E Ministerpräsident

Die neue Regierung

Der Alltag

Schwerpunkt Wirtschaft

Kaiser Wilhelm, Brot und Spiele

Zwischenbilanz

Spannungen über den Rhein

"Politik der ruhigen Hand"

Kurt Beck

Die neue Regierung

Genau einen Monat nach seinem Wahlsieg wird Rudolf Scharping am 21. Mai 1991 vom Landtag zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Die halbe Zuschauertribüne ist von der Scharping-Familie in Beschlag genommen. Ehefrau Jutta, die drei Töchter, Schwiegereltern, Neffen und natürlich Mutter Hilde - alle sind sie gekommen. "Papa" ruft Julia, die Jüngste, hinab. Der Vater winkt lächelnd zurück. Christoph Grimm, der neue Landtagspräsident, gibt das Ergebnis der geheimen Wahl bekannt: alle 54 Stimmen der neuen Koalition für Scharping. Die Grünen-Vorsitzende Gisela Bill gratuliert, überreicht ihm ein Windrädchen als Wink, "wenigstens das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich stillzulegen". CDU-Fraktionschef Hans-Otto Wilhelm reiht sich hinter ihr ein, gratuliert seinem Duzfreund und Polit-Gegner verstohlen. Die Union hat jetzt erst ihre Niederlage so richtig begriffen.
Um 14.50 Uhr geht Scharping ans Rednerpult und gibt die Zusammensetzung der neuen Regierung bekannt. Die FDP besetzt mit Rainer Brüderle und Peter Cäsar das Wirtschafts- und das Justizministerium. Im übrigen hält sich Scharping an das "Schattenkabinett", mit dem er in den Wahlkampf gezogen war. Neugeschaffen wird ein "Ministerium für die Gleichstellung von Mann und Frau", das von Jeanette Rott geleitet wird. Das Kultusministerium wird nach dem Vorbild der meisten anderen Bundesländer in ein Ministerium für Bildung und Kultur (Rose Götte) und eines für Wissenschaft und Weiterbildung (Jürgen Zöllner) aufgeteilt. Zöllner hatte zwar nicht dieses Mal, wohl aber vier Jahre zuvor dem Schattenkabinett angehört; mittlerweile war er zum Präsidenten der Universität Mainz avanciert. Im übrigen das angekündigte Personaltableau: Florian Gerster für Europa- und Bundesangelegenheiten, Karl Schneider für Landwirtschaft, Weinbau und Forsten, Ulrich Galle für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie, Walter Zuber für Inneres und Edgar Meister für Finanzen. Das Durchschnittsalter der Kabinettsriege: 46 Jahre.
Am 5. Juni gibt Scharping seine erste Regierungserklärung ab. "Die Bildung einer sozialliberalen Landesregierung in Rheinland-Pfalz ist Zäsur und demokratische Normalität zugleich, wenn auch erst nach 44 Jahren", sagt er. Er verspricht eine "neue Politik". Sie soll sich "organisch entwickeln, Neues und Bewährtes verknüpfen. Zielbewußt Rheinland-Pfalz voranbringen, nicht einfach mit allem Vorhandenen brechen."
Nicht Bevormundung, sondern Entlastung der Bürger, nicht Gängelung, sondern Daseins- und Zukunftsvorsorge seien die Zwecke staatlichen Handelns. Sozialdemokraten und Freie Demokraten seien zunächst aus Landesinteresse zusammengekommen. Weiter heißt es: "Gleichzeitig ziehen wir unsere Folgerungen aus den 80er Jahren. Die 90er Jahre müssen ein Jahrzehnt des vernünftigen Maßes werden. Die 80er Jahre hatten die Starken zu fest im Blick, die Schwächeren zu wenig. Mitmenschliche Solidarität wurde zu gering geschätzt. In den 90er Jahren muß also diese Solidarität gestärkt werden." In den 80er Jahren sei zu stark der Vorrang privater vor staatlicher Initiative und Investition verfochten worden. "In den 90er Jahren sollten wir stärker sehen, wo die Vorteile und Notwendigkeiten privaten und wo die Vorzüge und Erfordernisse öffentlichen und sozialen Handelns liegen."
Scharping knüpft an den Geist der Bonner SPD/FDP-Koalition der 70er Jahre an: "Wer morgen sicher leben will, hieß es in der sozialliberalen Zusammenarbeit im Bund, muß heute für Reformen sorgen. Dieser Satz ist heute so aktuell wie damals. Eine Politik auf Kosten unserer Kinder und der Zukunft ist mit dieser Landesregierung nicht zu machen. In diesem Sinne sind für uns das Soziale und Wirtschaftliche, das Ökologische und Kulturelle, das Liberale und das Politische nicht beliebige Akzente, sondern gleichberechtigte Grundlagen unserer Politik."
Ein Schwerpunkt der Regierungserklärung ist die Familienpolitik: "Kinder brauchen Platz im Leben. Sie brauchen Raum zum Spielen, Raum für eigene Phantasie, Raum für ein solidarisches Leben. Für Kinder ist Familie, das Leben mit Erwachsenen, Ort der Geborgenheit und menschlicher Zuwendung. Viele Kinder wachsen heute ohne Geschwister oder mit nur einem Elternteil auf. Kindertagesstätten haben deshalb Bedeutung für soziale Erfahrung, aber auch für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Kindertagesstätten sollen in einer gewandelten Wirklichkeit helfen, nicht Familie ersetzen."
Es fehlen, so rechnet Scharping vor, 25 000 Plätze. Das Angebot an Krippen und Horten sei dürftig. "Wir werden durch eine bessere Investitionsförderung den Anspruch auf einen Kindergartenplatz Schritt für Schritt auch wirklich einlösen", verspricht er und kündigt zugleich eine bessere personelle Ausstattung an. "Unser Ziel ist eine Gruppengröße von höchstens 25 Kindern, damit Erzieherinnen und Erzieher ihrer Aufgabe gemäß arbeiten können." Auch das Umfeld von Wohnen und Spielen müsse kinderfreundlich werden. Also werde man die Richtlinien für den sozialen Wohnungsbau ändern.
Zu den sozialpolitischen Maßnahmen, zu denen die FDP in Rheinland-Pfalz - anders als im Bund - ja sagt, gehört das Konzept der sozialen Grundsicherung. Nicht jede einzelne Leistung soll künftig beantragt und begründet werden, "sondern ein System gefunden werden, das Leistungen bündelt und Bürokratie abbaut".
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Umweltpolitik. Scharping kündigt an, im Vorgriff auf den Bundesgesetzgeber eine allgemeine Deponieabgabe gesetzlich zu verankern. "Beim Sondermüll", so Scharping weiter, "haben uns frühere CDU-Umweltminister eine Altlast hinterlassen, die schwer zu bewältigen sein wird. Die Sondermülldeponie Gerolsheim ist erheblich dioxinbelastet, muß also so rasch wie möglich geschlossen werden." Er setzt sich für die in der SPD umstrittene Verbrennung von Sondermüll ein. "Aber diese Technik muß als Hochtemperaturverbrennung auch verantwortbar sein."
Durchgesetzt hat sich die SPD in den Koalitionsverhandlungen auch mit ihrer Haltung zum einzigen Kernkraftwerk des Landes in Mülheim-Kärlich, was allerdings durch ein Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Koblenz zur neuen Ersten Teilerrichtungsgenehmigung erleichtert wird. Scharping: "Dieses Kernkraftwerk bleibt abgeschaltet. Das ist die Auffassung der Landesregierung, denn die Sicherheit der Menschen geht vor allem anderen. Dazu gehört der Schutz des Trinkwassers, der Schutz vor Gefährdungen durch Erdbeben und anderes. Der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik ist Leitlinie! Auch und vor allem in der Atompolitik."
Auch in der Verkehrspolitik hat sich die SPD weitgehend gegenüber der FDP durchgesetzt, die einst sogar Autobahnen auf Landeskosten bauen wollte. In der Regierungserklärung heißt es: "Wir wollen Umweltpolitik und Verkehrspolitik miteinander verzahnen. Der umweltfreundliche öffentliche Personennahverkehr steht an erster Stelle. Dazu gehören energiesparende und umweltschonende Verkehrsmittel, die Erhaltung und Modernisierung der verbliebenen Schienennetze, aber auch ein attraktives Bedienungs- und Angebotskonzept. Ein Ausbau geht vor Neubau von Straßen, Vorrang hat auch die bessere Nutzung und Verknüpfung der schon vorhandenen Kapazitäten der einzelnen Verkehrsträger."
Düster ist das Bild, das der neue Regierungschef von den Finanzen des Landes malt, wobei man nicht vergessen darf, daß die FDP vier Jahre Mitverantwortung trug: "Die alte Landesregierung hat viel von einer Konsolidierung der Landesfinanzen geredet, aber fraglos zu wenig dafür getan. Die Finanzen des Landes stehen deshalb aktuell als auch in der mittelfristigen Perspektive in einer kritischen Situation. Wir wollen trotz der angespannten Haushaltslage den Raum für neue landespolitische Schwerpunkte öffnen. Wir werden andere Prioritäten setzen und bei weniger dringlichen Aufgaben und Ausgaben sparen. Wir wollen ein gerechtes, sozial ausgewogenes, ökonomisch und ökologisch vernünftiges Steuersystem, das für die Bürger überschaubar und damit auch einfach sein muß. Handwerk und mittelständische Wirtschaft müssen wettbewerbsfähig bleiben. Wegen ihrer großen Leistung für Ausbildung und Beschäftigung gilt: wer beschäftigungsintensiv produziert, soll dafür nicht durch wachsende Kosten bestraft werden. Deshalb werden wir eine mittelstandsfreundliche Reform der Unternehmensbesteuerung im Bundesrat einbringen. Der Gewerbesteuerfreibetrag soll verdoppelt, der Freibetrag für betriebliche Vermögen erhöht und die Existenzgründung durch angemessene Regelungen erleichtert werden."
Trotz des finanziellen Engpasses verspricht Scharpings Regierungserklärung angesichts des horrenden Unterrichtsausfalls die unverzügliche Einstellung von 800 neuen Lehrern. Das brisante Thema Gesamtschule wird so formuliert: "Wir werden integrierte Gesamtschulen dort einrichten, wo die Eltern dies wollen und wo das gegliederte Schulsystem in zumutbarer Entfernung erhalten bleibt."
Die rheinland-pfälzischen Bürger freunden sich schnell mit dem politischen Wechsel an. Scharping verbessert sich in der regelmäßigen "Infas"-Umfrage der "Rheinpfalz" in der Sympathieskala (von minus 5 bis plus 5) von 1 auf 1,6 Punkte, und Juniorpartner Brüderle kann ebenfalls zufrieden sein: 0,8 Prozent. Soviel hatte er nie zu gemeisamen Regierungszeiten mit der CDU. Die CDU-Größen stürzen in Minusbereiche ab. Die Stimmung schlägt auf die Bundespolitik durch: 54 Prozent der Rheinland-Pfälzer halten ihren Landsmann Helmut Kohl nicht mehr für einen guten Bundeskanzler.
Nach zwei Jahren, im Juni 1993 sieht das demoskopische Ergebnis übrigens noch bedeutend besser aus: 2,8 Sympathiepunkte für Scharping, 1,0 für Brüderle. Und wenn am nächsten Sonntag Landtagswahl wäre - so "Infas" - käme die SPD auf 48 Prozent, die CDU nur noch auf 32 Prozent, die FDP auf 6 und die Grünen auf 7 Prozent. Während die Umfrage erstellt wurde, war Scharping bereits als möglicher SPD-Vorsitzender und -Kanzlerkandiat im Gespräch.

Der Alltag


Bereits nach 94 Tagen legt Scharping die Bilanz seiner ersten hundert Tage vor. Demnach hat seine Regierung zwei Versprechen erfüllen können: 800 Lehrer werden zusätzlich eingestellt, um den Unterrichtsausfall zu mindern, und die staatliche Mitfinanzierung der Kindergärten ist angelaufen, mit der das (noch von der alten CDU-geführten Regierung gesetzte) Ziel angesteuert werden soll: ein garantierter Kindergartenplatz für jedes Kind von drei Jahren an. Verbesserungen im Polizeibereich kommen hinzu, erste Schritte zur Verwirklichung der Lehrmittelfreiheit, und die Winzer werden von allzu bürokratischen Vorschriften bei der Mengenregulierung wieder befreit.
Natürlich gibt es auch Pannen in der Startphase. Frauenministerin Rott kommt ins Gerede, weil sie die Formulierung "Vater/Mutter unser..." gebraucht, was den Bischöfen gar nicht gefällt und die FDP für "kontraproduktiv" hält. Der Konfliktstoff zwischen den Koalitionspartnern aber hält sich in Grenzen. Die FDP schreit "Koalitionsbruch", als Umweltministerin Martini Tempo 120 auf Autobahnen fordert. Und SPD-Bundesratsminister Gerster weist seinen FDP-Staatssekretär Rumpf (ohnedies eine der umstrittensten Personalien der Regierung) zurecht, der offen über eine Länder-Neugliederung nachdenkt.
Die Finanzlage des Landes, die Scharping von seinem CDU-Vorgänger Wagner geerbt hat, ist alles andere als rosig. Die Ausgaben waren überproportional gestiegen; 1989 um fünf Prozent, 1990 um sieben Prozent (mit einer Neuverschuldung von 1,4 Milliarden Mark gegenüber 534 Millionen im Jahr davor), und in den ersten vier Monaten 1991, also bis zum Wahltag, um 9,2 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Sofort nach ihrer Vereidigung muß die neue Regierung die Notbremse ziehen: Mit einer Sperre von zehn Prozent für alle Ausgaben, die nicht rechtlich oder faktisch fest gebunden waren.
Der neue Regierungschef erbt eine Verwaltung, die seit mehr als vier Jahrzehnten von der Herrschaft einer Partei geprägt war - der CDU. Doch schon sehr bald er fest, daß der Wechsel offenbar "wie eine Befreiung" auf die meisten Mitarbeiter gewirkt habe. "Die Motivation eines großen Teils der Beamtenschaft ist sehr ,gut", stellt er fest. Sehr schnell habe er zu unterscheiden gelernt, wer wegen seiner fachlichen Qualifikation oder wegen seines Parteibuches an seinem Platz sei. "Letzeren muß man hie und da das Arbeiten beibringen und notfalls Konsequenzen ziehen."
Auch die unkonventionelle Art, mit der Scharping seinen Amtspflichten nachgeht, kommt an. Wenn er sich zum Beispiel vom Empfang einer großen Autofirma in ihrem Kaiserslauterer Zweigwerk in die Werkshalle davonstiehlt, um mit den Arbeitern am Band ein Schwätzchen zu halten, spricht sich das im Lande rum.
Als er das erste Mal als neuer oberster Dienstherr die rheinland-pfälzische Landesvertretung in Bonn besucht, begrüßt er zuallererst das Küchenpersonal. Die Vorgänger-Regierung hatte die neue Landesvertretung an der Heussallee, wenige Schritte vom Bundeshaus, mit einem Riesenaufwand errichten lassen - weit überdimensioniert für ein kleines Bundesland. Scharping verbindet mit dem Gebäudekomplex persönliche Erinnerungen: In dem Altbau an der Ecke Heussallee/Winston-Churchill-Straße, der in den Neubau integriert wurde, hatte einst ein Zahnarzt seine Praxis. Als Scharping, damals Assistent des Abgeordneten Sperling, Zahnschmerzen plagten, suchte er den Zahndoktor auf. Der ließ ihm die Wahl zwischen künstlichem Gebiß oder Wurzelbehandlung. Er entschied sich für die letztere, und so ist sein Lächeln auf späteren Wahlplakaten "original" geblieben.
Nicht alle in der Society an Rhein, Mosel und Nahe sind einverstanden damit, daß Scharping das "Defilieren" abschafft. Die Honoratioren des Landes waren gewohnt, daß alljährlich zum Neujahrsempfang in der Staatskanzlei ein Defilee über die Prunktreppe stattfand. Jeder durfte, ja mußte dem Landesherrn die Hand geben, ehe ihm Einlaß gewährt wurde. Als Oppositionsführer hat Scharping dieses Ereignis gerne geschwänzt, und von seinem politischen Ziehvater Wilhelm Dröscher weiß er zu erzählen, daß der sich einmal durch eine Nebentür hineingemogelt habe, worauf im Wachbuch amtlich vermerkt wurde: "Der Oppositionsführer verschaffte sich mit Gewalt Zutritt zur Staatskanzlei."
Scharping, kaum als Ministerpräsident im Amt, ordnet an: "Es soll zu keinem Defilieren kommen." Dies wird auch den Gästen mitgeteilt, die wie üblich zum Neujahrsempfang eingeladen werden. Doch die halten sich nicht daran, die Schlange vom Rheinufer herauf ist länger als je zuvor. Scharping sinnt auf Abhilfe: Seit der Jahreswende 1992/93 findet der Neujahrsempfang abwechselnd in verschiedenen Städten des Landes statt - zuerst in Ludwigshafen, dann in Trier, Kaiserslautern und Koblenz. Auch das gemeine Volk ist geladen. So hat es sich ausdefiliert.
"Politik kann auf Selbstbeweihräucherung verzichten." Mit dieser Begründung stellt die neue Landesregierung 1991 sofort den "Rheinland-Pfalz Report" (Scharping: "eine Regierungspostille") ein. Von dem eingesparten Geld, mehrere hunderttausend Mark, werden Kinder aus Tschernobyl und Bitterfeld zur Erholung nach Rheinland-Pfalz eingeladen.

Schwerpunkt Wirtschaft


Schwerpunkt ist für Scharping von Anfang an die Wirtschaftspolitik. "Rheinland-Pfalz ist nicht mehr das Land der Reben und der Rüben", sagt er. "Es ist ein Land, in dem sich zunehmend hochqualifizierte Arbeit, spezialisierte Arbeitnehmer, neue technologische Entwicklungen verbinden mit den Herausforderungen der Zukunft." In einer "Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz" bringen Scharping und sein FDP-Vize Brüderle Vertreter von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Verwaltung an einen Tisch. Es wird ein eingetragener Verein daraus, mit dem BASF-Vorstandsvorsitzenden an der Spitze und Scharping als seinem Stellvertreter.
Auf seinen Kreisbereisungen sucht Scharping vor allem Kontakt zur heimischen Wirtschaft. Er hört zu und kehrt auch eigene wirtschaftliche Kompetenz hervor, zum Beispiel bei einer Kreisbereisung in Trier. Der Ministerpräsident besucht die Firma Laeis-Bucher, ein Traditionsunternehmen, das fast ein Welt-Monopol für Maschinen zur Keramik-Herstellung hat. Es ist mittlerweile in Schweizer Besitz. Der Chef, Hans Hauser, selber ein Schweizer, stimmt das übliche Klagelied an: Die Konkurrenz in Italien, mit den geringeren Lohnnebenkosten; und wenn die Dritte Welt erst auf den Markt kommt... Per Bildwerfer werden Schreckensbilanzen an die Wand projiziert. Scharping sieht sich das alles gelassen an, stellt dann nur eine knappe Frage: "Und wie hoch sind die Lohn-Stückkosten." Hauser stottert. "Die haben wir leider nicht präsent." Da meldet sich der Betriebsratsvorsitzende, mutig geworden, aus dem Hintergrund, und sagt: "Das ist genau der Punkt. Unsere Produktivität ist besonders hoch." Und als der Chef noch berichtet, daß man jetzt ein neues, größeres und schöneres Werk im Trierer Hafengebiet baut, ist die Sache klar. Natürlich ist der Standort attraktiv, nicht zuletzt wegen der spezialisierten und motivierten Mitarbeiter. Man denkt im Traum nicht daran, die Produktion in ein Billiglohnland zu verlegen.
Bei der anschließenden Betriebsbesichtigung legt Scharping Wert darauf, daß auch der Betriebsratsvorsitzende an seiner Seite ist. Dem Chef aus der Schweiz gibt er am Ende noch den Rat: "Machen Sie doch bei unserer Zukunftsinitiative mit."

Kaiser Wilhelm, Brot und Spiele


Eine Erbschaft der alten Landesregierung kann einem Sozialdemokraten eigentlich überhaupt nicht schmecken: das Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Ein Koblenzer Verleger hatte auf eigene Kosten das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I., das am Ende des Zweiten Weltkriegs von amerikanischen Granaten zerstört worden war, neu gießen lassen. Es sollte wieder auf seinen Podest am Zusammenfluß von Mosel und Rhein, wo seit den Zeiten des liberalen Bundespräsidenten Theodor Heuss schlicht die deutsche Fahne flatterte. Die Regierung Vogel wollte das Geschenk nicht, die Stadt Koblenz war gespaltener Meinung.
Da entschied CDU-Ministerpräsident Wagner zugunsten des Denkmals - eine historische Provokation, jedenfalls aus der Sicht der SPD: "Wilhelm I., der die bürgerliche Revolution von 1848 niederkartätschen ließ, ist kein Sinnbild für die deutsche Einheit auf der Grundlage des Grundgesetzes und der darin verbrieften Menschenrechte." Scharping schreibt im Sozialdemokratischen Pressedienst: "Der Weg zur staatlichen Einheit der Deutschen ist ein europäischer, kein nationaler allein. Es ist absurd, unsere Einheit nach den großen Brüchen und Verwüstungen mit der Rekonstruktion eines großdeutschen Symbols zu belasten." Doch er sieht sehr bald ein, daß es wenig Sinn macht, daraus einen Kulturkampf zu machen, von den juristischen Problemen ganz zu schweigen. Er schenkt das Deutsche Eck einfach der Stadt Koblenz, gibt noch Geld für die Sanierung des Sockels dazu, und nun mögen die Koblenzer mit ihrem Monstrum zufrieden sein oder sich mit ihm blamieren - je nach Geschmack.
Scharping hat eine eigene Idee, dem Volk panem et circenses zu bieten: "Tal total". 1992 läßt er zum ersten Mal an einem Sonntag das gesamte Rheintal zwischen Koblenz und Bingen für den Autoverkehr sperren. Hunderttausende nutzen den Tag, um zu wandern oder zu radeln wie er selbst. Der Erfolg macht andere neidisch, und an der Deutschen Weinstraße und im Moseltal wird das Experiment nachgeahmt. "Tal total" ist schon nach dem zweiten Mal eine feste Institution, die noch ausgebaut werden kann. Scharping verspricht sich neuen Aufschwung für das romantische Rheintal, dessen Attraktivität für den Fremdenverkehr mit der Zeit nachgelassen hatte.

Zwischenbilanz


Ein halbes Jahr nach dem Machtwechsel in Mainz steht Scharping in der eigenen Partei erneut auf dem Prüfstand. Auf einem Landesparteitag in Speyer wird er mit 213 von 230 Stimmen als Landesvorsitzender wiedergewählt. Kritiker wagen sich kaum noch hervor, obwohl statt des üblichen Rituals mit dem Rechenschaftsbericht diesmal eine "Fragestunde" angesagt und allen SPD-Kabinettsmitgliedern Präsenzpflicht verordnet worden ist. Lediglich der Juso-Landesvorsitzende Jörg Kukies spricht von der Gefahr, daß die Landespartei zum Anhängsel der Regierung werde.
Kritik ist nicht gefragt. Jubelrufe wie "Rudolf, das hast du gut gemacht" sind zu hören. Der zeigt bundespolitisches Profil. Kohl ist für ihn der "Schuldenkanzler", und Theo Waigel die Bundeskasse anzuvertrauen sei so, als mache man Dracula zum Chef der Blutbank. Kritik übt er aber auch an der Bundes-SPD. Sie müsse ihr soziales Profil schärfen, ihre wirtschaftliche und umweltpolitische Kompetenz ausbauen. Der Kanzlerkandidat (Engholm) sei der Richtige, jetzt fehle es noch am guten Team. Kein Wunder, daß sich die Delegierten bange fragen, welche bundespolitischen Ambitionen ihr Vormann habe. Sie könnten unbesorgt sein, beruhigt Scharping Genossen am Rande des Parteitags. Er sei und bleibe Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, auch über 1996 hinaus.
Erstmals wird auf dem Speyerer Parteitag ein Landesschatzmeister gewählt. Es ist Kurt Beck, der Fraktionsvorsitzende - ein Signal,wie wichtig er in der Personalplanung Scharpings ist.
Den ersten Jahrestag seines Sieges feiert Scharping mit Freunden und Mitarbeitern, mit Künstlern und Wahlhelfern im Mainzer "Bachhof". Aus Düsseldorf ist Johannes Rau hinzugekommen. Für ihn sei Scharping, so sagt er, "immer der Enkel gewesen, der sich sein eigenes Land erarbeitet und die richtige Mischung aus Bodenhaftung und Perspektive hat".
Auch der DGB ist zufrieden. "Das Urteil fällt überwiegend positiv aus", erklärt der Landesbezirksvorsitzende Dieter Kretschmer in der ersten Jahresbilanz. Die Landesregierung setze in der Wirtschaftspolitik "das richtige Signal, um Willen zum Aufbruch zu vermitteln". Gelobt werden der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, die Planungen für ein Weiterbildungsfreistellungsgesetz, die Erweiterung der Technologieberatung und die Demokratisierung der Schule. Nicht genügend stark macht sich indes die Regierung Scharping nach DGB-Meinung für die integrierte Gesamtschule und den Ausbau der Gewerbeaufsicht. Als "Belastung" betrachtet der DGB die Absicht, die Zuständigkeit für die Arbeitsgerichtsbarkeit vom Arbeits- auf das Justizministerium zu übertragen.
Das Wohlwollen der Gewerkschaften erleidet einen Knacks, als die Landesregierung einem großen Teil der Lehrerschaft eine zusätzliche Unterrichtsstunde verordnet. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft steht Kopf, verteilt an ihre Klientel 20 000 "rote Karten", die als Zeichen des Protestes an die Staatskanzlei geschickt werden sollen. Doch nur ein paar hundert werden dort gesichtet. Evelyn Roll schildert in der "Süddeutschen Zeitung" eine Szene, in der Scharping einem alten Freund, der selbst Lehrer ist, in der Koblenzer Szene-Kneipe "Mephisto" die Sache erklärt: "Meine Güte, dann mußt du halt mal 25 oder 40 Minuten mehr unterrichten, na und? Der Weg von der Erkenntnis zum Handeln führt über eine hohe Hürde, die heißt Gewohnheit. Für die Lehrerverbände ist diese Hürde offenkundig zu hoch."
Auch wenn er - vor allem in seinem ersten Wahlkampf - das Auftreten der Amerikaner in Rheinland-Pfalz immer wieder kritisiert hatte, bemüht sich Scharping, als Ministerpräsident ein gutes Verhältnis zu den USA aufzubauen. Er besucht mehrfach amerikanische Garnisonen und reist Ende Oktober 1991 in die USA, nun zum ersten Mal als Regierungschef. "Ein sicheres Militärsystem in Europa funktioniert besser, wenn die USA beteiligt sind", sagt er vor der Washingtoner Militärakademie. Aber eine bessere Informationspolitik über den geplanten Abzug von US-Truppen aus seinem Bundesland und - mehr noch - eine Mitwirkung an den Standortentscheidungen erwarte er denn doch.
Im Mai 1992 wird Scharping Ehren-Vorstandsmitglied des Deutsch-Amerikanischen Clubs. Rheinland-Pfalz mit seiner über 300jährigen Geschichte der Auswanderung nach Nordamerika sei besonders prädestiniert, einen Beitrag für die deutsch-amerikanische Kooperation einzubringen, erklärt er.

Spannungen über den Rhein


Aus seinem Amtszimmer blickt der rheinland-pfälzische Ministerpräsident direkt auf die Rheinbrücke, die Mainz mit den rechtsrheinischen, zu Hessen gehörenden Stadtteilen verbindet. Der Weg nach Wiesbaden ist kurz. Doch Scharpings Verhältnis zu seinem SPD-Kollegen jenseits des Rheins, zu Hessens Ministerpräsident Hans Eichel, ist trotz gelegentlicher gemeinsamer Kabinettssitzungen (die pflegt man auch mit dem Saarland und Luxemburg) nicht gerade frei von Spannungen. Zwar ist Erich Stather, in Oppositionszeiten Scharpings enger Vertrauter als Persönlicher Referent, bei Eichel Regierungssprecher. Doch kaum haben sich die beiden Ministerpräsidenten freundschaftlichen Umgang und enge Zusammenarbeit versprochen, knirscht es schon. Die Mainzer Landesregierung beklagt sich über unerlaubten Mülltourismus aus Hessen. Trotz aller Hinweise habe das Wiesbadener Umweltministerium nicht auf die Tatsache reagiert, daß Sondermüll von Frankfurter Firmen in einer ehemaligen Lavagrube in der Eifel verscharrt wurde. Auch mit der Verkehrswegeplanung liegen die beiden Landesregierungen quer. Rheinland-Pfalz stimmt im Bundesrat für das Verkehrswegebeschleunigungsgesetz von Bundesverkehrsminister Günther Krause (CDU); Scharping spricht sich sogar dafür aus, es nicht nur für die ehemalige DDR und Randgebiete anzuwenden, sondern für ganz Deutschland. Dies wiederum ist nicht im Interesse von Hessen, durch das ein wesentlicher Teil des West-Ost-Verkehrs geht.
Ein weiterer Knackpunkt heißt Wolfgang Kiehne. Der war einst Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion in Wiesbaden, wurde dann mit drei Vierteln seines Gehalts in den Einstweiligen Ruhestand versetzt. Scharping heuert Kiehne als ehrenamtlichen SPD-Landesgeschäftsführer an. Er führt also die Geschäfte der rheinland-pfälzischen SPD auf Kosten der hessischen SPD-Fraktionskasse. Scharping selber gibt in einer Pressekonferenz stolz diese "kostengünstige" Personalentscheidung bekannt. In Wiesbaden sind die Genossen höchst verärgert.

"Politik der ruhigen Hand"


Auch wenn Rudolf Scharping von Hause aus kein Verwaltungsjurist ist, legt er Wert auf eine korrekte Amtsführung mit Einhaltung der Dienstwege. Da wird nicht einfach locker nach politischem Gusto verordnet, sondern alles hat seine preußische Ordnung.
Was das bedeuten kann, mußte die eigene Ehefrau erleben. Jutta Scharping ist stellvertretende Elternpflegschafts-Vorsitzende am Lahnsteiner Gymnasium. Eltern und Schüler setzen sich dafür ein, daß eine Aushilfs-Lehrerin, die besonders beliebt ist und befähigt erscheint, fest eingestelltwird. Die "First Lady" des Landes schreibt einen Brief ans Kultusministerium. Staatssekretär Hofmann-Göttig, ein Freund der Familie, klärt sie darüber auf, daß auch in diesem Fall streng nach den Einstellungsvorschriften verfahren werden müsse. Auch der Hinweis, daß der Vorsitzende der Elternpflegschaft dahinter stehe und ein CDU-Mann sei, kann daran nichts ändern.
Von vornherein legt Scharping Wert auf ein starkes Amtschef-System. Das heißt, daß die Umsetzung der politischen Vorgaben den Staatssekretären und vornean dem Chef der Staatskanzlei obliegt. Scharping hat, jedenfalls in den SPD-Ressorts, alle Staatssekretäre selber ausgesucht. Er verordnet zwar nichts an den Ministern vorbei, doch er hält sie politisch an der kurzen Leine. Von ihm kommen die entscheidenden politischen Vorgaben, ob es um den Verkauf von Teilen der Landesbank oder die BASF-Sondermüllverbrennung geht. Ihm kommt zugute, daß niemand im Kabinett das Land so gut kennt wie er selbst.
Scharping sieht seine Amtsführung gerne als "Politik der ruhigen Hand" beschrieben. Geräuschlosigkeit ist sein Prinzip: erst miteinander reden, dann Beschlüsse fassen und sie gemeinsam durchsetzen. Zuhören können - auch das ist sein Geheimnis. Seine Leute sagen: Wenn zehn Leute mit zehn verschiedenen Meinungen mit ihm zusammenkommen, dann gehen sie mit einer Meinung wieder heraus. Mit Scharpings Meinung in der Regel. Ob das, was in Rheinland-Pfalz funktioniert, auch für Bonn taugt, das ist allerdings die große Frage.
Davon ausgehend, daß ein Beamter eo ipso loyal ist, hat Scharping in der Staatskanzlei die Mitarbeiter seines CDU-Vorgängers Wagner übernommen. Einige haben von sich aus um andere Verwendung gebeten, doch zwei Abteilungsleiter sind auf ihren Posten geblieben, darunter der Leiter der Abteilung 1, die für Grundsatzfragen und Personalangelegenheiten zuständig ist; er führt sogar Protokoll während der Kabinettssitzungen.
"Beamte sind weder Weichensteller noch Dienstboten der Politik", lautet Scharpings Meinung. "Es bleibt ein zentraler Anspruch, daß der Beamte vorrangig dem ganzen Staat und der ganz Bevölkerung dient, loyal und dem Gesetz verpflichtet. Der Beamte hat dieses dienstliche Engagement unter jeder Regierung zu zeigen, gleich, welcher parteipolitischen Struktur sie ist." Die Beamten haben derlei Signale aufmerksam wahrgenommen: Es gab nach der Mainzer Wende so gut wie keine "Durchstechereien" an die CDU, wie man sie zum Beispiel in Bonn nach dem Wechsel 1969 und dann wieder nach der Wende 1982 erleben konnte. Lediglich im Büro des Regierungssprechers soll es, so wird erzählt, anfangs jemanden gegeben haben, der sich als Horchposten der Union verstand.
Daß Scharping die Staatssekretäre der CDU und auch die Regierungspräsidenten in Pension schickt, ist selbstverständlich. Auf weniger Verständnis in der Öffentlichkeit stößt dann allerdings eine Entscheidung, für die sich Scharping fast anderthalb Jahre Zeit gelassen hat: die Entlassung der vier Polizeipräsidenten Alfred Weber (Trier), Helmut Wintrich (Koblenz), Rolf-Rainer Nebe (Mainz) und Werner Ochs (Kaiserslautern). "Rücksichtsloses Vorgehen gegenüber verdienten Beamten", wettert Oppositionschef Hans-Otto Wilhelm. Die Amtsinhaber hätten sich hervorragend bewährt. Scharping verweist darauf, "daß die bevorstehende Neuorganisation der Polizei eine große Herausforderung für die Landesregierung darstellt und die volle Unterstützung und Tatkraft der Polizeipräsidenten erfordert". Dazu sei ein besonderes politisches Vertrauensverhältnis notwendig, das zu den vier Polzeipräsidenten, die von früheren Regierungen als "politische Beamte" eingesetzt worden seien, nicht bestehe.
Die Antwort eines der Betroffenen, Nebe: "Mir zu unterstellen, daß ich der Schlüsselfunktion bei der Umsetzung der konzipierten Neuordnung nicht gerecht werden könnte, empfinde ich als persönliche Herabsetzung." Das öffentliche Echo ist nicht gerade positiv - wie sollte es auch sein, wenn man hochbezahlte Beamte "spazierengehen" läßt. Scharping verweist darauf, daß zwei der Betroffenen ohnehin kurz vor der Altersgrenze stünden und den beiden anderen neue Jobs in Verwaltung und Justiz angeboten würden.
Natürlich greift die Opposition die Personalvermehrung der neuen Regierung an. Allein schon die Schaffung zweier neuer Ministerien (Frauen und Wissenschaft) und die Aufwertung des Bundes- und Europaministeriums haben die Schaffung neuer Stäbe und Abteilungen nach sich gezogen. Nach CDU-Rechnung hat sich die Zahl der Mitarbeiter in den Ministerien um mehr als hundert (bei insgesamt 2.300) erhöht. Im engeren Bereich des Ministerpräsidenten habe sich die Zahl der Mitarbeiter von fünf (zu CDU-Zeiten) auf zehn verdoppelt. "Die bundespolitischen Ambitionen in der SPD binden offenbar rheinland-pfälzische Arbeitskräfte in der Landesregierung", mutmaßt die Union. Am meisten prangert sie aber an - man höre und staune -, "daß in der Staatskanzlei die Zahl der Beamten im höheren Dienst zurückgeht, während die Zahl der vergleichbaren Angestellten sich fast verdreifacht (von 7 auf 19)". Diese Ent-Verbeamtung habe "ideologische Gründe" und ermögliche zudem die Zahlung höherer außertariflicher Zulagen als bei Beamten.
Die Chuzpe der Union: Ihre letzte Regierung hatte am Ende, in Erwartung der Niederlage, etliche Mitarbeiter samt ihren Planstellen aus den Stäben in die Abteilungen versetzt, viele sogar noch in der letzten Kabinettssitzung befördert. Die politische Entscheidungsebene war also leergefegt und mußte mit neuen Planstellen aufgefüllt werden. Scharping erinnert sich: "In meinem Büro gab es weder eine Schreibmaschine noch einen Papierkorb. Alles war weg, sogar die Planstellen."
Die Stellendiskussion, letztlich ein Bumerang, ist eines von vielen Beispielen, wie schwer sich die Opposition tut, der Regierung Scharping etwas anzuhängen. Während Scharping im Sommer 1993 auf eine Halbzeitbilanz in Auftrag gibt, versucht die CDU, "zwei Jahre Regierung Scharping" kritisch unter die Lupe zu nehmen. Ihr grundsätzlicher Vorwurf: "Stil und Demokratieverständnis der Landesregierung sind geprägt von Arroganz und Machtbesessenheit." Als Beispiele werden der Umgang mit Lehrerverbänden genannt, die gegen die Erhöhung der Pflichtstundenzahl protestieren, Fristüberschreitungen bei parlamentarischen Anfragen oder ein Brief Scharpings an einen Bürger ("Der Vorwurf ist Unsinn"), der sich gegen die zivile Nutzung des Flugplatzes Hahn gewandt hatte.
Kaum ein Feld der Regierungstätigkeit, in dem die Union nichts zu monieren hätte. Ein Programm ist allerdings auch in den eigenen SPD-Reihen umstritten: Das "Landes-Überbrückungsprogramm Konversion" vom 10. März 1992. Es soll den Gebieten des Landes helfen, die vom Abzug alliierter Truppen betroffen sind. 283,6 Millionen Mark werden dafür 1992/93 in den Haushalt eingestellt. Wie auch die CDU beklagt die überwiegend betroffene Gewerkschaft ÖTV, daß sechs verschiedene Ministerien an der Mittelbewilligung beteiligt seien: "Zuviele Köche verderben den Brei."
Alles in allem läuft das Konversionsprogramm aber recht gut. Scharping hat schon gleich nach seinem Amtsantritt ohne Pressebegleitung alle wichtigen US-Standorte besucht und alte Kontakte nach Washington aktiviert. Die US-Truppen zeigen sich großzügig bei der Überlassung von Gebäuden für zivile Zwecke und lassen sogar ihre Gerätschaften im ehemaligen Mainzer Panzerwerk kostenlos zurück, damit der Betrieb mit neuen Aufgaben weitermachen kann. Schon im Dezember 1991 handelt Scharping persönlich mit dem US-Oberkommandieren die zivile Mit-Nutzung des Militärflughafens Hahn (Hunrück) an.
Seit 1. August 1993 hat in Rheinland-Pfalz jedes Kind ab drei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. So hatte es noch die CDU-FDP-Koalition zwei Monate vor der Landtagswahl beschlossen. Die neue Regierung will das Gesetz umsetzen, Sozialminister Galle erläßt die entsprechenden Verordnungen. Im Februar 1993 ist das Soll an Kindergartenplätzen fast erfüllt, ein halbes Jahr später "übererfüllt" - zumindest statistisch. Die Kehrseite der Medaille: In einzelnen Kreisen bleibt zunächst eine deutliche Unterversorgung bestehen. Knappe Kassen, aber auch Mangel an geeignetem Personal (das zudem teuer ist) machen die Erfüllung des Rechtsanspruchs zu einem Drahtseilakt.
Ärger bekommt die neue Koalition auch mit dem Personalvertretungsgesetz, das sie Ende 1992 beschließt. Es sieht weitreichende Mitbestimmungsrechte der Personalvertretungen in den Behörden vor. Nach Ansicht der CDU widerspricht das dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, wonach alle Gewalt vom Volke ausgeht. CDU-Fraktionschef Hans-Otto Wilhelm, selbst einmal als Mann der Sozialausschüsse ein Befürworter von mehr Mitbestimmung, reicht eine Klage beim Verfassungsgerichtshof des Landes ein.
Gleichwohl arbeitet die sozial-liberale Koalition im großen und ganzen reibungslos. "Stell dir vor, es ist Regierungswechsel, und keiner hat es gemerkt", mokiert sich Gisela Bill von den Grünen. Da hätten sich zwei gesucht und gefunden. Allerdings hat der kleinere Partner FDP so seine Profilierungsprobleme. Es tut schon weh, wenn die "Wirtschaftswoche" schreibt: "Nicht der liberale Wirtschaftsminister Brüderle bestimmt die Richtlinien der Wirtschaftspolitik, sondern Scharping persönlich. Brüderle verhindert bestenfalls etwa das sozialdemokratische Begehren nach höherer Besteuerung von Spielautomaten." Es bleibt nicht verborgen, daß Scharping Wirtschaftsführer zum Gespräch über seine "Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz" einlädt, während Brüderle (mal wieder) auf Auslandsreise ist.
Justizminister Peter Cäsar weist, als das erste Jahr vorüber ist, denn auch diskret darauf hin, daß Scharping mit seiner "All-Präsenz" seinen Stellvertreter und Wirtschaftsminister gelegentlich erdrücke. Meinungsumfragen, bei denen die Liberalen nur knapp über der Fünfprozentmarke dümpeln, sorgen für gelegentliche Nervosität beim kleineren Partner. Scharping reagiert. Er tritt zwar weiter selber bei wirtschaftspolitischen Ereignissen auf, lobt aber immer wieder Brüderle und achtet darauf, daß er an seiner Seite ist. Als am 17. August 1993 auf einer Pressekonferenz in Mainz die Firma Opel zusammen mit der Landesregierung den Bau eines Dieselmotorenwerks in Kaiserslautern verkündet, stellt Scharping Brüderle so sehr in den Vordergrund, daß ihm wohlmeinende Ratgeber hinterher sagen: "Übertreiben solltest du es nun auch nicht."

Kurt Beck

Der nächste Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz soll Kurt Beck heißen. Er kam vier Jahre nach Scharping in den Landtag, und als Scharping 1985 Fraktionsvorsitzender wurde, rückte der gut ein Jahr jüngere Beck als Fraktionsgeschäftsführer auf.
Die bärtigen Freunde sind nach landsmannschaftlicher Herkunft und Ausbildungsweg völlig unterschiedliche Typen. Beck kommt aus der entgegengesetzten Ecke des Landes, aus der Südpfalz, hart an der französischen Grenze. Er hat nicht, wie Scharping, studiert, sondern zuerst die Volksschule absolviert und den Realschulabschluß nachgeholt. Er ist Elektro-Facharbeiter, Spezialist für Elektronik. Als Zivilangestellter beim Heeresinstandsetzungwerk der Bundeswehr in Bad Bergzabern tätig, engagiert er sich in der ÖTV, wird freigestellter Personalrat als Vertrauensmann für 18 000 Beschäftigte und organisiert 1974 den ersten Streik von Zivilbeschäftigten der Bundeswehr. Über das gewerkschaftliche Engagement kommt er zur SPD.
Wie Scharping ist auch Beck in der Kommunalpolitik aktiv, übt sogar noch als Fraktionschef in Mainz gleichzeitig das Amt des ehrenamtlichen Bürgermeisters seiner Heimatgemeinde Steinfeld mit ihren 1 800 Einwohnern aus. Erzielte die SPD dort 1971 ganze 40 SPD-Stimmen, fehlen Beck zwanzig Jahre später bei der Landtagswahl nur zwei Stimmen zur Zweidrittelmehrheit.
"Bodenständig" heißt das Attribut, das auf Beck gleichermaßen zutrifft wie auf Scharping. Auch er versteht sich als "Realpolitiker".