollzeitjob sein", sagt Thorwirth in Anspielung auf den jungen Scharping, der sich mit seinem ganzen Fleiß auf die Arbeit im Landtag stürzte, "konnten es schwer ertragen, daß es Leute wie mich gab, die noch einem Beruf nachgingen." Für Thorwirth ist das zwar "Schnee von gestern", dennoch trauert er den Zeiten nach, als die SPD-Landtagsfraktion aus Leuten bestand, die im Hauptberuf Gewerkschaftsfunktionäre, Handwerker, Kommunalbeamte oder Bürgermeister waren. "Statt dessen haben wir nun überwiegend Lehrer."
"Fleißig war er, aber er war kein Störenfried", erinnert sich Thorwirth an den Jung-Abgeordneten Scharping. Er sei vorwärtsdrängend gewesen, habe aber schnell eingesehen, daß es besser ist, nicht gegen die Führung und die Mehrheit der Fraktion zu agieren. Er habe auch bald gelernt, wo mit einer Diskussion Schluß sein mußte.
Natürlich ist Scharping von Anfang an als Dröscher-Mann abgestempelt. "Dröscher hat den linken Sozialdemokraten verkörpert, und damit haben sich manche nie abgefunden", sagt Thorwirth. "Der eigentliche Grund für manche Aversion gegen Dröscher aber war, daß er in seinen legendären Sprechstunden in Kirn den Hilfesuchenden alles mögliche versprach und danach andere damit beschäftigte, die Probleme zu lösen. Er hat viele von uns ganz schön genervt."
Thorwirth, der am 23. August 1993 seinen siebzigsten Geburtstag feierte, über den Scharping von heute: "Ich hätte nie geglaubt, daß er mal so hoch hinaus kommt. Aber er hat sich über die Jahre sehr positiv entwickelt. Er hat ein sehr menschliches Verhältnis zu uns Älteren gefunden. Ich bin ihm heute freundschaftlich verbunden."
Von Anfang an versteht sich Scharping im geschickten Umgang mit der Presse. 1977, er ist gerade zwei Jahre im Landtag, zeichnet ihn die Landespressekonferenz mit dem "Goldenen Telefon" aus, mit dem Persönlichkeiten geehrt werden, "die sich durch große Aufgeschlossenheit gegenüber den Anliegen von Presse, Rundfunk und Fernsehen und durch einen guten Kontakt zu den Journalisten hervorgetan haben".
Bei alledem ist er auch ein fleißiger Wahlkreisabgeordneter, was sich allein schon an seinen zahlreichen Anfragen an die Landesregierung zeigt, die seinen Wahlkreis betreffen. Ob es die geplante Schließung des Straßenneubauamtes in Vallendar ist, der Neubau der Paracelsus-Klinik in Bad Ems, die Reaktorsicherheit beim nahegelegenen Kernkraftprojekt Mülheim-Kärlich, der Schulbau in Nassau, die Lahnsteiner Kläranlage, die Fernstraßenplanung im Lahntal, die Situation der Molkereien im Rhein-Lahn-Kreis, die Verkehrsregelung in der Stadt Diez, der Akazienbestand von Bad Ems oder der Zuschuß für einen Kindergarten in Dahlheim. Mit genau hundert Kleinen Anfragen beschäftigt Scharping in seinen ersten vier Landtags-Jahren die Landesregierung. Dabei geht es natürlich auch um grundsätzlichere Fragen wie die Praxis des Ausländerrechts, die Zensur von Schülerzeitungen, den Hochschulsport oder die Praxis von Schwangerschaftsabbrüchen.

Klaus von Dohnanyi


Weder Thorwirth noch Schweitzer haben den Ehrgeiz, als Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 1979 anzutreten. Guter Rat ist teuer. Der beste Politiker, den die rheinland-pfälzische SPD in ihren Reihen hat, heißt Klaus von Dohnanyi. Er ist Staatsminister im Auswärtigen Amt und Bundestagsabgeordneter im südpfälzischen Wahlkreis Landau. Doch Dohnanyi ist auf seine Genossen im Lande nicht gut zu sprechen. 1969 und 1972 hatte er die Landesliste zur Bundestagswahl angeführt. Nach dem Ende der Kanzlerschaft Willy Brandts gehört er zunächst nicht mehr der Bundesregierung an. Die Pfälzer Genossen, die den "Nadelstreifen-Sozi" nie so recht geliebt hatten, lassen ihn jetzt für die 87er Wahl auf Platz 13 abrutschen - eine Wackelposition. Ganz knapp schafft er wieder den Sprung in den Bundestag.
Es bedarf schon erheblicher Überredungskunst, ihn, der inzwischen in die Regierung Helmut Schmidt aufgenommen worden ist, davon zu überzeugen, als Spitzenkandidat für die Landtagswahl 1979 anzutreten. Parteisprecher Herbert Bermeitinger wird vorgeschickt, mit ihm zu reden. In Bonn nimmt ihn sich Parteichef Brandt vor. Dohnanyi, der aus seinem vorübergehenden Karriere-Sturz als gewandelter Mensch hervorgegangen ist (vieles von seiner sprichwörtlichen Arroganz hat er abgelegt), sagt zu. Er verspricht sogar, vier Jahre später noch einmal anzutreten, wenn es denn im ersten Anlauf nicht klappe.
Im Frühjahr 1978 wird Dohnanyi auf einem Landesparteitag in Lahnstein zum Spitzenkandidaten gekürt. "Wenn wir uns hinter den Bürger stellen, wird sich der Bürger auch hinter uns stellen", ist seine strategische Kernaussage. Entsprechend bürgernah und pragmatisch fällt das "Arbeitsprogramm 1979-83" aus. Es beginnt mit folgenden bemerkenswerten Sätzen: "Politischer Sachverstand ist nicht von Parteien und Politikern gepachtet. In unserer komplizierten Welt übersieht der Einzelne nur noch Teile des Ganzen. Sachverstand und Erfahrung sind breit gestreut... Kein Politiker und keine Partei kann ohne den Sachverstand der Bürger vernünftige Politik machen."
Klaus von Dohnanyi erinnert sich: "Ich kannte Rudolf Scharping schon seit Anfang der siebziger Jahre aus der Umgebung von Wilhelm Dröscher. Ich habe ihn als einen ungewöhnlich real denkenden, besonnenen jungen Mann kennengelernt. Als ich in Rheinland-Pfalz Spitzenkandidat wurde, war er eigentlich schon der wichtigste Mann in der Fraktion. Er war meine parlamentarische rechte Hand. Unser Wahlprogramm hat er ganz entscheidend mitformuliert. Wir waren dabei völlig auf einer Linie. In vielem von dem, was er heute sagte, erkenne ich die damaligen Aussagen wieder."
Scharping bemüht sich vor allem, das Bürokraten- und Parteichinesisch zu tilgen und in eine für jedermann verständliche Sprache zu bringen. Auch viele Jahre später, als Ministerpräsident, kann er richtig böse werden, wenn Beamte oder Abgeordnete Papiere in einer Sprache verfassen, die nur Fachleute verstehen.
1978/79 steht die SPD bundesweit und in den Ländern wieder besser da. Dohnanyis Wahlziehl heißt: Die absolute Mehrheit der CDU brechen. Die FDP, damals in Bonn noch mit der SPD im Regierungsboot, hat das gleiche Ziel. Sie macht aber keine Koalitionsaussage.
Die absolute Mehrheit der CDU wird zwar nicht gebrochen, aber mit 42,3 Prozent fährt die rheinland-pfälzische SPD am 18. März 1979 ein Traumergebnis ein. Die Wahlanalyse zeigt, daß es gelungen ist, einen großen Teil der "Willy-Wähler" von 1972 (damals lag die SPD in Rheinland-Pfalz mit 44,9 Prozent nur einen Prozentpunkt hinter der CDU), die 1975 bei der Landtagswahl (38,5 Prozent) wieder abgesprungen waren und 1976 (41,7 Prozent) teilweise wieder mobilisiert werden konnten, fast vollständig zurückzuholen. Vor allem in katholischen ländlichen Gebieten ist der SPD ein struktureller Durchbruch gelungen, der zwölf Jahre später vollends zum Tragen kommt.
In einer gemeinsam mit SPD-Landesgeschäftsführer Joachim Mertes verfaßten Analyse empfiehlt Scharping das Wahlkampfkonzept auch anderen Landesverbänden: "Die rheinland-pfälzische SPD hatte frühzeitig mit einem Landesparteitag im April 1978 begonnen, landespolitische Themen in den Vordergrund der Diskussion zu rücken. Das dabei entstehende Arbeitsprogramm wurde in einer Reihe von Veranstaltungen mit gesellschaftlichen Gruppen (über ein sozialdemokratisches Spektrum hinaus) und unter Beteiligung vieler Bürger auf den vier Wahlkreiskonferenzen der SPD diskutiert und im November 1978 verabschiedet. Die Art des Entstehens dieses Arbeitsprogrammes in einer offenen Diskussion und seine Inhalte vermittelten der SPD in Rheinland-Pfalz das seit langem vermißte Gefühl der Ebenbürtigkeit mit der CDU im politisch-argumentativen Bereich."
Dem Spitzenkandidaten Klaus von Dohnanyi stehen nach diesem ausgezeichneten Wahlergebnis alle Optionen offen. Hans Schweitzer bietet ihm das Amt es Oppositionsführers an. Doch Dohnanyi bleibt bei seiner Aussage, die er vor der Wahl gemacht hat: "Die Partei hat mich zum Spitzenkandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten gewählt und nicht zum Anwärter für das Amt des Fraktionsvorsitzenden der Opposition." Er könne der Landespartei besser dienen, wenn er Staatsminister im Auswärtigen Amt und damit Vertreter rheinland-pfälzischer Interessen in der Bundesregierung bleibe und im übrigen 1980 wieder die Landesliste für die Bundestagswahl anführe. Der Wunsch der Landespartei aber ist, Dohnanyi stärker in der Landespartei zu verankern. Schweitzer bietet ihm daher das Amt des Landesvorsitzenden an.
Dohnanyi nimmt das Angebot an und soll auch 1983 wieder Spitzenkandidat werden. Doch da kommt im Mai 1981 der Rücktritt des Hamburger Bürgermeisters Hans-Ulrich Klose wegen innerparteilicher Konflikte um seinen Versuch, aus dem Kernkraftwerk Brokdorf auszusteigen, dazwischen. Nach wochenlanger Nachfolger-Suche fällt die Wahl auf Klaus von Dohnanyi. Er läßt sich in die Pflicht nehmen. Rheinland-Pfalz ist wieder einmal verwaist. Dohnanyi heute: "Ich war damals schon der Meinung, daß nun Rudolf Scharping an der Reihe war. Er war ja längst der heimliche Fraktionsvorsitzende."

Aufstieg zum Fraktionsgeschäftsführer


Hans Schweitzer zieht sich nach der 79er Landtagswahl zurück, wird Landtags-Vizepräsident. Als Fraktionschef kommt nun der ehrgeizige Werner Klein, Bürgermeister in Andernach, zum Zuge. Er hatte schon früher versucht, Landesvorsitzender zu werden. Karl Thorwirth, Kleins Vorgänger, sagt ganz offen: "Werner Klein war ein guter Bürgermeister und Abgeordneter, aber er war nicht der Typ für das Amt des Fraktionsvorsitzenden."
Klein und Scharping - das sind zwei gegensätzliche Typen und Generationen. Scharping wird Parlamentarischer Geschäftsführer. Er kann den Bezirk Pfalz und die jüngeren Abgeordneten für sich gewinnen. Erich Stather, der 1983 vom Büro des Mainzer Oberbürgermeisters Jockel Fuchs als Mitarbeiter in die Landtagsfraktion wechselt (1991 wird er Regierungssprecher bei Hans Eichel in Wiesbaden), erinnert sich: "Das Verhältnis Scharping-Klein war sehr konfliktreich. Scharping war einfach der klügere Kopf und die eigentliche zentrale Figur in der Fraktion. Das konnte Klein nicht ertragen. Scharping vermochte es aber auch, in seiner Funktion als Fraktionsgeschäftsführer Menschen an sich zu binden. Er gab Rat und hörte sich Rat und Kritik an. Er hatte für jeden ein offenes Ohr. Er war ein zäher Arbeiter. Auch härteste Kritik schmiß ihn nicht um. Aber obwohl ich sechs Jahre sein engster Mitarbeiter war, ist es mir immer schleierhaft geblieben, wie er all seine Aufgaben unter einen Hut bringen konnte - vom Vorsitzenden der Kreistagsfraktion und zeitweiligen Vorsitzenden der Stadtratsfraktion über den Bezirksvorsitz ab 1984 und den Landesvorsitz ab 1985, vom Fußballverein bis zum Roten Kreuz."
"Klein und Scharping harmonierten überhaupt nicht miteinander", bestätigt auch Thorwirth. "Aber der Rudolf war seinem Wesen und seinem Charakter nach schon damals ein angenehmer und umgänglicher Mensch. Er konnte auch mit denen, die ihm nicht wohlgesonnen waren, korrekt und anständig umgehen."
Kaum zum Parlamentarischen Geschäftsführer gewählt, hat Scharping den Mut zu einem Rundumschlag: Die Abgeordneten aller Fraktionen sollten mehr Courage aufbringen. Er beklagt öffentlich das "vorsichtig gesagt, geringe Maß an Parlamentskompetenz".
Mit seiner neuen Aufgabe ist Scharping trotz mancher Reibungsverluste so zufrieden, daß er die Möglichkeit ausschlägt, 1980 für den Bundestag zu kandidieren. Er setzt sich mit seinen Freunden zusammen und beschließt: "Wir bleiben hier und holen das Land." In seiner neuen Funktion als Fraktionsgeschäftsführer muß er zwar zu allem und jedem reden können, es bleibt aber wenig Zeit, sich mit Spezialthemen zu befassen. 1980 nimmt er die medienpolitischen Pläne der Landesregierung aufs Korn. Rheinland-Pfalz schickt sich damals an, das Pionierland für privaten Rundfunk und die Verkabelung von Haushalten zu werden. Scharping durchleuchtet das Ludwigshafener Pilotprojekt von seiner finanziellen Seite her und rechnet der Regierung eine Finanzierungslücke von 60 Millionen Mark vor. "Für wen wird der Versuch eigentlich finanziert?" fragt er und stellt fest: "Dieser Versuch ist nicht bürgergerecht, er ist eher investitions- und kapitalgerecht." Die Konzeption für Ludwigshafen diene nicht sozialen und kulturellen Belangen.
Auch in der Medienpolitik also argumentiert er nüchtern mit Tatsachen und Zahlen, während andere Sozialdemokraten noch die Fahne des öffentlich-rechtlichen Systems hochhalten und den Privatfunk zum Teufelszeug erklären. Er nimmt es mit einem schlichten Satz vor Verunglimpfungen in Schutz: "Öffentlich-rechtlicher Rundfunk war doch bisher in der Bundesrepublik eben nicht der Zugriff von einzelnen Interessengruppen auf ein Medium, sondern die Organisation aller gesellschaftlich relevanten Gruppen in einem gemeinsam verantworteten Medium."
1982 gibt es mal wieder Anlaß, einen Untersuchungsausschuß zu beantragen. An der Mosel hat es einen Weinskandal gegeben, ein namhafter Großabfüller hat zu tief ins Zuckerfaß gegriffen. Es kommt zum Prozeß, aber die Verantwortlichen kommen mit geringen Strafen davon. Leider, so die Richter, habe das Land den Betrieb nicht ausreichend kontrolliert; das sei strafmildernd gewesen.
Im Untersuchungsausschuß legt es Scharping vor allem darauf an, die Förderpraxis des Weinbauministeriums zu durchleuchten. Er stellt fest, daß gerade bei Betrieben, die mit Investitionszulagen bedacht wurden, "in einem solch hohen Umfang Verstöße gegen Weinrecht und Strafrecht festgestellt werden müssen. Ich glaube an den Zufall dieser Verbindung nicht", sagt Scharping in der Debatte über den Abschlußbericht des Ausschusses. Ministerpräsident Bernhard Vogel verteidigt die Förderpraxis mit dem Schlagwort "Arbeitsplätze". Scharping: "Ich frage mich, wofür die noch alle herhalten müssen." Wenn sechzig Betriebe mit Investitionszulagen gefördert wurden, sieben davon aber 57 Prozent der Mittel erhielten, dann war das "eine Förderung, die eine höchst anfällige und höchst problematische Marktstruktur mit hat aufbauen helfen". Zwar zieht CDU-Weinbauminister Otto Meyer nicht die von der SPD verlangten persönlichen Konsequenzen, aber der Name Scharping hat sich bei den vielen kleinen Winzern im Lande erstmals herumgesprochen. Mit Aufmerksamkeit registrieren sie, daß ihre Interessen von der SPD vertreten werden.

Hugo Brandt


Die nächste Persönlichkeit nach Wilhelm Dröscher, die Scharping prägt und deren Wirken und Ansichten deshalb eine nähere Betrachtung verdienen, ist Hugo Brandt. Geboren am 4. August 1930 in Mainz-Mombach, war er eigentlich gar kein Mann der Landespolitik. Brandt hatte Pädagogik, Politische Wissenschaften und Geschichte studiert. Sein Beruf als Lehrer an einer einklassigen Volksschule in Grolsheim zwischen Bingen und Mainz füllte ihn nicht aus, er trat in die SPD ein und engagierte sich politisch.
1969 wird Brandt in den Bundestag gewählt - er hatte den Wahlkreis Mainz-Bingen der CDU abjagt und hielt ihn auch in den kommenden Wahlen. Er gründet mit Björn Engholm, Günter Wichert und Fred Zander die erste Abgeordneten-"Kommune" in Bonn-Kessenich. Die vier gehören zur schon erwähnten legendären 16. Etage des "Langen Eugen", auf der weitere namhafte linke Abgeordnete wie Norbert Gansel, Volker Hauff, Hans Matthöfer, Jürgen Schmude und Dietrich Sperling ihre Zimmer haben. Es ist praktisch eine große Bürogemeinschaft. Zu den Mitarbeitern der 16. Etage zählen in jenen Jahren auch Scharping und sein Lahnsteiner Freund und Weggefährte Friedhelm Wollner.
Besonders eng ist Hugo Brandts Freundschaft zu Björn Engholm, der ebenfalls 1969 in den Bundestag eingezogen ist. Beide spezialisieren sich auf die Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Brandt allerdings wechselt dann ins Metier der Innen- und Rechtspolitik und wird unter Kanzler Helmut Schmidt innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
Brandt ist einer der Stillen im Lande, aber wirksam. Als "freisinniger Sozialdemokrat", wie ihn der Liberale Burkhard Hirsch mit größter Hochachtung klassifiziert hat (auch noch nach der Wende 1982), zieht er intern immer wieder die Bremse, wenn er den Rechtsstaat für gefährdet hält, ohne daß dies nach außen großes Aufsehen erregt. Eine seiner großen Reden hält er am 16. März 1977 im Bundestag anläßlich des "Lauschangriffs Traube". Ohne Rechtsgrundlage war die Wohnung des Atomwissenschaftlers Klaus Traube vom Verfassungsschutz abgehört worden. Der "Spiegel" hatte den Fall an die Öffentlichkeit gebracht. Brandt bringt das Kunststück fertig, den zuständigen Bundesinnenminister Werner Maihofer verantwortlich zu machen und gleichzeitig die Mitverantwortung zu übernehmen, womit er die CDU-Opposition verblüfft, die darauf gezählt hatte, daß die sozialliberale Koalition alle Angriffe auf Maihofer abwehren würde. Unbeschädigt sei der Minister nicht herausgekommen, sagt Brandt. "Wichtig ist es, daß die Grundrechte unserer Verfassung unbeschädigt bleiben." Gelebte Verfassung sei mehr als die Beachtung des geschriebenen Wortes. "Der beste Verfassungsschutz ist nicht ein gut funktionierendes Amt, sondern der Wille aller, diese Verfassung unseres Staates zu schützen und zu erfüllen." Die Verfassung vertrage es nicht, "daß auch nur ein einziger unserer Mitbürger achselzuckend geopfert wird oder sich selbst überlassen bleibt". Maihofer, ein unbestrittener Vorkämpfer für liberale Rechtsprinzipien, tritt schließlich zurück.
Über Brandts Rede zur Abhöraffäre Traube (die ihm einen langen Händedruck von Herbert Wehner einbrachte) hat der spätere SPD-Chef Hans-Jochen Vogel einmal gesagt, in ihr "bündelte sich alles, was Hugo Brandts Wesen und Charakter ausmachte, wie in einem Brennglas: seine Liberalität, seine Überzeugung von der Wertgebundenheit des Rechts und der Bindung der staatlichen Machtausübung an diese Rechtsordnung, seine intellektuelle Unbestechlichkeit und seine souveräne Beherrschung der Sprache".
Ein zweites Feld, auf dem Brandt Teile seiner eigenen Partei gelegentlich nervt, heißt "Extremisten im öffentlichen Dienst". Er sorgt dafür, daß 1979 die Parteien der Koalition ihrer eigenen Regierung Schmidt eine umfangreiche Bilanz der Praxis des "Radikalenerlasses" abfordern. In der Debatte über die Antwort auf diese Große Anfrage würdigt Brandt, daß sich zwar seit dem ersten Ministerpräsidenten-beschluß von 1972 die Grundsätze geändert hätten, "entscheidend aber ist, daß sich die Praxis ändert... Die seitherige Praxis hat den inneren Frieden erheblich gestört und dem Ansehen der Bundesrepublik geschadet." Er fordert die Parteien des Bundestages, aber auch die eigene Regierung und das Bundesverfassungsgericht auf, nicht länger den Begriff "Verfassungsfeind" zu benutzen, weil er ein Kampfbegriff geworden sei. "Ich nehme das auf meine eigene Kappe", fügt er hinzu.
Ein drittes Feld, auf dem sich der Innenpolitiker Hugo Brandt abarbeitet, ist das Asylthema. Am 16. Juli 1982 beschließen die damaligen Koalitionsparteien das erste Asylverfahrensgesetz. Es soll die Rechtswege für Asylsuchende straffen. Die Diskussion über dieses Thema gleicht bis in die Nuancen jener, die zehn Jahre später ein weiteres Mal geführt wird. Brandt tut sich schwer mit den neuen Regelungen. Sein Freund Uwe Krüger, Rechtsanwalt in Grolsheim, wo Hugo Brandt lebt, erinnert sich, wie dieser auf die Erklärung, das neue Verfahren sei unbedenklich, mit dem Wortspiel reagiert: "Unbedenklich - bedenkenlos - gedankenlos."
Der Linke Hugo Brandt ist, so konsequent grundsätzlich er war, immer auch ein Pragmatiker und Realpolitiker geblieben, weshalb auch Helmut Schmidt ihn stets schätzte. Während der heiß geführten Nach- und Abrüstungsdebatte vor und nach 1980 sagt er: "Meine politische und historische Erfahrung sagt mir, daß der Gedanke der einseitigen Abrüstung in der Bundesrepublik ein faszinierender Gedanke ist - daß die Faszination aber auch alles ist, was er für sich ins Feld führen kann. Einseitige Abrüstung bringt nicht mehr Sicherheit, sondern weniger, sie macht den Krieg nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher."
Brandt liebt lange Wanderungen durch Wälder, Felder und Weinberge. Mit der Zeit bildet sich um ihn und Engholm ein Freundeskreis, der Deutschlands schönste Weinbaugebiete erwandert. Engholm wird sogar Anteilseigner an einem Weinberg im rheinhessischen Kiedrich. "Hugo Brandt", so hat Engholm seinem Freund in memoriam ins Stammbuch geschrieben, "gehört zu den wenigen, die nicht ohne Empfindungen denken, nie ohne gedankliche Klarheit handeln konnten und mochten; einer jener Seltenen in der Gattung Politik, die, mit Lessing gesprochen, mit dem Kopfe zu fühlen und dem Herzen zu denken verstanden." Mehr als einmal, so weiß Engholm zu berichten, habe Hugo Brandt auf ein ihm angetragenes Ministeramt verzichtet.
1982 wird Hugo Brandt "heim" in die Provinz gerufen. Nachdem der Hoffnungsträger Dohnanyi nach Hamburg abwanderte, ist die rheinland-pfälzische SPD erst einmal ratlos. Manche meinen, die Nachfolgeregelung sei nicht eilig. Jockel Fuchs ist es, der auf eine rasche Entscheidung drängt. Schnell richten sich die Hoffnungen auf Brandt. Die große Mehrheit in Fraktion und Landespartei traut jedenfalls ihm weit mehr als Fraktionschef Klein zu, in Dohnanyis Fußstapfen zu treten. So wird Brandt Landesvorsitzender, Spitzenkandidat und nach der Wahl 1983 Oppositionsführer. Klein, so erinnert sich der seinerzeitige Fraktionsmitarbeiter Erich Stather, "war fortan die beleidigte Leberwurst, wurde Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Verkehr und spielte sich in dieser Rolle auf unerträgliche Weise auf".
Mit Brandt, dem Mann der Linken, hatte die rheinland-pfälzische SPD auch eine Richtungsentscheidung getroffen. Auf den Leib geschrieben ist ihm seine neue Rolle allerdings nicht. Er habe sich "lange im Mauseloch versteckt", gesteht er in einem Redaktionsgespräch mit der "Rheinpfalz". Er müsse sich erst einmal mit der Funktion zurechtfinden, die ihm zugedacht sei. Sein Mainzer Amt nimmt er so wahr, wie er sich selber einmal gegenüber Karl-Christian Kaiser ("Die Zeit") dargestellt hat: "Ein ruhiger, verträglicher Mensch, nicht Geräuschemacher..." Der CDU-Fraktionschef Hans-Otto Wilhelm, der das Metier der kleinen Pferdefüße beherrscht, hat es schwer, mit dem Säbel gegen einen Mann zu kämpfen, dessen Waffe das Florett ist (wie Herbert Bermeitinger zutreffend aus nächster Nähe beobachtet hat).
Das Wahlprogramm trägt erkennbar bundespolitische Züge. Brandt: "Ich kann die Bundespolitik nicht einfach abstreifen und mir ein landespolitisches Hemd anziehen." Er macht sich keine Illusionen über seine Wahlchancen. Der Hoffnungsschimmer von 1981/82, man könne es ja vielleicht mit den Liberalen machen, ist nach der Wende in Bonn am Horizont verschwunden. Hinzu kommt, daß die Landtagswahl am gleichen Tag mit der Bundestagswahl stattfindet.
Am 6. März 1983 erreicht die CDU mit 51,9 Prozent ihr zweitbestes Ergebnis in der Geschichte von Rheinland-Pfalz. Die SPD ist mit 39,6 Prozent wieder unter die 40-Prozent-Marke gesackt - nicht zuletzt deshalb, weil erstmals die Grünen für den Landtag antreten. Sie erhalten 4,5 Prozent, ebensoviel wie auf Landesebene bei der gleichzeitigen Bundestagswahl. Da die FDP mit nur 3,5 Prozent an der Fünfprozenthürde scheitert, gibt es erstmals ein Zwei-Parteien-Parlament im Mainzer Deutschhaus.
Der Wahlkämpfer Brandt ist bereits ein schwer herzkranker Mann. 1984 werden ihm im Aachener Klinikum acht Bypässe eingesetzt. 1985 gibt er auf. Er stirbt am 12. September 1989 kurz nach seinem 59. Geburtstag.
Scharping ist während dieser Mainzer Episode als parlamentarischer Geschäftsführer Brandts rechte Hand. Er hat viel von ihm gelernt - die "Politik der ruhigen Hand", die "Geräuschlosigkeit". In ihren rechtsstaatlichen Überzeugungen sind sich beide ebenso ähnlich wie in ihrem Pragmatismus. Scharping in einem Nachruf: "Hugo Brandt war ein Mensch mit Grundsätzen. Er schätzte nicht nur bestimmte Grundsätze, er forderte sie auch von sich selbst und lebte danach. Menschlichkeit und nicht Distanziertheit, Engagement und nicht Routine, ruhige Sachlichkeit und nicht Agitation, Toleranz und nicht Besserwisserei; so ließen sich seine Grundüberzeugungen im Umgang mit anderen beschreiben."
Der andere, weit bekanntere Brandt hat den Volksschullehrer aus Grolsheim immer geschätzt. Willy Brandt schrieb 1991 über Hugo Brandt: "Als Klaus von Dohnanyi nach Hamburg gerufen wurde und eine verwirrende Diskussion über die Nachfolge in Rheinland-Pfalz begann, kam er in mein Büro in Bonn und sagte kurz und bündig: Das muß ich dann wohl machen!' Und als er nach seiner schweren Operation den Abschied vom Landesvorsitz vorbereitete, stellte er ebenso knapp fest: Rudolf wird es werden, und er wird es schaffen.' Womit er recht behielt."