F Der Weg zum SPD-Chef

Erste Schritte in der Bundespartei

Für die deutsche Einheit

Mainzer Signale in Richtung Bonn

Klare Linie beim Asyl

Der "Asylparteitag" von Bonn

Kompetenzbeweis beim Solidarpakt

Ein neuer Stern ...

Das Ende der Ära Engholm

Parteivorsitzende(r) gesucht

Die Basis hat das Wort

Business as usual

Sympathiewerbung in Ostdeutschland

 

 

Gute und schlechte Noten

Ein spannender Wahlabend

Der Kampf geht weiter: Kanzlerkandidatur

Die Zähmung des Oskar Lafontaine

Wahlkonvent in Essen

Das Versprechen Helmut Schmidts

Erste Wegweisungen

Erste Entscheidungen

Schlagabtausch mit dem Kanzler

Konflikte

Nicht nur Freunde...

 

 

 


Erste Schritte in der Bundespartei


Es dauert lange, bis Scharping einen Fuß auf die bundespolitische Bühne seiner Partei setzt. 1977, in Hamburg, ist er zum ersten Mal Bundesparteitags-Delegierter. Der Parteitag wird überschattet vom plötzlichen Herztod seines Mentors Wilhelm Dröscher.
1979, in Berlin, ist Scharping wieder dabei. Erst auf dem Nürnberger Parteitag 1986, auf dem er als Spitzenkandidat der bevorstehenden Landtagswahl nach dem üblichen Ritual zum Tagungspräsidium gehört, damit sich die Scheinwerfer auf ihn richten, ergreift er das erste Mal das Wort. Er begründet einen Initiativantrag, bei dem es um den Abzug der Chemiewaffen, die Einstellung von Tiefflügen über dicht besiedeltem Gebiet, den Stopp der Stationierung von Marschflugkörpern und um gleiche Rechte für Zivilbeschäftigte bei den Alliierten geht. Der Antrag wird angenommen.
Eine stärkere Rolle in der Bundes-SPD spielt Scharping von Amts wegen erst seit 1984: mit seiner Wahl zu einem der 22 SPD-"Bezirksfürsten". Damit gehört er auch dem Parteirat, dem höchsten Beratungsgremium zwischen den Parteitagen, an. Ein Jahr später, als Fraktions- und Landesparteichef, ist er auch sonst bei wichtigen Entscheidungen der Bundespartei dabei.
Die eigentlichen Weihen soll er jedoch erst Ende August/Anfang September 1988 auf dem Bundesparteitag in Münster erhalten, wo er für den Parteivorstand kandidiert. Bis dahin hatte er seinem Vorgänger Hugo Brandt den Vortritt gelassen. Es ist der Parteitag, an dem zum ersten Mal nach dem Quotensystem gewählt wird. Scharping selber hatte die heiß umkämpfte Frauenquote abgelehnt, denn er hält sie "für zu bürokratisch, um ein unbestrittenes Ziel zu erreichen". Er sieht "viele Frustrationen" auf die Parteigliederungen zukommen. "Wie soll man neuen oder jüngeren Mitgliedern erklären, daß man Frauen und Männer in einer gemeinsamen Partei auf getrennten Listen wählt - und danach noch einmal auf einer gemeinsamen Liste?" Er kritisiert den Opportunismus jener, die sagen "eigentlich sind wir ja dagegen, aber der Druck war zu groß".
Ahnungsvoll sagt er unmittelbar vor dem Parteitag in einem Interview: "Ich kandidiere, obwohl ich meine Chancen sehr skeptisch sehe. Meine offenen Worte haben meine Chancen sicher nicht verbessert. Ich hoffe aber, daß nicht nur die Quote ein Entscheidungskriterium ist."
Aus seiner Meinung macht er auch in der Grundsatzdebatte kein Hehl. "Es ist ein Ideal aufklärerischer Politik, daß Kriterien wie beispielsweise die der Konfession oder des Geschlechts bei Wahlentscheidungen eigentlich keine Rolle spielen sollten... Deshalb haben wir (der Bezirk Rheinland/Hessen-Nassau - d. Verf.) vorgeschlagen, es jeder Organisationsgliederung selbst zu überlassen, auf welche Weise sie dem Ziel einer Gleichstellung von Männern und Frauen in der Politik gerecht werden... Es gibt in ganz Europa keine sozialdemokratische Partei, die für das Wahlverfahren eine solche Quotierung beschlossen hat."
Bei der Vorstellung der Kandidaten nimmt's Scharping von der ironischen Seite: "Ich heiße Rudolf Scharping. Ich bin 40 Jahre alt, Vorsitzender der SPD in Rheinland-Pfalz. Ich bin verheiratet und habe drei Töchter." Das Protokoll verzeichnet "Heiterkeit", auf die er schlagfertig reagiert: "Ich bin an der Quote deswegen interessiert, weil ich den familiären Minderheitenschutz brauche."
Im ersten Wahlgang bekommt er nur 138 von 429 abgegebenen Stimmen. Im zweiten Wahlgang fällt er erst recht durch: 93 von 420 Stimmen. Trotzdem versucht er es im dritten, nicht "quotierten" Wahlgang, in dem noch acht Plätze zu vergeben sind, erneut und erzielt diesmal mit 302 von 400 abgegebenen Stimmen das beste Ergebnis der 14 verbliebenen Kandidaten.
"Einstimmig" lautet ein anderes Ergebnis für Scharping: Er hat namens des Bezirks Rheinland/Hessen-Nassau eine Resolution eingebracht, die eine Reaktion ist auf die erst wenige Wochen zurückliegende Katastrophe von Ramstein ist. Der SPD-Parteitag folgt seiner Empfehlung, den Verzicht auf derartige militärische Schau-Veranstaltungen und auf die Tieffliegerei überhaupt zu verlangen. "Viele, die gemahnt und gewarnt haben, sind mit übler Polemik überzogen worden", sagt er in seinem kurzen Redebeitrag. "Das Risiko ist auf eine unverantwortliche Weise verharmlost worden. Deshalb besteht unsere politische Verantwortung auch darin, einen klaren Kurs auch gegen Widerstände und Gegenwind durchzuhalten." Den Begriff "politische Verantwortung" benutzt er gleich dreimal und warnt davor, den Vorgang politisch auszuschlachten.
Der in Münster neugewählte Parteivorstand vertraut dem Neuling sofort den Vorsitz der jugendpolitischen Kommission an, die er zwei Jahre leitet. Neben einem jugendpolitischen Programm stellt er eine Jungwählerstudie vor. Zusammenfassend sagt er dazu: "Die SPD muß wissen: Einen größeren Teil der Jugend kann sie nur gewinnen, wenn sie Politik versteht als Durchsetzung von Werten und Idealen, als Übereinstimmung von Denken, Reden und Handeln und nicht als Verwaltung des Sachzwangs."
1988 wird Scharping außerdem Vorsitzender des Sportbeirates der SPD.

Für die deutsche Einheit


Scharping unterstützt sehr früh Lafontaines Kanzlerkandidatur. Er rät ihm auch zum Weitermachen nach dem Attentat Ende April 1990. Aber er setzt sich auch von ihm ab, als es um den Prozeß der deutschen Einheit geht. Schon am Rande des SPD-Bundesparteitages im Dezember 1989 distanziert er sich in einem Gespräch mit der "Rheinpfalz" von Lafontaine, der sich in einer Rede gegen schnelle Vereinigungswünsche gewandt hatte. Scharping ist in dieser Frage auf der Seite von Willy Brandt, der gesagt hat, die deutsche Einheit sei näher, als dies vor kurzem noch erwartet werden konnte. In der SPD liefen noch einige mit dem Brett der Zweistaatlichkeit vor dem Kopf herum, sagt Scharping.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr vom Berliner Parteitag lädt Scharping in Mainz Kirchen, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und Vertreter von Städten, die DDR-Partnerstädte haben, zu einem Gespräch darüber ein, was man sechs Wochen nach dem Fall der Mauer für die Menschen in der DDR tun könne. Das Ergebnis teilt er Ministerpräsident Wagner in Form eines Katalogs konkreter Hilfevorschläge mit. Alle Maßnahmen, so fordert er, sollten nicht nur mit der Regierung Modrow, sondern auch mit Reformgruppen, neuen Parteien und den "runden Tischen" abgestimmt werden.
Als Lafontaine im Juni 1990 vorschlägt, die SPD solle den ersten Staatsvertrag mit der Regierung de Maizière im Bundestag ablehnen, ihm im Bundesrat aber zustimmen, hält Scharping das "für schwer vermittelbar, weil es aussieht wie Taktik". Seine Linie: "Wir wollen die Einheit, wir wollen sie unter sozial gerechten und wirtschaftlich vernünftigen Bedingungen." Aber auch er kritisiert den Staatsvertrag, und was er Ende Mai 1990 in einem Interview mit der "Rhein-Zeitung" sagt, soll sich später bitter bewahrheiten: "Die DDR-Wirtschaft wird ins kalte Wasser geworfen, ohne Übergangsfirsten, ohne Anpassungshilfen. Das wird vermutlich zu einer ziemlich hohen Arbeitslosigkeit in der DDR führen."
Auf dem Bundesparteitag Ende Mai 1991 in Bremen, auf dem Björn Engholm zum Parteichef gewählt wird, ist Scharping der frischgebackene Ministerpräsident, der viele Lobeshymnen hört, sich selber aber zurückhält. Er redet nur einmal - zum Thema Bundeshauptstadt. Natürlich ist er als Regierungschef eines Landes, das gleich südlich der Stadtgrenze von Bonn beginnt, gegen einen Umzug nach Berlin.
"Ich bin bei weitem nicht so entschieden und entschlossen, wie manche das mit ihren Worten deutlich machen, sondern eher zögerlich, weil ich weiß, daß manche sagen: Jetzt kommen die mit ihrem Besitzstand, mit ihrer eingerichteten Behaglichkeit, mit ihren gewohnten Bahnen und wollen das verteidigen, zögerlich auch, weil ich um das Risiko der Enttäuschung weiß, und zwar auf beiden Seiten", beginnt Scharping seinen Beitrag, der auf einen sehr emotionalen Appell von Wolfgang Thierse für Berlin folgt. An ihn gerichtet sagt er: "Im Kern ist es nicht eine Debatte über Zuwendung, nicht eine Frage des Symbols, ob man sich wirklich einander gegenüber solidarisch verhält. Ich glaube, im Kern ist das eine Debatte über die Frage: Welches Bild haben wir von unserem Land, und wie soll es in Zukunft aussehen?" Wenn Bonn von manchen als die typische deutsche Provinz bezeichnet werde, gebe er zu bedenken, "daß in Zukunft die sogenannte Provinz eher ein Vorteil sein wird, weil sie für den Ausgleich zwischen pulsierender Kraft und Kreativität der Metropolen und dem Leben vieler Menschen gebraucht wird und weil wir nicht umsonst vom Europa der Regionen reden".
Bonn sei für ihn Ausdruck für Föderalismus - "das meint immer Teilung von Macht". Bonn sei für ihn auch ein Begriff für Zurückhaltung, für Bescheidenheit, für Funktionsfähigkeit. Es gehe auch darum, "daß jede dieser Entscheidungen auch Kosten verursacht und daß man prüfen muß, ob man nicht nur für Berlin, aber auch für Dresden, Leipzig, Erfurt, Halle, Rostock und viele andere mit diesem Geld nicht bessere und wirkliche Zeichen der Zuwendung setzen könnte als mit dem, was dann in Berlin verwendet wird".
Er wolle in keiner Weise gegen Berlin sprechen, aber: "In einer zögernden, vorsichtigen Abwägung der Vorteile und der Nachteile einer solchen Entscheidung komme ich zu dem Ergebnis, daß am Ende beiden Seiten besser geholfen werden kann, wenn es bei Bonn als Sitz von Regierung und Parlament bleibt." Und so entscheidet auch der Parteitag - mit nur einer Stimme Mehrheit.

Mainzer Signale in Richtung Bonn


Scharping ist noch kein Jahr als Ministerpräsident im Amt, als es die ersten Spekulationen über seine bundespolitischen Ambitionen gibt. Als er in einem Rundfunkinterview auf die Frage, ob er sich für die Kanzlerkandidatur interessiere, antwortet, "allenfalls nach 1996", wird das sofort als Signal verstanden: Hier will einer noch höher hinaus.
Zunehmend zeigt er in Bonn die landpolitischen Zähne. Im Februar 1992 droht er mit einer Verfassungsklage gegen das neue Steuerpaket der Bundesregierung, weil die alten Bundesländer zwei Jahre lang nichts aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer bekommen sollen. Bei allem Verständnis für die Schwierigkeiten im Osten - auch in einem Land wie Rheinland-Pfalz, wo 40 000 Menschen direkt vom Truppenabzug betroffen seien, gebe es Probleme.
Ebenso wie Lafontaine droht Scharping im März 1992 damit, im Bundesrat den EG-Vertrag von Maastricht abzulehnen. Ein "Mehr an Europa" solle hier durch ein "Weniger an Demokratie" erkauft werden. Der Föderalismus in Detuschland dürfe nicht von Brüssel her aufgeweicht werden, andererseits müsse das Europäische Parlament endlich mehr Rechte bekommen, damit es seinen Namen verdient. Und: Nicht der Ecu, sondern eine europäische Mark solle Grundlage einer stabilitätsorientierten Währungsunion sein.
Als im Frühjahr die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst festgefahren sind und es am Ende zu Streiks kommt, mischt sich Scharping mit einem unkonventionellen Vorschlag ein: 3000 Mark im Jahr mehr für alle - vom Pförtner bis zum Minister. Daraus wird zwar nichts, aber er hat einen Stein ins Wasser geworfen.
Während sich in Bonn die Koalition noch streitet, wie die geplante Pflegeversicherung ausgestaltet werden soll, ist man in Mainz schon weiter: SPD und FDP sind sich einig, daß es eine Solidarversicherung nach dem Vorbild der Renten- und Krankenversicherung werden soll, mit Pflichtgrenzen, über die hinaus sich jeder privat versichern kann.
Immer deutlicher meldet sich Scharping ab Mitte 1992 auch in der Bundespartei zu Wort. Er fordert die Parteiführung auf, ihren "Willen zum Regieren" klarzumachen. "Wir reden mehr über das Marketing von Politik als über die Sache selber", kritisiert er. "Wir bieten streckenweise ein diffuses Bild und zu wenige Konturen." Der Parteiführung fehle die Bereitschaft zur Teamarbeit, jeder rede zu allem. Seine Forderung: Bis Ende 1992 müsse ein Regierungsprogramm stehen, und auch "ein paar Kernfiguren müssen schon sichtbar werden". Engholm habe hierbei das erste Wort, und davon werde er hoffentlich "rechtzeitig und nicht erst in den letzten Monaten vor der Bundestagswahl Gebrauch machen".
Noch im Herbst 1991, als Engholm sich nicht festlegen wollte, ob er denn auch Kanzlerkandidat werden wolle, hatte Scharping eine andere Linie vertreten. "Ich habe hier einen großen Zettel, auf dem steht: Über die Kandidatur entscheiden wir 1994... Engholm und Lafontaine werden sich verständigen. Wegen der Wahl 1990 ist Oskar nicht aus dem Rennen."
Doch Anfang 1992 erhebt Engholm seinen Anspruch auf die Spitzenkandidatur 1994. Scharping verlangt nun auch von der SPD-Bundestagsfraktion eine "härtere Gangart". Deutlicher als bisher müsse die SPD für die "Wahrnehmung sozialer Probleme" sorgen. Und sie müsse über die "längerfristige Zukunftslinie" nachdenken. Die Ansatzpunkte beschreibt er in einem FAZ-Interview: "Alle westlichen Demokratien stehen vor der Aufgabe, ihre Zukunft neu zu bestimmen, eine neue Vision zu formulieren. Das kann auch von einer Partei wie der SPD deutlich stärker forciert werden. Das Rüstzeug haben wir. Ein sicheres Deutschland in einem freien Europa, sozial gerecht im Innern, ökologisch konsequent und hilfsbereit gegenüber den Schwächeren und Ausgebeuteten."

Klare Linie beim Asyl


Ende August 1992 treffen sich führende SPD-Politiker, die am neuen Regierungsprogramm arbeiten, im Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg bei Bonn. Engholm ist entschlossen, die SPD aus der programmatischen Sackgasse herauszuholen, in die sie in der Frage der Blauhelm-Einsätze, vor allem aber in der Asylpolitik geraten ist.
Die asylpolitischen Empfehlungen von Petersberg führen zu heftigsten Debatten in der Partei, weil der Weg zu einer Grundgesetz-Ergänzung geöffnet werden soll, mit der ein weiterer Mißbrauch des Asylrechts eingedämmt und der Rechtsweg beschleunigt werden kann. Der Artikel 16 ist bisher für die SPD tabu gewesen. "Einer mußte die Reißleine ziehen, auch auf die Gefahr hin, daß wir gewaltig Prügel bekommen", rechtfertigt Engholm den Vorstoß. Sieben Bezirksverbände erteilen den "Petersberger Beschlüssen" eine Absage und verlangen einen außerordentlichen Parteitag, der schließlich für den 16. November nach Bonn einberufen wird.
Engholm und andere haben eingesehen, daß die ungehemmte Zuwanderung von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert wird. Für 1992 tendiert die Zahl neuer Asylbewerber auf die halbe Million hin. Vor allem Roma und Sinti aus dem zerfallenden Jugoslawien und aus Rumänien werden zum Problem. Gerade auch als Ministerpräsident eines kleinen und armen Landes ist Engholm allmählich am Ende seines Lateins. Bemerkenswert an den "Petersberger Beschlüssen" ist, daß der eigentliche Knackpunkt mit der Grundgesetzänderung gar nicht expressiv verbis im Text steht, sondern von Engholm so gegenüber der Presse präzisiert wurde.
Scharping hatte sich schon am 10. November 1977 als junger SPD-Abgeordneter im Landtag von Rheinland-Pfalz mit der Ausländer- und Asylpolitik auseinandergesetzt. Obwohl es damals um weit geringere Größenordnungen geht - insgesamt leben damals zwei Millionen Ausländer in der Bundesrepublik, und 1976 waren ganze 11 123 Asylanträge gestellt worden -, redet man bereits über "Beschleunigung des Verfahrens" und die "Ausschaltung von Mißbrauch". Scharpings spezielle Kritik gilt dem schleppenden Aufnahmeverfahren für politisch Verfolgte in Chile, die von dort aus den Gefängnissen heraus Asylanträge gestellt haben. Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg haben eigene Sicherheitsüberprüfungen angeordnet, ungeachtet der Visa-Erteilung durch das Auswärtige Amt. Scharping: "Die Maßstäbe des Artikels 16 GG, nämlich des Asylrechts, sollten nach unserer Auffassung unteilbar sein. Sie dürfen nicht durch Länderpraxis ausgehöhlt werden."
Scharping sagt aber auch dies: "...daß wir die erheblichen Probleme nicht verkennen, die sich aus einem möglichen Mißbrauch auch von Rechten für Ausländer in der Bundesrepublik ergeben können. Wir verkennen nicht, daß es erhebliche soziale, kulturelle, wirtschaftliche und andere Folgeprobleme aus diesem Mißbrauch geben kann. Aber lassen Sie mich hinzufügen, daß diese Feststellung natürlich doppelt gilt. Sie gilt für einige wenige Ausländer in der Bundesrepublik, über die man sicherlich nicht streiten muß; sie gilt aber vor allen Dingen... für diejenigen deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die die wirtschaftliche und soziale Not von ausländischen Staatsangehörigen, insbesondere von angeblich illegal eingereisten, ausnutzen für ihren eigenen wirtschaftlichen Vorteil."
1990, als die Einreise sowjetischer Juden nach Deutschland zum Streitpunkt geworden ist, sagt Scharping zwar deutlich: "Das Recht auf politisches Asyl darf nicht angetastet werden. Es steht jedem politisch Verfolgten zu, unabhängig von Nationalität oder Religion." Andererseits fürchtet er, eine pauschale Einladung an ganze Bevölkerungsgruppen verschärfe die sozialen Verteilungskämpfe auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. "Verantwortlich ist eine Einwanderungspolitik, die Vorsorge gegen soziale Konflikte betreibt und alle verfolgten Menschen gleich behandelt, ohne Rücksicht auf Hautfarbe, Religion oder Nationalität."
Im Dezember 1991 schreibt er im "Vorwärts" (Rheinland-Pfalz-Ausgabe), das Grundrecht auf politisches Asyl sei "eine Errungenschaft unserer Demokratie". Aber: "Das Grundrecht auf politisches Asyl ist - sowohl seinem Sinn nach als auch faktisch - nicht geeignet, Flüchtlingsströme zu steuern... Die Zuwanderung muß von der Fähigkeit der Integration ausgehen... Ohne klare Regelungen werden wir die gegenwärtigen Probleme nicht meistern... Wer das Asylrecht bewahren will, muß dafür sorgen, daß es nicht ausgehöhlt wird."
Es ist also folgerichtig, wenn er den von Engholm eingeleiteten Umdenkungsprozeß unterstützt. Auf dem Petersberg ist er nicht dabei gewesen, weil er wegen der späten Ferien in Rheinland-Pfalz noch Urlaub gemacht hat. Aber im n achhinein fühlt er sich bestätigt: "Ich habe im Sommer ein wesentlich offensiveres Verständnis von sozialdemokratischer Politik eingefordert", sagt er im RIAS. "Daß das Thema Zuwanderung und Asylrecht in der SPD intensiv und auch kontrovers diskutiert wird, hat mit dem historischen Stellenwert des Asylrechts zu tun. Allerdings muß sich die SPD der Realität stellen, und diese Realität ist von einem starken Mißbrauch des Asylrechts gekennzeichnet." Nur wenn man das Asylrecht für die tatsächlich politisch Verfolgten reserviere, könne es überhaupt gerettet werden.
Gegen den Vorwurf, die SPD gebe dem Druck der Straße nach, sagt er: "Es ist weder der Druck der Straße noch der Druck aus dem sogenannten rechten politischen Lager; es ist der Druck der tatsächlichen Verhältnisse." Fünf Wochen vor dem Parteitag sagt er voraus, "daß es in der Sache eine klare Entscheidung geben wird, die es dann der Bundestagsfraktion ermöglicht, mit der Bonner Regierungskoalition eine Zuwanderungspolitik insgesamt und unter Einschluß des Asylrechts zu formulieren und zu vereinbaren". Wenn die SPD Nein sage, laufe sie Gefahr, ihre politische Basis in erheblichem Umfang zu verkleinern.
Auf die Frage: "Was ist, wenn Engholm ein Nein auf dem Parteitag erhält", sagt er der "Neuen Presse": "Darüber denke ich nach, wenn es eintritt." Spekulationen über das "Was ist wenn?" gibt es gleichwohl genug in diesen Tagen. Engholm selbst sagt in einem Interview, bei einem Nein des Parteitages "würde ich zwar immer noch gern Kanzler werden wollen, könnte es aber objektiv nicht mehr". Als mögliche Engholm-Nachfolger werden bereits Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und Rudolf Scharping gehandelt.
Als Ministerpräsident hat Scharping die Möglichkeit, jederzeit im Bundestag reden zu können - für so manchen Länderchef eine bevorzugte Bühne, sich bundespolitisch zu profilieren. Scharping hat es damit nicht eilig. Erst als er schon fast anderthalb Jahre im Amt ist, spricht er zum ersten Mal im Bonner "Wasserwerk" (und es soll auch in den ersten zwei Jahren seine einzige Bundestagsrede bleiben). Anlaß: Bundeskanzler Helmut Kohl hat angesichts der ansteigenden Asylbewerberzahlen vom "Staatsnotstand", die CSU gar von einem "Asylsicherungsgesetz" gesprochen. Die SPD erzwingt daraufhin für den 4. November 1992 eine Aktuelle Stunde im Bundestag.
Die Bundestagsfraktion hat Scharping gebeten, das Wort zu ergreifen. Sein Beitrag wird der wichtigste und meistbeachtete in dieser Debatte, weil er nicht nur auf einige konkrete Problem der Zuwanderung eingeht, sondern sich sehr grundsätzlich äußert. Die Politikverdrossenheit der Bürger habe auch damit zu tun, "daß die Politik eine manchmal völlig maßlose Sprache entwickelt und daß der Sinn für Maß und gedankliche Disziplin verlorengeht".
An die Adresse des Kanzlers sagt er, nach jedem Satz vom Beifall der SPD, aber auch der Abgeordneten von Bündnis 90/Grüne und der PDS unterbrochen: "Wenn das ein Notstand ist, was ist denn dann die wachsende Arbeitslosigkeit in diesem Land? Wenn das ein Notstand ist, was ist denn dann der wachsende Wohnungsmangel in diesem Land? Wenn das ein Notstand ist, was ist denn dann die wachsende organisierte Kriminalität in diesem Land? Wenn das ein Notstand ist, was ist denn dann die Explosion der Staatsverschuldung, die Sie herbeigeführt haben, obwohl Sie das Gegenteil versprochen haben?"
Die CDU wird zunehmend nervös. "So was Scheinheiliges" - mehr als dieser Zwischenruf fällt ihrem Fraktionsgeschäftsführer Jürgen Rüttgers nicht ein.
Mit diesem Redebeitrag hat Scharping zugleich den Anspruch erhoben, bei den anstehenden Allparteiengesprächen über die Neuregelung des Asylrechts mitreden zu können. Das tut er dann auch. Der Parteitag ist die nächste Gelegenheit.

Der "Asylparteitag" von Bonn


Eng ist die Beethovenhalle in Bonn, zu eng für diesen mit Emotionen begleiteten Parteikongreß. Autonome Gruppen haben Aktionen angedroht, die Jusos wollen stören. Das Gelände wird abgeriegelt, nur nach doppelter Kontrolle werden Delegierte, Gäste und Journalisten eingelassen. Dabei ist die Luft aus dem Asylthema eigentlich längst raus. Vor dem Parteitag haben sich die verschiedenen Seiten auf gemeinsame Formulierungen geeinigt. Es geht nur noch um einige Änderungsanträge. Das Asylkapitel ist nur ein Teil eines "Sofortprogramms", aber der, um den sich der Parteitag dreht.
Scharping läßt in seinem Redebeitrag den Verlauf der Debatte kritisch Revue passieren: "Wir haben durch unser eigenes Verhalten dazu beigetragen, daß die Debatte über die Zuwanderung auf das Asylrecht verkürzt werden konnte. Wir haben durch unser eigenes Verhalten dazu beigetragen, daß konservative Kräfte das Asyl zum Fokus für alle wirtschaftlichen und sozialen Fragen mißbrauchen konnten." Er kommt auf den Mißbrauch der Sozialhilfe durch Asylbewerber zu sprechen und nennt es "fahrlässig, wenn wir uns dieser Debatte nicht stellen würden. Denn den Sozialstaat kann man nicht nur dadurch schützen, daß man gegen diejenigen, die ihn abbauen, kämpft. Man muß ihn auch dadurch schützen, daß man gegen solche, die ihn mißbrauchen, kämpft."
Scharping kritisiert zwar indirekt Engholm, wenn er sagt, "Zählappelle stellen Menschen an den Pranger" (Schleswig-Holstein hatte solche Zählappelle bei Asylanten durchgeführt), weiß aber gleichfalls zu berichten, daß bei Überprüfungen (hier wurde eine eigens eine Ermittlungsgbruppe geschaffen) auch in Rheinland-Pfalz Fälle von Sozialhilfe-Mißbrauch in Form "von fünf- bis sechs- und siebenfachem gleichzeitigem Bezug" festgestellt worden seien. "Wenn wir uns nicht auch dieser Realität des Themas stellen, dann würden wir ein schweres Versäumnis begehen."
Die Botschaft des Parteitages, so Scharping in seinem mehrfach von breitem Beifall unterbrochenen Beitrag, solle sein, "daß die gegenseitige geistige und politische Blockade der beiden großen Volksparteien aufgehoben werden könnte". Ein Teil der Diskussion, so sagt er an anderer Stelle, sei "durch den Verdacht belastet worden, man wolle ja möglicherweise andere Koalitionen vorbereiten". Er sage "auch mit Blick auf 1994: Wir schädigen unsere Möglichkeiten, wenn wir irgendeine Form von Koalitionsdiskussion zulassen".
Der Parteitag gibt am Ende grünes Licht für Gespräche mit der Regierung und den Regierungsparteien über eine Neuregelung des Asyl-Grundrechts. Der Grundsatz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" wird nicht zur Disposition gestellt. Aber "Klarstellungen und Ergänzungen" sollen den Mißbrauch verhindern und zugleich eine Einordnung in ein europäisches Aslyrecht möglich machen.
An den Verhandlungen mit CDU/CSU und FDP ist auch Scharping beteiligt. Sie werden schwierig. Die SPD besteht auf der Rechtswegegarantie, darauf, daß das Asylrecht als individuelles Recht bestehen bleibt. Am hartnäckigsten bleibt Gerhard Schröder, wohl auch nicht zuletzt deshalb, weil er eine Koalition mit den Grünen zu vertreten hat.
Scharping setzt sich in der Nacht zum 6. Dezember hin, stellt eine Synopse über das zusammen, was die beiden Seiten eint, was sie trennt und wo man den Kompromiß finden könnte. Und es kommt zur Einigung. Regierung und CDU haben es allerdings geschickt verstanden, sie als ihren Erfolg in der Öffentlichkeit zu verkaufen. Scharping, unzufrieden mit der eigenen Pressepolitik, läßt über die Parteizentrale eine Synopse der Parteitagsbeschlüsse und des Verhandlungsergebnisses verbreiten, die zeigen soll, "daß die Forderungen der SPD in zahlreichen Punkten das Verhandlungsergebnis maßgeblich prägen".

Kompetenzbeweis beim Solidarpakt


Das nächste bundespolitische Thema, bei dem der rheinland-pfälzische Ministerpräsident zeigen kann, daß er bundespolitisch mitmischt, ist der von der Bundesregierung geplante "Solidarpakt", bei dem es im Kern allein ums Geld geht: um massive Einsparungen vor allem bei den Leistungsgesetzen. Scharping meldet schon frühzeitig seinen Widerstand gegen die Pläne von Bundesfinanzministers Theo Waigel an. "Die Vorschläge des Bundesfinanzminister sind genauso untauglich wie andere herumgereichte Modelle", sagt er Ende November 1992 in einem Interview der "Wirtschaftswoche". Er wendet sich vor allem dagegen, daß die alten Bundesländer zu Gunsten der neuen geschröpft werden: "Die Finanzkraft der westlichen Bundesländer zu ermorden, hilft am Ende niemandem, auch den östlichen Bundesländern nicht."
Sein Alternativkonzept: "Erstens Ausgabendisziplin, zweitens Stärkung der Investitionen durch Einfrieren und Umschichten konsumptiver Ausgaben, und erst an dritter Stelle steht die Frage der Einnahmeverbesserung." In der "" sagt er: "Die Vorschläge der Bundesregierung sind ausschließlich davon gekennzeichnet, daß sie im sozialen Bereich einsparen will, beim Wohngeld, beim Kindergeld, bei der Ausbildungsförderung, bei der Sozialhilfe." Es habe keinen Sinn, dort zu kürzen, wo man Menschen unter das Existenzminimum drücken würde, zum Beispiel bei der Sozialhilfe.
Anders als Parteichef Engholm, der den Solidarpakt schon als gescheitert sieht, ist Scharping für weitere Verhandlungen. Nachdem, nicht zuletzt durch eine mißlungene Pressekonferenz des offiziellen Solidarpakt-Beauftragten Oskar Lafontaine, der Eindruck entstanden ist, die SPD habe kein Konzept, legt Scharping am 8. Februar 1993 dem Parteipräsidium ein Konzept zur Streichung von 29 Milliarden Mark vor, das mit Lafontaine und NRW-Finanzminister Heinz Schleußer abgestimmt ist. Ein wichtiger Punkt dieses Alternativkonzepts zum "Föderalen Konsolidierungsprogramm" der Koalition: Statt, wie bisher gefordert, sofort wieder eine Ergänzungsabgabe einzuführen, ist jetzt auch die SPD der Meinung der Regierung, man solle aus konjunkturpolitischen Gründen erst 1995 an diese Maßnahme denken. Das dann hereinkommende Geld solle in einen "Deutschland-Fonds" fließen, um daraus die Schulden aus der deutschen Einigung zu bezahlen.
Aus konjunkturellen Gründen soll nach dem Scharping-Plan die notwendige Konsolidierung der öffentlichen Finanzen zeitlich in zwei Schritten vorgenommen werden - in einer ersten Phase vorrangig durch Abbau steuerlicher Subventionen, Einschränkung von Finanzhilfen und von Ausgaben des Bundes und der Länder, und erst in einer zweiten Phase durch gezielte steuerliche Einnahmeverbesserungen. Der Ausbau der Infrastruktur in den neuen Ländern soll durch ein mindestens zehnjähriges Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIP) von je zehn Milliarden DM gesichert werden. Insgesamt sollen rund 29 Milliarden DM zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte aufgebracht werden. "Dabei werden Kürzungen im sozialen Bereich abgelehnt und durch alternative Vorschläge ersetzt", heißt es im Scharping-Plan, der dann Grundlage für die Verhandlungen mit der Bonner Regierungskoalition ist, die auf die Zustimmung der Länder im Bundesrat angewiesen ist.
Es kommt zu harten Verhandlungen im Bundeskanzleramt, und immer wieder tagen Arbeitsgruppen der Finanzminister und anderer Experten. In den großen Runden zeigt sich einer besonders gut präpariert: der rheinland-pfälzische Ministerpräsident. Scharping akzeptiert die Rechnungen, die Finanzminister Waigel aufmacht, nicht so einfach. In der Tat stellt es sich heraus, daß er rund 10 Milliarden Mark auf der Haben-Seite des Bundes schlicht vergessen hat.
Scharping profitiert nicht nur von seiner eigenen schnellen Auffassungsgabe, sondern auch von seinen Mainzer Personalentscheidungen: Finanzminister Edgar Meister erweist sich als wahrer Fachmann, im Hintergrund aber steht Thilo Sarrazin, der Finanz-Staatssekretär. Ihn hat Scharping aus dem Bundesfinanzministerium geholt, wo der eingefleischte Sozialdemokrat einer des besten Fachleute von CSU-Minister Waigel war. Zuletzt war er für den Treuhandbereich zuständig. Sarrazin sitzt während der Solidarpakt-Gespräche an seinem Computer, druckt auf Anforderung die aktuellsten Zahlenspiele aus und faxt sie nach Bonn.
Die Verhandlungen stehen auf des Messers Schneide, auch die "Elefantenrunde" - in die Scharping erst während der Verhandlungen auf Drängen von Kurt Biedenkopf und Björn Engholm aufgenommen worden ist - scheint nicht weiterzukommen. Man habe sich unterhalten, aber nicht miteinander geredet, sagt Kohl hinterher. In dieser Situation schlägt Scharping vor, man solle noch einmal getrennt beraten. In der SPD-Runde zieht er dann einen Zettel hervor, auf dem die Kompromißlinie vorgezeichnet ist. Als die "Elefanten" wieder zusammenkommen, gibt Engholm das Wort gleich an Scharping weiter. Der möge vortragen. Scharping beginnt mit dem Satz: "Wir wollen die Einigung."
Am 13. März verständigt sich der Bonner Gipfel auf ein umfangreiches Spar- und Steuererhöhungsprogramm: Zum 1. Juli 1993 wird die Versicherungsteuer heraufgesetzt; von Januar 1995 an wird die Vermögensteuer verdoppelt; spätestens 1994 steigt die Mineralölsteuer um weitere 13 Pfennig; Schwarzarbeiter und Steuerbetrüger sollen effektiver bekämpft werden; eine Neuauflage des Solidarzuschlages wird fest verabredet, und zwar als Zuschlag auf die Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer von 7,5 Prozent (Waigel wollte nur halb soviel).
Ein echter Solidarpakt ist es, wie Helmut Schmidt beklagt, nicht geworden. Denn Arbeitgeber, Gewerkschaften und Sozialverbände sind nicht einbezogen. Scharping und die anderen SPD-Länderchefs haben aber erreicht, was für sie Priorität hat: Die langfristige Sicherung der Länderfinanzen in den alten wie den neuen Bundesländern. Beendet, so sagt er, sei nun die "konjunkturpolitisch schädliche Debatte um die Finanzierung der deutschen Einheit und darüber, wer welchen Anteil daran aufbringen soll". Die für 1995 anstehende Neuordnung der Finanzbeziehungen der Länder ist damit praktisch geregelt. Nicht verhindert haben die SPD-Verhandlungspartner indes, daß, kaum hatte das "Föderale Konsolidierungsprogramm" alle legislativen Hürden genommen, die Regierung das Faß "Sozialkürzungen" wieder aufmachte, dessen Deckel im Frühjahr zunächst geschlossen gehalten werden konnte.
Als der Bundesrat am 26. März die Ergebnisse debattiert, verteidigt Scharping die Tatsache, daß eine Reihe von Fragen offen geblieben sind und weiterhin Gegenstand der politischen Auseinandersetzung bleiben. "Das dient", sagt er, "letzten Ende auch der Klarheit und der Glaubwürdigkeit des demokratischen Staates." Insbesondere beim Wohnungs- und Arbeitsmarkt müsse noch mehr geschehen. "Wir sind der Auffassung, daß es sinnvoll ist, auf dieser Grundlage die Auseinandersetzungen fortzusetzen, die notwendig sind, um damit vielleicht auch ein Stück mehr Normalität zu bekommen, als es vorher der Fall gewesen ist."
In jenen Tagen kommt es dann noch, von der Öffentlichkeit kaum registriert, zu einem innerparteilichen Schlagabtausch zwischen Scharping und Horst Peter, einem der Sprecher des linken "Frankfurter Kreises". Der Exponent der Linken wirft Scharping vor, die Sozialhilfe kürzen zu wollen. Was Scharping will, formuliert er in der "Bild"-Zeitung so: "Der Abstand zwischen Sozialhilfe und unteren Nettoeinkommen muß erhalten bleiben." Scharping sieht diesen Abstand schrumpfen und damit jeden Leistungsanreiz schwinden, wenn über längere Zeit die Sozialhilfe um die Teuerungsrate angehoben wird, die Einkommen aber dahinter zurückbleiben. Die Linke hält dagegen: Dann müßten eben die unteren Lohngruppen angehoben werden.

Ein neuer Stern ...


"Manche Chancen im Leben eines Politikers gibt es nur einmal, und Scharping hat sie ergriffen", sagt Bundeskanzler Kohl im Rückblick auf die harten Debatten im Nato-Saal des Kanzleramts anerkennend. "Der Kollege Scharping hat eine äußerst konstruktive Rolle gespielt", sagt Sachsens CDU-Ministerpräsident Kurt Biedenkopf anerkennend.
"Ging da ein neuer Stern am deutschen Himmel auf?" fragen die "Stuttgarter Nachrichten". "Mich treibt nichts", wehrt Scharping alle Versuche ab, ihn als Alternative zu Engholm aufzubauen, dessen Stern in diesen Tagen zu sinken beginnt. "Björn Engholm ist unser Spitzenkandidat für die nächste Bundestagswahl", versichert er und verzichtet diesmal darauf, ihn zu drängen, endlich ein Team vorzustellen; die beiden haben sich in Lübeck darüber ausgesprochen. Nein, er, Rudolf Scharping, will 1996 wieder die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz gewinnen. "Wer schon was ist, braucht nichts mehr zu werden."
Seit er 1988 in den Parteivorstand gewählt und 1990 auf dem Berliner Parteitag der vereinigten SPD bestätigt worden ist, hat sich Scharping bemüht, auch ins Präsidium seiner Partei gewählt zu werden. Zuerst hat er, als der Posten von Erhard Eppler vakant geworden ist, keine Chance und kandidiert erst gar nicht. Anfang 1992 erhebt er dann aber endgültig seinen Anspruch auf einen Präsidiumsposten. Doch das Präsidium nimmt ihn gar nicht auf die Vorschlagsliste. Scharping kandidiert dennoch, unterliegt aber dem Nordrhein-Westfalen Christoph Zöpel mit 18:19 Stimmen. "Es gab zwei Niederlagen in meiner politischen Laufbahn, an die ich mich erinnern kann", sagt er. "Die eine war, daß ich im Wahlprogramm für 1991 das Tempolimit auf Autobahnen nicht durchsetzen konnte; heute hat Rheinland-Pfalz ohne viel Geschrei die meisten Tempobeschränkungen auf Autobahnen. Das andere war die Niederlage bei der Präsidiumswahl; aber die war ohne praktische Bedeutung, weil ich als Ministerpräsident sowieso zu jeder Präsidiumssitzung eingeladen war."
Er nimmt dieses Privileg so selbstverständlich wahr, daß die meisten Journalisten in Bonn bald glauben, er gehöre dem Präsidium als ordentliches Mitglied an. Immerhin bleibt es bemerkenswert, daß am Ende einer Parteichef wird, der vorher noch nicht die höheren Weihen der obersten dreizehn hatte.
Was wäre aus der parteipolitischen Karriere geworden, hätte Scharping die Landtagswahl vom 21. April 1991 nicht gewonnen? Engholm, damals designierter Parteichef, hat ihn für diesen Fall als Bundesgeschäftsführer im Auge. Ende Februar 1991 macht er ihm ein entsprechendes Angebot. Doch Scharping ist nicht nur überzeugt, daß er seine Landtagswahl gewinnt, er rät Engholm auch: Jeder Tag, an dem er die Entscheidung über den künftigen Bundesgeschäftsführer offen lasse, sei vertan. Vier Wochen später entscheidet sich Engholm für Karlheinz Blessing.

Das Ende der Ära Engholm

Scharpings Stunde kommt mit dem Abgang Björn Engholms. Den SPD-Vorsitzenden, Kanzlerkandidaten und schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten hat die Barschel-Affäre von 1987 wieder eingeholt. Er, das Opfer der unglaublichen Machenschaften des christdemokratischen Ministerpräsidenten, ist unversehens in die Rolle des Mittäters geraten, nachdem heimliche Zahlungen seines Sozialministers Günther Jansen an Barschels einstigen Medienreferenten Reiner Pfeiffer bekanntgeworden waren. Hatte die SPD 1987 an den "Barscheleien" etwa mitgedreht?
Auf einmal werden alle Details wieder aufgerollt. Was 1987 auch die CDU gar nicht so genau wissen wollte, um die Untaten ihres einstigen Hoffnungsträgers schnell vergessen zu machen, wird nun akribisch hinterfragt, ein neuer Untersuchungsausschuß wird ins Leben gerufen. Die entscheidende Frage heißt: Wann hatte Engholm von den Barschel-Intrigen, mit denen er öffentlich kaputtgemacht werden sollte, erfahren? Erst, als der "Spiegel" am 13. September 1987 vorab darüber berichtete? So hatte es Engholm 1987 vor dem Untersuchungsausschuß dargestellt, und dabei bleibt er nun auch. Doch sein einstiger Anwalt Peter Schulz wird zunehmend ungehalten. Er weiß es besser: Schon am späten Abend des 7. September 1987 hatte er Engholm informiert. Die quälende öffentliche Diskussion über ein paar Tage mehr oder weniger - kam es doch darauf eigentlich gar nicht an - lähmt die SPD. Hinzu kommt, daß Engholms wenig straffer Führungsstil ohnehin längst Gesprächsthema ist und der SPD-Spitzenmann von Meinungsumfrage zu Meinungsumfrage weiter absackt und die Partei mit nach unten zieht.
Am Sonntag, dem 2. Mai 1993, sitzt Engholm daheim in Lübeck und schreibt an seiner Rücktrittserklärung. Am Abend zuvor war er noch nach Hamburg-Langenhorn gefahren, hatte sich Rat von Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt geholt. Politischen Freunden hatte er schon am 29. April mitgeteilt, daß sein Entschluß feststehe. Die SPD-Führungsspitze ist also nicht überrascht. Einige versuchen ihn noch umzustimmen. "Es drehen viele dran, aber es hat keinen Sinn mehr", ist der letzte Satz, den er mir am Sonntagvormittag am Telefon sagt. Eine Stunde später hat die Post seine Telefonnummer geändert, niemand erreicht ihn mehr.

Parteivorsitzende(r) gesucht


Gerhard Schröder läßt an jenem Sonntag, an dem Engholms Verzicht auf Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur noch gar nicht offiziell ist, durch einen Sprecher mitteilen, er sei bereit, beide Ämter zu übernehmen. Am nächsten Tag entschuldigt er sich vor dem Parteipräsidium damit, da sei wohl jemand besoffen gewesen.
In Rudolf Scharping reift an jenem Wochenende der Entschluß, für den Parteivorsitz zu kandidieren. Doch er äußert sich nicht öffentlich. Am nächsten Tag, als sich das ganze Augenmerk der Medien auf die SPD-Präsidiumssitzung richtet, in der Engholms Rücktrittserklärung erwartet wird, diskutiert er mit Schülern in Remagen.
An jenem Montag und auch noch in den beiden Wochen danach sind eine Reihe von Kandidaten für die Engholm-Nachfolge im Gespräch. Sogar eine Kanzlerkandidatur von Ex-Kanzler Schmidt wird diskutiert. Doch der 74jährige läßt parallel zu Engholms Rücktritts-Pressekonferenz am Nachmittag erklären, daß er aus Altersgründen nicht zur Verfügung stehe.
Auch Scharping legt sich zunächst öffentlich nicht fest. "Sie dürfen ganz sicher sein: Ich sage es zunächst da, wo es hingehört. Wir haben uns darauf verständigt, daß alle Beteiligten erst mit Johannes Rau reden und daß die Dinge dann in den Gremien der Partei erörtert werden", sagt er der "Süddeutschen Zeitung" (6. Mai) auf die Frage, ob er denn schon seine Bewerbung für den Parteivorsitz abgegeben habe. Er werde noch ein paar Gespräche führen "und meine Schlüsse daraus ziehen". Aber welche Eigenschaften der neue Parteichef mitbringen müsse, das weiß er schon ganz genau: "Den Willen zur Verantwortung, die Fähigkeit, im Team zu führen, die Partei zusammenzuhalten, ihr Glaubwürdigkeit, Vertrauen und eine möglichst große Zahl von Partnern zu verschaffen."
"Die Herausforderung besteht darin" - immer wieder mit ähnlichen Worten präzisiert er in den nächsten Tagen sein Credo -, "die SPD wieder stärker zu der breiten reformerischen Bewegung zu machen, die ihre Kontakte zu Kirchen, Gewerkschaften, Universitäten und anderen Gruppen nicht nur beschränkt auf die Führungsebenen; Geschlossenheit finden im Werben um Vertrauen einer Mehrheit der Gesellschaft - das ist das Ziel." (Focus 20/93). Auf die "Spiegel"-Frage, was denn sein Erkennungszeichen sei, antwortet er: "Vertrauen schaffen und Mehrheiten für sozialdemokratische Politik. Der bloße Wille zur Macht ist hohl. Wohin das führt, zeigt Dr. Kohl..."
In jenen Tagen gibt es besonders zwischen Rau, Scharping und Lafontaine viele Gespräche über das weitere Procedere. Nach außen entsteht zeitweise der Eindruck, als wolle der amtierende Parteichef Rau den erklärten Kandidaten Schröder blockieren und erreichen, daß es zu einem Zweigespann Scharping-Lafontaine kommt.
Lafontaine erweist sich von Anfang an als der alte Zauderer. In der Frage des Parteivorsitzes hält er sich bedeckt, läßt sich statt dessen von seinem saarländischen Fraktionschef Reinhard Klimmt und dem Vize-Vorsitzenden der Saar-SPD, Ottmar Schreiner, empfehlen. Mitarbeiter in Bonn und Saarbrücken streuen seinen Führungsanspruch. Das Echo in Partei und Öffentlichkeit ist dünn.
Auch Johannes Rau, der als Engholms dienstältester Stellvertreter kommissarisch die Führung der Partei übernommen hat, gilt zunächst noch als möglicher Kandidat für den Parteivorsitz. Heidemarie Wieczorek-Zeul erklärt von vornherein, daß sie nur den Parteivorsitz, nicht aber die Kanzlerkandidatur anstrebe, weil sie grundsätzlich für eine Trennung dieser Ämter sei. Schröder ist ebenso grundsätzlich der gegenteiligen Ansicht, während sich Scharping von Anfang an nicht festlegt.

Die Basis hat das Wort


Schon in der Präsidiumssitzung vom 3. Mai wird die Forderung nach einer Beteiligung der Parteibasis an den bevorstehenden Personalentscheidungen laut. Herta Däubler-Gmelin spricht als erste davon. Johannes Rau ist zögerlich. Eine Urwahl oder zumindest Befragung der Mitglieder entspräche dem Diskussionsstand in der Kommission "SPD 2000" zur Parteireform. Hatte nicht die israelische Schwesterpartei ihren letzten Wahlerfolg auch der Tatsache zu verdanken, daß der Ministerpräsidenten-Kandidat von den Mitgliedern in Urwahl bestimmt wurde - ein Vorgang, an dem die gesamte Nation lebhaften Anteil nahm?
Es gibt erklärte Gegner einer Basisentscheidung. Am lautstärksten äußert sich der nordrhein-westfälische SPD-Fraktionschef Friedhelm Farthmann. Eine echte Urwahl aller Mitglieder ist schnell vom Tisch, denn die geben Parteiengesetz und Parteistatut nicht her. Eine Briefwahl aller Mitglieder findet dann im Parteivorstand ebenfalls keine Mehrheit, weil man einen anonymen Entscheidungsprozeß befürchtet, der mehr durch die Medien als durch innerparteiliche Meinungsbildung beeinflußt würde. Und so ganz nebenbei weist Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier auch darauf hin, daß dies bei fast 900.000 Mitgliedern ein teurer Spaß würde: rund zwei Millionen Mark inklusive Freiumschlag.
Man findet schließlich einen Kompromiß unter dem Schlagwort "Tag des Ortsvereins". Die Mitglieder werden eingeladen, an einem bestimmten Tag - man verständigt sich angesichts des bundesdeutschen Ferienkalenders auf Sonntag, den 13. Juni - zwischen 10 und 18 zur Stimmabgabe in das Versammlungslokal ihres Ortsvereins zu kommen. Wer verhindert ist, darf Briefwahl-Unterlagen anfordern. Der Nebeneffekt: Die Kosten werden auf die unteren Parteigliederungen verlagert, die in der Regel vollere Kassen haben als die Zentrale in Bonn.
Scharping ist von Anfang an für eine breite Beteiligung der Mitglieder, aber aus dem Streit über das Wann und Wie hält er sich heraus. Zur Präsidiumssitzung am 10. Mai erscheint er später, weil er es vorzieht, bei einer Betriebsversammlung in Neuwied zu reden und anschließend die Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen aufzusuchen - "weil es nicht darum geht, die Mehrheit in der Partei, sondern in der Gesellschaft zu gewinnen".
Schnell sind auch die Meinungsforscher zur Stelle. Ihr Handicap: Da die Parteizentrale den Datenschutz ernst nimmt, ist eine repräsentative Befragung der Mitglieder nicht möglich. Also versucht man sich mit Umfragen unter den SPD-Anhängern dem Stimmungsbild in der Partei zu nähern. Am 16. Mai veröffentlicht die "Bild am Sonntag" eine derartige Umfrage auf der Basis von 1005 Interviews, durchgeführt vom Dortmunder "Forsa"-Institut, das im demoskopischen Umgang mit der SPD als besonders erfahren gilt.
Vorab wird festgestellt: 71 Prozent wollen eine Ämtertrennung mit der Konsequenz: Scharping Parteichef, Schröder Kanzlerkandidat. Im einzelnen liegt bei der Kanzlerkandidatur Schröder mit 30 Prozent vor Scharping (27 Prozent) und Lafontaine (23 Prozent) - relativ knappe Abstände also. Dagegen wird die Frage nach dem Wunsch-Parteivorsitzenden bereits vier Wochen vor der Mitgliederbefragung eindeutig beantwortet, obwohl in der "Forsa"-Umfrage noch fünf Kandidaten im Rennen sind: Scharping 30 Prozent, Rau 19 Prozent, Schröder 17 Prozent, Wieczorek-Zeul 12 Prozent und Lafontaine 9 Prozent.
Nicht uninteressant die Aufschlüsselung der Resultate. Die "BamS" faßt unter der Schlagzeile "Frauen für Schröder - Beamte für Scharping" zusammen: "31 Prozent der weiblichen SPD-Anhänger stimmten für Schröder. Scharping ist das Schlußlicht in der weiblichen Gunst: Er bekam nur 24 Prozent, noch ein Prozent weniger als Lafontaine. Die Beamten allerdings schätzen Scharping: 51 Prozent gaben dem studierten Politologen aus Lahnstein ihre Stimme, dem Rechtsanwalt aus Hannover nur 21 Prozent." Schlecht schneidet Scharping übrigens auch bei den unter 30jährigen ab: Nur 18 Prozent wollen ihn als Kanzlerkandidat, je 24 Prozent votieren für Schröder und Lafontaine.

Business as usual


Von dem Tag an, da er den Hut für die Engholm-Nachfolge in den Ring geworfen hat, ist Scharping nicht mehr nur bei der rheinland-pfälzischen Presse ein gefragter Mann. Seine Kreisbereisungen, seine Aufritte in der eigenen Provinz, werden auf einmal überregionale Medienereignisse. Zum Beispiel sein Besuch der Stadt Trier. Protokoll und Presseamt der Stadt sind vom überregionalen Interesse überrascht. Der "Trierische Volksfreund" wird am nächsten Tag stolz vermerken, daß sogar das ZDF und die "Bild"-Zeitung dabei waren. Scharping tut so, als fechte ihn das alles nicht an: Business as usual . Aber natürlich inszeniert er seine Auftritte auch. "So manches Bierchen habe ich hier schon getrunken", sagt er laut und zeigt auf eine Kneipe am Viehmarktplatz. Der CDU-Oberbürgermeister Helmut Schröer an seiner Seite ist überrascht. Doch wer Scharping kennt, ist es nicht. Trier gehört zum riesigen Parteibezirk Rheinland/Hessen-Nassau, in dem er seine Karriere aufbaute. Da muß er jeden Winkel kennen.
Zum Beispiel auch das Jugendzentrum oder das Berufsschulzentrum. Schnell findet den Kontakt zu den Jugendlichen, geht in die Klassen und fragt, wem hier gerade was beigebracht wird. Die jungen Zahnarzt-Helferinnen blicken neugierig zu dem 1,89-Meter-Mann empor, der Lehrer gibt sich locker. Hier geht es gerade um Sexualkunde. "Welchen Eindruck macht die Politik derzeit auf euch?" fragt er in einen anderen Klassenraum hinein. "Na ja, man muß halt warten", antwortet ein Schüler. "Nein, nicht abwarten, mitmachen sollt ihr!" entgegnet Scharping.
Aber auch so etwas gehört zu einer Kreisbereisung: Besuch der Sortieranlage für den "Grünen-Punkt-Müll" im Trierer Hafen. Ausländer am Fließband. Ein Fotograf verleitet ihn, mit anzupacken. Er tut's, in seinem dunklen Zweireiher, bereut es aber im gleichen Augenblick. Gestellte Szenen sind nicht seine Sache. Als er wieder in seine Dienstlimousine steigt, kommt über die Südwestfunk-Nachrichten die Meldung, daß seine Umweltministerin Klaudia Martini in Mainz auf die wachsenden Müllhalden des Dualen Systems hingewiesen hat. Hat man ihm nicht gerade erzählt, daß alles seine Ordnung habe?
Oder seine Bereisung des Rhein-Hunsrück-Kreises. Der Terminplan an jenem 2. Juni, knapp zwei Wochen vor der SPD-Mitgliederbefragung, ist so richtig zum Vorzeigen. Besuch bei der Bremsenfabrik Teves in Rheinböllen. 900 Beschäftigte, darunter viele Türkinnen und Türken. Die Morde von Solingen liegen gerade ein paar Tage zurück. Er macht ihnen Mut.
Oder: Gespräch mit Winzern in Oberwesel am Rhein. Die Weinbauern jammern über den Preisverfall. Scharping fragt nach dem Steillagen-Zuschuß, ermuntert die Anwesenden, Erzeugergemeinschaften zu bilden. Man kann ihm nichts vormachen, beim Wein schon gar nicht. Und als die Winzer den Wunsch äußern, doch wenigstens einmal im Jahr wieder mit Herbiziden das Unkraut "abätzen" zu dürfen, bekommen sie eine deutliche Abfuhr: "Ökologisch anbauen und Herbizide spritzen, das paßt wohl nicht zusammen." Sie schlucken es.
Abends dann im "Tivoli" von Kastellaun der Bürgerempfang, mit dem jede Kreisbereisung abgeschlossen wird. Rund vierhundert Bürger sind in den Versammlungssaal des HunsrückStädtchens gekommen. Auch was er hier sagt, ist nicht bequem: "Wir dürfen nicht länger nur an den eigenen Beritt denken. Wir sind keine westdeutsche Verteilungsgesellschaft mehr, sondern eine gesamtdeutsche Aufbaugesellschaft. Wir brauchen keine dritte Stufe für unsere Kläranlagen, solange in Dresden und Leipzig Kläranlagen fehlen." Die Journalisten von Ost-Blättern schreiben eifrig mit, die Botschaft kommt am richtigen Ort an, selbst wenn sie hier oben auf den kargen Hunsrückhöhen, wo man auch nicht gerade im Wohlstand lebt, nicht gerne gehört wird.
Als sich die Vertreter der Bürgerinitiative gegen den Weiterbetrieb der nahegelegenen US-Militärbasis Hahn als Zivilflughafen zu Wort melden, wird Scharping ungehalten. "Ein bißchen provinziell, oder?" 800 Arbeitsplätze und 250 Millionen Mark an jährlicher Kaufkraft gingen der Region durch den Abzug der Amerikaner verloren, da müsse man realistische Alternativen suchen.
Während des innerparteilichen Wahlkampfs geht Scharping ohne Abstriche seinen Pflichten als Ministerpräsident nach. Gleichwohl findet er Zeit für eine Reihe von Partei-Auftritten. Die erste richtige Probe wird der Auftritt vor 250 mittelrheinischen Ortsvereins-Vorsitzenden im Kölner Kolpinghaus. Es geht ihm nicht um große Programme, sondern um den Zustand der SPD. "Manche in der Partei glauben, man gewinne Profil, indem man den anderen in die Pfanne haut." Und: "Wir haben manche Frage zu lange vor uns hergeschoben." Er plädiert für mehr Offenheit und zitiert Ferdinand Lassalle: "Jede politische Aktion beginnt damit, daß man sagt, was ist."
Beeindruckt schreibt Ulrich Deupmann in der "Süddeutschen Zeitung": "Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident redet 50 Minuten lang über das gegenwärtige politische Durcheinander und die nur schemenhaft sich abzeichnende Zukunft Deutschlands - und zieht die Zuhörer derart in den Bann, daß niemand den Blick vom Rednerpult weg richtet oder auch nur mit dem Papier auf dem Tisch raschelt."
Scharping kommt mit seinen stillen Tönen gut an, auch wenn Gerhard Schröder bei seinen Auftritten mehr Beifall bekommt. Er setzt eben mehr auf die lauten Töne. In Hintergrundgesprächen sieht er sich schon als Sieger, witzelt über Scharping als dem "Förster vom Westerwald". Doch Schröder macht in diesen Tagen entscheidende Fehler. Einer ist immer wieder genannt worden: daß er schon am Tag vor dem Rücktritt Engholms dessen Nachfolge anmeldete und sich damit selbst den Stempel "illoyal" aufdrückte. Ein weiterer Fehler Schröders: seine Festlegung auf ein rot-grünes Bündnis.
Ein anderer Vorgang aber spielt, wenn auch kaum öffentlich diskutiert, an der traditionell auf Arbeitnehmerinteressen ausgerichteten SPD-Basis eine noch stärkere Rolle: Schröders uneingeschränktes Eintreten für den "knallharten" VW-Manager Lopez. Ein Sozialdemokrat, der einen Mann unterstützt, der zum Frühkapitalismus zurückwill? Wenn Schröder in jenen Tagen einmal in eine Versammlung wie den Unterbezirksparteitag Dortmund hineingelauscht hätte, wäre ihm klargeworden, was er in der SPD mit seiner Funktion als VW-Aufsichtsratsvorsitzender angerichtet hat.

Sympathiewerbung in Ostdeutschland


Auch im Osten hat Schröder größere Probleme, weil er mehrfach die Meinung vertreten hatte hatte, daß die Leistungen für die deutsche Einheit da ihre Grenzen haben müßten, wo die eigenen Kindergärten nicht mehr finanziert werden können. Von Scharping hatte man jenseits der Elbe derlei Töne nicht vernommen. Was er von den Ansichten seines Rivalen Schröder hält, sagt Scharping dem Nachrichtenmagazin "Focus": "Daß Gerhard Schröder zunächst die Interessen seines Bundeslandes vertritt, ist ja wohl normal. Die Frage ist allerdings, wie ich mit den Anliegen der Menschen im Osten umgehe. Wir müssen endlich erkennen, daß wir im Westen auf Dauer nicht sicher leben können, wenn im Osten die Verhältnisse tanzen'."
Das sind Äußerungen, die von der SPD-Basis im Osten aufmerksam registriert werden. Trotzdem wird auch Scharping bei seinen Auftritten in Schwerin oder Ludwigsfelde reserviert aufgenommen. Die junge Partei im Osten, die noch Schwierigkeiten hat mit dem sozialdemokratischen Genossen-"Du", versteht Scharpings sensible Töne nicht immer, hält es eher mit dem Holzschnittartigen in der Politik. Da werden klare Worte über die Gegner im innerparteilichen Wahlkampf erwartet. Scharping läßt sich nicht provozieren. "Ich werde einen Deubel tun, etwas über Heidi Wieczorek und Gerhard Schröder zu sagen. Ich kandidiere nicht gegen jemanden, sondern für ein Amt."
Lebendiger geht es in Dresden zu, wo sich dreihundert SPD-Mitglieder im "Blockhaus" eingefunden haben. Ihn bedrücke, sagt Scharping, daß die SPD als gestaltende Kraft zu schwach sei. Gerade deshalb müsse mit persönlicher Profilierung Schluß sein. Bis über Mitternacht geht es zur Sache. Paragraph 218? "Auch mit einer SPD-geführten Bundesregierung ist dieses Urteil, ob es uns nun gefällt oder nicht, zu akzeptieren." Widerspruch aus dem Publikum; man müsse eben die Verfassung ändern. Scharping: "Bei allem Optimismus, glauben Sie denn wirklich an eine Zweidrittelmehrheit der SPD im neuen Bundestag?" Was ihm denn die Farbe Rot bedeute, will einer wissen. "Die Farbe der Liebe, aber bunte Wiesen sind mir lieber." Aber doch nicht zu bunt. Als einer über einen Machtwechsel in Sachsen gemeinsam mit dem Bündnis 90 redet, bekommt er eine Abfuhr: "Koalitionsaussagen vor der Wahl sind Kindertheater." Dennoch: Auch in Sachsen sei die SPD das nächste Mal dran, trotz Biedenkopf ("der einzige ernstzunehmende Politiker"). Und dann, als er die Ungläubigkeit spürt: "Nur die, die glauben, daß es nicht geht, werden es auch nicht erreichen."

Gute und schlechte Noten


Im Ruhrgebiet kommt Scharping offenbar weniger gut an. Steif und langweilig sei er, meinen die Berichterstatter. Einige Tage später treffen wir uns irgendwo im letzten Winkel des Westerwald-Kreises Altenkirchen. Was er von derlei Kommentaren hält? "Die Herren Journalisten haben sich nicht die Zeit genommen, bis zum Schluß zu bleiben. Dann wären sie zu einer ganz anderen Beurteilung gekommen. Aber vielleicht hatten sie ja auch schon Redaktionsschluß." Und dem "Spiegel" sagt er: "Ich habe mich nicht als Showmaster, sondern als SPD-Vorsitzender beworben. Zehn Tage vor dem "Tag des Ortsvereins", ist sich Scharping ganz sicher, daß er das Rennen machen wird.
Am Ende des Schaulaufens vor der Basis treten Scharping, Schröder und Wieczorek-Zeul gemeinsam vor 3.000 Berliner SPD-Mitgliedern im Internationalen Congress-Centrum auf. Hier bestätigt sich für den Beobachter der Eindruck, der sich in den Tagen zuvor bereits bei den Einzelauftritten der Kandidaten herausgebildet hat: Schröder bekommt den meisten Beifall, Wieczorek-Zeul findet mehr Echo, als am Anfang der Kampagne erwartet wurde, und Scharping erzeugt am meisten Nachdenklichkeit, schafft am meisten Vertrauen.
Am 12. Juni scheint Norbert Seitz in der "tageszeitung", die sonst auf Schröder-Kurs ist, das Ergebnis vorauszuahnen: "Wer Rudolf Scharping auf dem Sonderparteitag im November letzten Jahres an der Seite der Brandt-Witwe die Bonner Beethovenhalle durchschreiten sah, der konnte schon ahnen, daß hier einer seine Stunde für gekommen hielt. Keinen Millimeter wich er während des Brandt-Memorials von ihrer Seite, was eigentlich Engholms Amt gewesen wäre. Hier fühlte sich einer legitimiert, an Brandts Ende Willys Liebling gewesen zu sein, so daß es aus seiner Sicht eines weiteren Diadochenkampfes gar nicht mehr bedarf."
Noch einmal stehen die drei Kandidaten am 13. Juni, dem "Tag des Ortsvereins", gemeinsam auf dem Prüfstand, bei einer Veranstaltung des Unterbezirks Düsseldorf, die von RTL und einigen dritten Fernsehprogrammen live übertragen wird.
"Ich hab' gedacht, das packt er nicht. Der Schröder wirkte irgendwie dynamischer", gesteht Jutta Scharping am Abend, als alles gelaufen war, und fügt hinzu: "Todtraurig wäre ich nicht gewesen, wenn es der Rudolf nicht geschafft hätte." In vielen Ortsvereins-Wahllokalen sind an diesem Sonntagvormittag Fernsehgeräte aufgestellt, doch zu diesem Zeitpunkt wissen die meisten Mitglieder längst, wen sie wählen wollen.
Die eigentliche Überraschung zeichnet sich bereits am späten Nachmittag ab: eine hohe Wahlbeteiligung. Damit bestätigt sich die Einschätzung Scharpings, der Prognosen von 15 Prozent, wie sie (sicher nicht ohne taktischen Hintersinn) von Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing verbreitet wurden, mehrfach widersprach: "Ich rechne mit einer höheren Beteiligung, als manche vermuten, also mit deutlich mehr als 15 Prozent." Am Ende der Auszählung werden es dann 56,6 Prozent sein. 489.006 der 868 989 Mitglieder haben ihre Stimme abgegeben.

Ein spannender Wahlabend


Um 18 Uhr beginnt in den rund zehntausend Ortsvereinen die Auszählung. In der Bonner Parteizentrale, wo sich hunderte von Journalisten eingefunden haben, laufen die Ergebnisse der Bezirke ein. Intern steht schon bald nach 20 Uhr fest, daß Scharping gesiegt hat. Der amtierende Parteivorsitzende Johannes Rau jedoch läßt die Bekanntgabe der Zahlen verzögern. Er war von Anfang an dagegen, die innerparteiliche Abstimmung zu einem Medienspektakel wie bei einer allgemeinen Wahl zu machen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man das Ergebnis am Tag darauf in einer Pressekonferenz mitgeteilt.
So dauert es am Sonntagabend bis halb zehn, ehe Blessing verkünden kann, wie das Rennen ausgegangen ist. Mittlerweile hat Heidemarie Wieczorek-Zeul längst das Handtuch geworfen, nachdem Scharping sie sogar im eigenen Bezirk Hessen-Süd - wenn auch knapp - geschlagen hatte. Und auch Schröder gesteht seine Niederlage ein.
Scharping hat sich am Wahlabend in sein Büro in der Staatskanzlei zurückgezogen, während Presse und Anhänger in den Fraktionsräumen warten und sich am kargen Fleischwurst- und Frikadellen-Buffet bei Flaschenbier laben. (Niemand hatte daran gedacht, Sekt kaltzustellen.) Erst um halb neun läßt er sich blicken, lobt die hohe Wahlbeteiligung und stellt nüchtern fest: "Wer als erster durchs Ziel geht, hat gewonnen." Ein "kanzlerreifer" Satz, kommentiert die "taz" später ironisch. Der Autor hat nicht begriffen, daß, was oberflächlich als Platitüde erscheinen mag, die klare Ankündigung enthält : Ich werde Parteichef, auch wenn das Ergebnis knapp ausfällt; die hohe Wahlbeteiligung gibt mir die Legitimation. Scharping scheint zu ahnen, welche Diskussion am Tage danach von links, von den Jusos und dem "Frankfurter Kreis", zu erwarten sein würde: Man zähle die Stimmen der beiden Unterlegenen zusammen, und schon ist der vermeintliche Sieger der Verlierer; eine Stichwahl müsse deshalb her. Nicht mit Scharping. Aber auch Schröder und Wieczorek-Zeul haben vorher gesagt: Wer die relative Mehrheit erringt, hat gewonnen und ist berechtigt, sich auf dem Sonderparteitag für das Amt des Parteivorsitzenden zu bewerben.
Erst gegen zehn läßt sich Scharping dann von den Seinen endgültig als Sieger feiern und, sich die Schweißtropfen von der Stirn wischend, vor einem Foto mit einem überlebensgroßen, nachdenklichen Willy Brandt fotografieren. Er spricht von einem "sensationell großen Erfolg" - womit er in seiner typischen Bescheidenheit die Wahlbeteiligung meint ("Wir sind eine absolut gesunde Partei" fügt er hinzu) - und attestiert sich am Ende einen "guten Vertrauensbeweis quer durch die Republik". In die Fernsehkameras sagt er: "Das Ergebnis überrascht mich nicht. Ich habe mit diesem Erfolg gerechnet." Aber dann kann er sich doch nicht den kleinen Seitenhieb auf den Verlierer verkneifen: "Gerhard Schröder hat heute morgen von einem Führungsdefizit gesprochen und davon, daß es heute abend beseitigt sei. Er hatte recht."
40,3 Prozent haben für Scharping gestimmt. Ein deutlicher Vorsprung gegenüber Schröder mit 33,2 Prozent. Immerhin hat es die lange Zeit als Außenseiterin gehandelte Heidemarie Wieczorek-Zeul auf 26,5 Prozent gebracht. Auch in den allermeisten Bezirken liegt Scharping vorn. Ausnahme - mit Schröder-Mehrheit - : Berlin, die vier niedersächsischen Parteibezirke und Ostwestfalen-Lippe. In Schleswig-Holstein hat Heidemarie Wieczorek-Zeul überraschend das Rennen gemacht - Frauen-Power. Keiner der drei Kandidaten hat im eigenen Stammland so gut abgeschnitten wie Scharping in Rheinland-Pfalz. In den drei Parteibezirken erhält er 78,6 Porzent der Stimmen. Den bundesweiten Stimmenvorsprung von rund 35 000 verdankt er rechnerisch zu je rund einem Drittel Nordrhein-Westfalen und dem Saarland.
Johannes Rau erklärt am Abend der Mitgliederbefragung vor der Presse: "Vielleicht haben Sie mitbekommen, daß es noch in den letzten Tagen Gespräche darüber gab, wie verbindlich denn wann welches Ergebnis ist. Wir alle waren uns über die satzungsmäßige Situation klar: Den Vorschlag hat der Parteivorstand zu machen an den Parteitag, und ich habe immer gesagt, je größer die Mitwirkung der Partei ist, desto besser und desto deutlicher ist diese Grundlage."

Der Kampf geht weiter: Kanzlerkandidatur

Der Tag danach. Sitzung des SPD-Präsidiums. Routine. Die unmittelbar sich anschließende Vorstandssitzung mit der formellen Nominierung des Kandidaten für das Amt des Parteivorsitzenden wird vorbereitet. Die zahllosen Kameras richten sich erst einmal auf den Verlierer Gerhard Schröder. "Ich werde Rudolf Scharping sagen, daß die Kontrahenten von gestern die zuverlässigeren Partner für morgen sind als die vermeintlichen Freunde", sagt er in irgendein Mikrofon. Ein Seitenhieb auf Lafontaine? Schröder, der für sich selbst beide Ämter wollte, bleibt konsequent: Jetzt müsse Scharping auch die Kanzlerkandidatur beanspruchen. Wenn es zu einer Kampfabstimmung Scharping-Lafontaine kommen würde samt einer echten Urwahl (der diesmal kein Parteiengesetz und kein Parteistatut im Wege stünden) - Schröder könnte seine 110.000 Niedersachsen für den Rheinland-Pfälzer mobilisieren.
Scharping hatte am Morgen im Südwestfunk wieder einmal sybillinische Antworten auf die Frage der Fragen gegeben: Will er auch die Kanzlerkandidatur? Das zu entscheiden sei "das gute Recht des Parteivorsitzenden, und das laß ich mir auch nicht nehmen". Er werde sich "dieser Aufgabe nicht verweigern", sagt er, aber der Partei wolle er "nicht vorgreifen". Er greift aber dennoch vor, als er sagt, bis zum Spätherbst 1994 wolle er in Mainz bleiben, nach der Bundestagswahl aber gehöre der Kanzlerkandidat nach Bonn. Und ein weiteres Mal der stereotype Hinweis, daß er noch nie Tandem gefahren sei. Ein sichtlich verstimmter Lafontaine, auf diese Äußerungen angesprochen: "Es wird Zeit, mal wieder über Politik zu reden." Man werde in den nächsten Tagen ein paar Gespräche führen.
"Erst reden wir über die Sache, erst dann über Personen", verkündet auch Scharping. Er spricht vom September, verweist im übrigen auf den ordentlichen Parteitag im November. Bald wird er allerdings einsehen, daß es besser ist, vor der Sommerpause alles unter Dach und Fach zu bringen.
Schon einen Tag nach der Mitgliederbefragung mußte eigentlich klar sein, daß Scharping alles wollte - auch wenn er es nicht expressis verbis sagte. Man mußte nur seine Äußerungen eines Tages wie Mosaiksteine zusammensetzen. Selbst der parteieigene Pressedienst wagte die Schlußfolgerung: "Scharping gibt Bereitschaft zur Kanzlerkandidatur zu erkennen."
Lafontaine hält sich gleichwohl weiterhin für den geeigneten Kanzlerkandidaten. Er läßt diesen Anspruch durch seinen Saarbrücker Fraktionschef Reinhard Klimmt verkünden: "Scharping muß sich im klaren darüber sein, daß dieses gute Ergebnis, zu dem die Saarländer nicht wenig beigetragen haben, unterschiedliche Motive hat." Etwa ein Drittel des Stimmenvorsprungs gegenüber Schröder verdanke Scharping dem Saar-Votum. "Er hätte ohne die Oskar-Stimmen nicht gewonnen." Die Saar-Genossen seien mit großer Mehrheit (62,8 Prozent) für Scharping gewesen, weil sie davon ausgegangen seien, daß er Lafontaine die Kanzlerkandidatur überlasse. Klimmt: "Denn hier bei uns und auch in anderen Landesverbänden haben sicher viele für Scharping als Parteivorsitzenden gestimmt, aber damit nicht über die Kanzlerkandidatur entschieden."
Legenden, versteckte Drohungen am Tag nach dem Sieg. Aber gab es denn überhaupt Gründe anzunehmen, daß Scharping Lafontaine das Feld für die Schlacht gegen Kohl überlassen wolle?
Rückblende. Am 17. Mai hatte der Parteivorstand in der Bonner "Baracke" stundenlang über das Wahlverfahren beraten, aber es waren auch schon Personal-Konstellationen angesprochen worden. Scharping wurde aufgefordert, nur für den Parteivorsitz zu kandidieren, auf die Kanzlerkandidatur aber ausdrücklich zu verzichten. Seine Antwort fiel deutlich aus: "Ich lasse mich doch nicht enteiern."
Anschließend kam es in der Bonner Saarland-Vertretung zu einer trauten Runde, die NRW-Umweltminister Matthiesen, Mitglied des Parteivorstandes, arrangiert hatte. Neben Lafontaine und Scharping dabei: Heidemarie Wieczorek-Zeul, Parteivize Wolfgang Thierse, der baden-württembergische SPD-Chef Ulrich Maurer und Bayerns Vize-Vorsitzender Peter Glotz.
Scharping ein paar Tage später über das Gespräch: "Eine merkwürdige Veranstaltung, in die ich mich da habe locken lassen. Da wollten mich doch einige tatsächlich über den Tisch ziehen." Mehrere Teilnehmer meinten, ein Parteichef Scharping sei okay, der solle für die Erneuerung stehen. Aber der Kanzlerkandidat, das müsse jemand sein, der schon durch alle Stahlgewitter gegangen sei. So wie Lafontaine also. Vor allem Matthiesen versuchte immer wieder, Scharping auf eine "Tandem-Lösung" festzunageln. Der wollte in der Runde nicht ausschließen, daß es am Ende dazu komme. Aber vor der Mitgliederbefragung, so seine Klarstellung, werde er sich darauf öffentlich nicht festlegen, denn das würde sein Image schwächen.
Obwohl Scharping ausdrücklich gesagt hatte, jeder sei für seine Schlußfolgerungen selber verantwortlich, glauben Lafontaines Anhänger immer noch: Nach gewonnener Schlacht wird's der Rudolf zusammen mit dem Oskar machen. So gaben sie's auch per Mundpropaganda an die Basis und an Pressevertreter weiter. Hatte nicht im Parteirat sogar Scharpings Stellvertreter als Landesvorsitzender, der Pfälzer Bezirkschef Manfred Reimann, eindringlich plädiert: Parteivorsitz und basta. Die Mehrheit in Rheinland-Pfalz sei in Gefahr, wenn Scharping auch das Kanzleramt anstrebe und ohne Rückfahrkarte nach Bonn ginge.
Doch wer Ohren hatte zu hören, mußte zu einem anderen Schluß kommen. Denn fortan ließ Scharping bei keiner Rede, bei keiner Pressekonferenz und bei keinem Interview, selbst wenn er gar nicht danach gefragt wurde, den Satz aus: "Ich bin immer gerne Rennrad in der Gruppe gefahren, aber noch nie auf dem Tandem." Einer aus der Runde vom 17. Mai hatte die Botschaft sofort begriffen und kommentierte bitter: "Der Rudolf ist größenwahnsinnig."
Ist er das wirklich? Der 45jährige mit seiner gradlinigen Karriere ist nach dem Ende der Ära Engholm, die von Anfang an nur ein halber Generationswechsel gewesen war, innerlich überzeugt: Die Erneuerung kann nicht mit denen gelingen, die schon einmal verloren haben - zum Beispiel Lafontaine als Kanzlerkandidat 1990. Und gab es da nicht eine mißlungene Lafontaine-Pressekonferenz zum Solidarpakt? Hatte nicht Scharping selber den schlimmen Eindruck, die SPD habe dafür kein Finanzkonzept, durch ein Presse-Hintergrundgespräch diskret ausbügeln müssen, das ihm ein verzweifelter Bundesgeschäftsführer Blessing vorgeschlagen hatte? Hatte sich das Spiel nicht wiederholt, als man mit der Regierung zur Sache kam und Scharping es war, der Finanzminister Theo Waigel bei seinen Zahlenmanipulationen auf die Schliche kam?
Scharping hält sich alles in allem für besser als Lafontaine. Was zählt da die "20jährige ungebrochene Freundschaft" mit dem Saarländer, die er wieder und wieder beschwört? Und überhaupt: Soll er sich erst mit großem Aufwand zum Parteichef wählen lassen, um dann angesichts des anlaufenden Wahlkampfes in den Schatten eines Kanzlerkandidaten zu treten?
Als er am Nachmittag des 14. Juni erneut gefragt wird, ob er sich der Kanzlerkandidatur verweigere, sagt er: "Nein, das wird ja aus allem deutlich sichtbar, was ich bisher sagte." Und: "Ich hoffe, daß es nur zu einer Kandidatur kommt." Ja, wessen Kandidatur denn wohl, wenn man alles vorher Gesagte zusammenfaßt? Der designierte Parteichef weiß: Eine erneute Mitgliederbefragung, für die schon so hochmögende Bezirksfürsten wie der Westfalens Franz Müntefering Pläne schmieden, könnte nur ein Schuß in den Ofen werden. Die Wahlbeteiligung vom "Tag des Ortsvereins" würde wohl kaum ein weiteres Mal erreicht, der Mobilisierungseffekt des 13. Juni wäre verpufft.
Scharpings Bonner Pressekonferenz am 14. Juni wird so sehr von der Frage der Kanzlerkandidatur beherrscht, daß die Journalistin Evi Keil eine Frage an ihn mit den Worten beginnt: "Herr Lafontaine..." Gelächter.

Die Zähmung des Oskar Lafontaine


Für Lafontaine ist die Lage ernst. An dieser Wegmarkierung entscheidet sich seine weitere bundespolitische Karriere. Scharping führt noch am gleichen Nachmittag ein Vier-Augen-Gespräch mit ihm. Ohne Ergebnis. Erneut beraten die beiden am 17. Juni in Berlin am Rande der Gedenkfeiern zum 40.Jahrestag des Arbeiter-Aufstands in der DDR miteinander. Scharping bietet dem Saarländer eine herausgehobene Position in seinem Team an. Von einem "Superminister" für Wirtschaft und Finanzen im Schattenkabinett ist die Rede.
Doch Lafontaine gibt seinen Anspruch noch nicht auf. In einem Interview mit der "ZEIT" bekräftigt er, er sei "bereit, die Aufgabe des Kanzlerkandidaten zu übernehmen, wenn wir uns auf Programm und Personen verständigen". Als ihm vorgehalten wird, er habe sich für eine Trennung von Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur ausgesprochen, weil die Probleme so groß seien, daß sie einen einzelnen überforderten, antwortet er knapp: "Das ist richtig."
Scharping will die Entscheidung rechtzeitig zum Sonderparteitag am 25. Juni in Essen. Am folgenden Sonntagabend (20. Juni) fährt er kurzentschlossen nach Saarbrücken. Im Haus "Am Hügel 26", das er schon so manches Mal aufgesucht hat, wird noch einmal miteinander gerungen. Lafontaine gibt jetzt nach. Er weiß, daß eine Gegenkandidatur zu einem Showdown führen würde (eine erneute Mitgliederbefragung wäre unvermeidlich), bei dem er nur verlieren könnte. Meinungsumfragen signalisieren inzwischen: Die Bundesbürger würden einen Kanzler Scharping dem derzeitigen Amtsinhaber Kohl vorziehen. Bei Lafontaine wäre es umgekehrt.
Am Nachmittag des 21. Juni kann Scharping dann der Presse verkünden: Es gibt nur einen Kanzlerkandidaten. Lafontaine bleibe für Wirtschaft und Finanzen zuständig. "Wie bisher", fügt Scharping hinzu, auf daß ja niemand die Rolle des Saarländers überbewerten möge. Denn auch die Wirtschaftskommission, deren Leitung noch Engholm seinem Vize Lafontaine übertragen und die dieser demonstrativ bis zum 12. Juni hatte weitertagen lassen, werde aufgelöst, verkündet der designierte Parteichef. An deren Stelle trete eine neue Kommission unter seiner eigenen Leitung, die ein Regierungsprogramm erarbeiten solle.
"Ist es schwer gewesen, Lafontaine zum Verzicht zu überreden?" fragt ihn der NDR. O-Ton Scharping: "Nein. Es ist auch kein Verzicht, sondern es ist die gemeinsame Erkenntnis, daß wir jetzt Kräfte bündeln müssen und daß wir eng zusammenarbeiten." Lafontaine und er, das sei "eine starke Achse in der SPD". Er fügt gleich relativierend hinzu: "Und weitere werden hinzukommen." Ob er die Themenbereiche Wirtschafts- und Finanzpolitik an Lafontaine abtreten wolle, wird Scharping gefragt. Antwort: "Nein, das wäre ja ganz und gar ungut, wenn ein Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat darauf verzichten würde."
Die Zähmung des widerspenstigen Saarländers hat sich als Scharpings Meisterstück erwiesen. Das Modell "Scharpontaine", das einige voreilig aus der Taufe gehoben hatten, findet nicht statt. Über die Frage der Kanzlerkandidatur jedenfalls wird er auf dem bevorstehenden Sonderparteitag kein Wort mehr verlieren müssen. Und von einer erneuten Mitgliederbefragung ist keine Rede mehr. "Wenn er Ja sagt, dann ist er's", stellt Ex-Parteichef Hans-Jochen Vogel kategorisch fest. .
Vogels Wort von der "Kleiderordnung" mag er zwar nicht, aber Scharping hält dennoch viel von Umgangsformen. Auch nach seiner Wahl durch die Parteibasis und seiner Nominierung durch den Parteivorstand will er, solange er nicht ordnungsgemäß gewählt ist, Johannes Rau nicht ins Handwerk des kommissarischen Vorsitzenden pfuschen. Aber wo er in den folgenden Tagen auftritt, werden seine Worte als die des künftigen SPD-Vorsitzenden gewichtet. Ob es nun bei der Eröffnung des Lenkgetriebewerkes von Opel in Kaiserslautern, beim Kamingespräch der Ministerpräsidenten, beim Tag der deutschen Bauindustrie oder bei den Absolventen der Fachhochschule der Deutschen Bundesbank ist.
Auch die Funktionäre der Partei erhalten über den Informationsdienst "intern" schon erste Orientierungen vom künftigen Parteichef: "Jetzt geht es darum, Sachfragen in den Vordergrund der Auseinandersetzung mit der Regierung Kohl zu stellen: die wirtschaftliche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die soziale Gerechtigkeit, der Schutz der Umwelt und die Bewahrung des friedlichen Zusammenlebens nach innen und außen." Zwei Tage vor dem Parteitag spricht Scharping auf einer Parteiveranstaltung im Mainzer Vorort Hechtsheim - ein bißchen Generalprobe für die Parteitagsrede.
In Hintergrundgesprächen mit Journalisten dämpft er von vornherein Erwartungen auf ein Spitzenergebnis auf dem Parteitag. Seine Vorgänger Vogel und Engholm waren mit 98,8 bzw. 97,4 Prozent gewählt worden. Ihn, Scharping, haben zwar 40 Prozent der SPD-Genossen gewählt, 60 Prozent aber eben nicht. Und die Linke hat seinen Sieg als Niederlage klassifiziert. Eine Dreiviertelmehrheit wäre da schon ein achtbares Ergebnis.

Wahlkonvent in Essen


Der Essener Sonderparteitag am 25. Juni, der eigentlich nicht mehr zu tun hat, als das Ergebnis der Mitgliederbefragung als formellen, statutengemäßen Wahlvorgang umzusetzen, wird noch einmal zu einem Medienereignis. Schon am Vortag, bei den Sitzungen der Spitzengremien, steht Scharping im Scheinwerferlicht, wo immer er auftaucht. Am Abend läßt er sich zunächst auf dem Presseempfang und anschließend beim Parteiabend in einer alten Brauerei sehen, verschwindet dann aber bald in seine Suite im Sheraton-Hotel. Mit seinen engsten Mitarbeitern feilt er bis über Mitternacht an seiner Rede. Morgens geht er noch einmal mit dem Filzstift dran. Ein Manuskript wird an die Journalisten verteilt. Doch die müssen sehr bald feststellen, daß er weitgehend vom Manuskript abweicht. Mancher wird an die Zeiten von Helmut Schmidt erinnert, bei dem man stets mitstenografieren mußte, wenn man sich an die Regel halten wollte: "Es gilt das gesprochene Wort!"
Herta Däubler-Gmelin und Johannes Rau sprechen zuerst. Rau, der Interimsvorsitzende seit dem Rücktritt von Engholm, mahnt an, daß die SPD "Schutzmacht der kleinen Leute" bleiben müsse. "Wir tun", sagt er, "unsere Arbeit nicht um unserer Programme willen und auch nicht um unserer Karrieren willen, sondern wir tun sie, weil wir den Alltag der Menschen zum Besseren verändern wollen." Und er zitiert Hannah Arendt: "Politik ist angewandte Liebe zur Welt." Sicher eine Idealvorstellung, das Sonntagsbild von einem Politiker, aber auch bewußt als Meßlatte für den künftigen Parteichef gesetzt.
Scharping sitzt auf dem Podium an seinem Platz in der zweiten Reihe, hört zu, arbeitet aber immer wieder an seinem Redemanuskript. Engholm, den er beschworen hat, trotz aller Schmach nach Essen zu kommen, sitzt in der Reihe der Ehrengäste. Er macht einen aufgeräumten Eindruck, kneift vor keinem Mikrofon, das ihm hingehalten wird.
Die ursprüngliche Tagesordnung sah vor, daß der neugewählte Parteivorsitzende seine große Rede nach seiner Wahl halten sollte. Doch Scharping besteht darauf, nach guter Parteitradition vor dem Wahlgang reden zu dürfen. Jeder soll wissen, was er denkt, was er will. Niemand soll die Katze im Sack kaufen. Er leitet seine mehr als einstündige Rede mit einem Dank an Björn Engholm ein: "Du hast schwere Zeiten hinter dir. Das gebietet mehr als politisches Verständnis, nämlich menschliches Mitgefühl. Du bist von deinen politischen Ämtern zurückgetreten, um Schaden von der Partei abzuwenden, in der viele mit Dir weitergekämpft hätten. Deine politische Reaktion ist auch eine Demonstration für das Recht des Politikers auf Privatheit." Es gibt, obwohl auch schon Herta Däubler-Gmelin bei der Eröffnung des Parteitages den zurückgetretenen Parteichef gewürdigt hatte, langen Beifall.
Anschließend dankt Scharping Johannes Rau, dem Interimsvorsitzenden: "Du hast in einer schwierigen Zeit unsere Partei auch emotional zusammengehalten, als wir vom Schock des Rücktritts unseres Parteivorsitzenden getroffen waren. Das hat uns gutgetan." Auch Hans-Jochen Vogel und seine Tugenden vergißt er nicht zu erwähnen. Er sei "zu einer Vaterfigur geworden, ein gelegentlich strenger Vater. Aber der große Respekt, den Dir die Partei entgegenbringt, beweist, daß Pflichterfüllung und Selbstdisziplin, die Du Dir auferlegt hast, Maßstäbe setzen."
An die Adresse der Delegierten sagt er: "Ihr vertretet hier fast 900 000 Menschen. Sie stehen im Alltag gerade für unsere politischen Ziele. Das ist nicht immer leicht, und gerade in den letzten Wochen war es teilweise schwierig. Aber wir sind eine Mitgliederpartei, und wir werden eine Mitgliederpartei bleiben. Das heißt aber auch: Wir müssen unsere Ziele und unsere Grundwerte im Alltag erfahrbar und glaubwürdig machen." Die große Beteiligung an der Mitgliederbefragung vom 13. Juni "wird uns und andere verändern, schon deshalb, weil wir genauer beobachten und beachten werden, was unsere Mitglieder denken und was sie bewegt", fügt er hinzu. In der Partei sei die Bereitschaft zum Engagement "viel größer, als wir alle es vermutet haben". Im November, auf dem ordentlichen Parteitag, werde man diese direkte Teilhabe fest verankern. Sie sei, "klug eingesetzt, verbindlich befolgt, ein vorzügliches Mittel, Wirklichkeitssinn und Engagement zu fördern".
An alle, die in der SPD Verantwortung tragen, richtet er den Appell: "Kümmert Euch endlich um die Aufgaben, für die Ihr gewählt worden seid! Macht sozialdemokratische Politik erfahrbar! Setzt Herrn Kohl und seiner verbrauchten Truppe eine wirkungsvolle Alternative entgegen! Zerredet unsere gemeinsame Politik nicht täglich."
Eine breite reformerische Bewegung für soziale Demokratie entstehe nicht in Sitzungssälen und nicht allein durch kluge Programme. Es genüge nicht, zu sagen, wogegen man ist, man müsse auch sagen, wofür man steht. "Als Volkspartei sind wir erfolgreich, wenn wir die Vielfalt der Meinungen und die Vielfalt des Zuganges zur Sozialdemokratie innerlich wollen, sie akzeptieren und im politischen Handeln bündeln." Er erinnert an "die Offenheit der SPD für Reformen am Ende der 6Oer und am Anfang der 70er Jahre". Er erinnert aber auch an frühere SPD-Generationen, als "sich die SPD als Partei des Volkes verstand, als eine in der Gesellschaft breit und fest verankerte Kraft".
Es folgt eine zentrale Botschaft seiner Rede, die nicht nur auf Wohlwollen stößt: "Als Partei des Verteilens haben wir keine Zukunft. Wir müssen für beides Kraft haben, für die Wertschöpfung und für die soziale Sicherheit." An anderer Stelle sagt er: "In schwierigen Zeiten greifen Angst und Sorge um sich. Die Menschen haben ein sehr feines Gespür für hohles Geschwätz und für bloße Attitüde." Gerade Jüngere empfänden den Umfang von Vernachlässigung, den alltäglichen Konkurrenzkult und die "Vorbilder" des protzenden Egoismus ganz genau, die der Einübung solidarischen Verhaltens entgegenstünden.Die sozialdemokratischen Grundwerte - Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität - will er ganz konkret wieder mit Inhalt füllen. Was die Debatte die Debatte um Out-of-Area-Einsätze der Bundeswehr angeht, so stellt er klar: "Wir wollen helfen, auch international und, wenn erforderlich, auch mit Blauhelmen. Wir haben dazu unsere Beschlüsse gefaßt. Mit diesen Beschlüssen gehen wir von dem seit 40 Jahren in Deutschland bestehenden Konsens über die Verfassung aus. Dieser Konsens wird von der CDU aufgekündigt. Unter anderem deshalb sagen wir, daß eine unzweideutige Grundlage in der Verfassung sinnvoll wäre, auch wegen der Soldaten, deren Dienst wir respektieren. Mit der Karlsruher Entscheidung (über den SPD-Antrag auf Einstweilige Anordnung zur Unterbindung des Somalia-Einsatzes der Bundeswehr, der 48 Stunden vorher vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen worden war - d. Verf.) ist klargestellt: Die Entscheidung über den Einsatz von Soldaten ist Sache des Parlaments, nicht der Exekutive... Für mich gilt, und ich nehme an das gilt für uns alle: Die Bundeswehr darf keine frei verfügbare Interventionsarmee werden!"
Er erwarte, daß die Bundestagsfraktion konsequenterweise in der folgenden Woche "nicht einer Sache zustimmt, gegen die sie vorher geklagt hat" - Anspielung auf einen Streit unter den Verteidigungspolitikern der SPD. Deutlich spricht er sich gegen ein Engagement im Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien aus, weil "ein deutscher Soldat, egal unter welchem Helm und unter welchem Kommando, in einem solchen Land mit den historischen Belastungen, die es gibt, immer Zielscheibe der Bürgerkriegsparteien sein würde, niemals aber Schlichter". Und er fügt hinzu: "Ich vermag nicht einzusehen, warum junge Männer ausbaden sollen, daß die Politik und die Unternehmen unfähig bleiben, einen aggressiven Staat wirksam zu blockieren."
Scharping verkündet eine klare Machtperspektive: "Laßt uns keinen Zweifel daran zulassen, daß wir wirksam die Mittel der Politik und des Staates nutzen wollen, um das Land wieder auf feste Beine zu stellen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen von uns glauben, daß wir die Mehrheit wollen und die Verantwortung dazu!" Von der Frage nach möglichen Koalitionspartnern hält er wenig: "Nichts darf uns von dem Ziel einer starken Sozialdemokratie abbringen, und Wahlkämpfe für Koalitionen schwächen dieses Ziel, anstatt es zu stärken!"
Die soziale Kompetenz ist für Scharping eines der wichtigsten Anliegen. Mit einem Seitenhieb auf die "Toskana-Fraktion" in der SPD sagt er: "Wenn viele von uns darüber reden, dann schaffen wir vielleicht Öffentlichkeit und Aufklärung über wichtige soziale Fragen in unserem Land, wichtigere jedenfalls als die Kenntnis von Eßgewohnheiten oder Urlaubszielen."
Er verschweigt nicht, daß die Sozialleistungen "unter dem Druck leerer Kassen und jener, die ihre Subventionen und Steuervergünstigungen gerne verteidigen", stehen. Es mache aber "wenig Sinn, nur nein zu sagen und sich in der Defensive zu verschanzen; denn die Finanzprobleme sind echt, die Verschuldung ist unverantwortlich hoch, und die Leute wissen es genau. Viele stellen sich die bange Frage, ob man den Sozialstaat denn erhalten kann angesichts dieser Finanzierungsprobleme. Wenn diese Angst nicht in die falsche politische Richtung ausschlagen soll, dann müssen wir zweckmäßige und gerechte Vorschläge machen für die Modernisierung des Sozialstaates." Soziale Leistungen sollten auf Menschen konzentriert werden, die sie wirklich brauchen.
Die Delegierten erfahren auch, wo sie mit Scharping beim Thema innere Sicherheit dran sind: "Die organisierte Kriminalität wächst, und zwar erschreckend. Es gibt auch eine beachtliche Alltagskriminalität. Beides verstärkt das Gefühl von Unsicherheit. Der alte Satz, daß sich nur die Reichen einen armen Staat leisten können, bekommt eine weitere Bedeutung: Sicherheit wird kaufbar. Wer kein Geld hat, soll halt weniger sicher leben. Das kann niemand in der Partei wollen." Und dann folgt ein Satz, der nur geteilte Zustimmung erfährt: "Wir werden offen darüber reden müssen, ob tatsächlich jede Garage oder jedes Hinterzimmer eines Bordells den gleichen Schutz verdient wie die private Wohnung."
Zur Asylpolitik merkt er an: "Wenn wir begrenzende Steuerung und staatsbürgerliche Integration miteinander verbinden, haben wir vielleicht auch eine Chance, verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen."
"Ein Deutschland zu bauen, vor dem niemand Angst zu haben braucht, in dem die Menschen friedlich und gut leben und arbeiten können, das international eine Stütze des Weltfriedens ist, das soziale Demokratie und ökologisch verantwortete Entwicklung zusammenbringt", lautet schließlich das außenpolitische Credo Scharpings.
Er beendet seine Rede mit dem Appell an die Delegierten: "Ich bitte um euren Rat und um eure Hilfe. Und ich bitte um eine Einsicht, die wir an vielen Stellen der politischen Debatte dann praktisch verwirklichen können. Wir sind nicht zuerst Rechte und Linke der SPD, wir sind nicht zuerst Mitglieder oder Funktionäre, Basis oder Spitze, sondern wir sind zuerst und vor allen Dingen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, und wir sind in dieser Partei, weil wir einer großen Vision zum alltäglichen Durchbruch verhelfen können. Das muß heute der Ausgangspunkt sein!" Es folgt lang anhaltender Beifall.
Erst hinterher wird manchem Delegierten bewußt: Von der Kanzlerkandidatur hat Scharping kein einziges Mal geredet. Aber er hat wie jemand gesprochen, der auf jeden Fall Kanzler werden will. Es gibt auch Kritik. Wie immer, wenn eine Grundsatzrede gehalten wird, vermissen Experten Detailaussagen über ihre Fachgebiete. Etwas mitreißender hätte er schon reden können, meinen die einen, während die anderen gerade die ruhige Art, die stillen Passagen gut gefunden haben. Ada Brandes schreibt im "Kölner Stadt-Anzeiger": "Viele Kommentatoren haben in der Rede das Visionäre' vermißt, vielen fehlte der mitreißende Schwung, fehlten auch die konkreten Angaben darüber, in welche Richtung die Partei zu marschieren habe. Andererseits wurde an der Rede gerade das gelbt, was sie so wenig begeisternd gemacht hatte: die nüchterne Bestandsaufnahme, die Kritik an der eigenen Partei, der Appell an Realitätssinn und Pflichtbewußtsein."
Die Wahlzettel werden eingesammelt. Hinter der Bühne wird ausgezählt. Die Zählkommission rechnet ein zweites Mal nach, ehe sie bekannt gibt: 362 von 546 gültigen Stimmen für Rudolf Scharping, 54 mal nein, 40 Enthaltungen. Das sind 79,38 Prozent. Das schlechteste Ergebnis für einen SPD-Vorsitzenden nach dem Kriege. Parteihistoriker haben vorsorglich festgestellt: Nur Otto Wels schnitt 1919 mit 77 Prozent schlechter ab. Aber auch noch nie zuvor war es im Vorfeld zur Kampfabstimmung über mehrere Kandidaten gekommen. Scharping kann zufrieden sein. Der Beifall ist groß, als er die Wahl annimmt. Hände werden geschüttelt. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Hermann Lutz (CDU), kommt mit einem Polizeihelm in der Hand auf die Bühne, will ihn Scharping aufsetzen. Der reagiert sofort richtig: Er wehrt ab, nimmt den Helm zwar in die Hand, setzt ihn aber nicht auf. Scharping mit Polizeihelm - ein Foto, das Mißverständnisse produziert hätte. Auch das gelbe Trikot, das ihm jemand überreicht, will er nicht sofort überstreifen.

Das Versprechen Helmut Schmidts


"Vier Fünftel der Delegierten des Parteitages - das war heute vor sechs Wochen weiß Gott noch nicht zu erwarten gewesen." So kommentiert Helmut Schmidt das Wahlergebnis. Der Ex-Bundeskanzler, von Johannes Rau gefragt, ob er auf dem Parteitag reden wolle, hatte zugesagt. Aus dem Grußwort wird ein kurzes Grundsatzreferat. "Unser Wille zur Regierungsmacht allein ist noch nicht genug", mahnt Schmidt. "In den Augen des Wählervolkes bedürfen wir der Legitimation durch Glaubwürdigkeit, der Legitimation durch Vertrauenswürdigkeit, der Legitimation durch Sachkunde. Wenn wir uns dann in diesem oder in jenem Feld ganz sachkundig gemacht haben, und wenn wir genau wissen, warum wir eine Sache so und nicht anders regeln wollen, dann müssen wir darüber hinaus das, was wir wollen, in gemeinverständlicher Form, in holzschnittartig gemeinverständlicher Form vor das Volk tragen." Er erinnert an Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer, Adolf Arndt, Fritz Erler, Carlo Schmid, Waldemar von Knoeringen, Herbert Wehner und Willy Brandt und rät: "Lest einmal die Reden dieser Menschen nach. Man kann von ihrer Klarheit lernen. Man kann von ihrem Willen zur Regierungsmacht lernen."
Zur eigenen Regierungszeit sagt er sehr offenherzig: "Wir waren in der Regierung oder in der Fraktionsführung keineswegs immer einer Meinung; weiß Gott nicht. Das gilt auch für die später ein bißchen glorifizierte sogenannte Troika Willy Brandt, Herbert Wehner und ich selbst. Aber sehr selten hat einer von uns damals auch nur ein Wort darüber in den Kanälen der verschiedenen Fernsehanstalten verlauten lassen. Ich bin im 48. Jahr meiner Parteizugehörigkeit selbstbewußt genug, von den führenden Frauen und Männern an der Spitze unserer Partei Solidarität gegeneinander zu verlangen, eine von außen erkennbare Solidarität."
Der Alt-Kanzler nutzt die Gelegenheit, etwas zu sagen - und zwar ohne Absprache -, was niemand besser öffentlich erklären könnte: den Anspruch der SPD, mit Johannes Rau den nächsten Bundespräsidenten zu stellen. "Ganz gewiß wäre der Sozialdemokrat, wäre der Christ Johannes Rau für die in einem Jahr zu entscheidende Nachfolge hinter Richard von Weizsäcker ein dessen Würde entsprechender hochgeeigneter Bundespräsident." Und dann kommt der Satz, der den größten Beifall findet: "Ich habe Rudolf Scharping in seinem Kampf um die Regierung in Rheinland-Pfalz unterstützt. Inzwischen sind meine Kräfte noch ein bißchen geschrumpft; aber ich werde ein gleiches auch für den bevorstehenden Wahlkampf im Laufe des Jahres 1994 tun. Der Rudolf steht vor einer enormen Aufgabe, vor einer ungeheuren Aufgabe. Wenn wir sie bestehen wollen, wenn wir sie erfüllen wollen, dann müssen wir alle zu diesem Menschen Scharping stehen."

Erste Wegweisungen


Schon einen Tag nach seiner Wahl macht Scharping seinen ersten Auslandsbesuch als neuer Parteichef, und zwar im kleinsten Nachbarland: Luxemburg. In Wasserbillig trifft er sich mit der Luxemburgischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zum Arbeitsgespräch. Danach sucht er am 29. Juni die Bundestagsfraktion auf. "Wir werden die notwendige Koordination unserer Politik zwischen Partei, Bundestagsfraktion und Ländern nicht dadurch leisten, daß wir öffentlich übereinander reden, sondern nur dadurch, daß wir häufiger miteinander reden", leitet er seine Rede vor den 239 SPD-Bundestagsabgeordneten ein. Ein "imperatives Mandat" habe niemand in der Partei. Gemeinsam wolle man auf allen Ebenen den Abbau des Sozialstaates bekämpfen. Andererseits: "Wir sollten nicht als diejenigen auftreten, die sich den Mantel umhängen, als seien sie nur die einfachen, etwas dummen Bewahrer des Besitzstandes." Konkret heißt das für ihn, "daß wir nicht auf der einen Seite im sozialpolitischen Bereich etwas formulieren, von dem wir wissen, daß es finanziell nicht einzuhalten ist, und daß wir auch nicht im wirtschaftlichen Bereich etwas formulieren, von dem wir wissen, daß es im Sozialen oder an anderer Stelle schädlich werden könnte."
Wie schon auf dem Parteitag appelliert er im Zusammenhang mit dem Somalia-Einsatz der Bundeswehr jetzt auch an die Fraktion, auf deren Abstimmungsverhalten es in den folgenden Tagen ankommt, "zu berücksichtigen, daß ein noch nicht erledigtes Hauptsacheverfahren in Karlsruhe nicht von uns durch eigenes Verhalten im Bundestag beschädigt werden sollte". Irgendwann werde die Notwendigkeit auftauchen, über "Blauhelme oder Blauhelme plus" mit der Regierung zu reden. Er warne aber davor, dies zur Unzeit zu tun. Jenen Abgeordneten, die erwägen, für den Somalia-Einsatz der Bundeswehr zu stimmen, gibt er zu bedenken: "Ich glaube, daß diejenigen, die hoffen, mit einer persönlichen Position zu diesem Einsatz in Somalia gewissermaßen die Gesamtlinie der SPD weiterentwickeln, weitertreiben zu können, sich am Ende bitterböse in die Finger schneiden." Er wird mit seinem Appell Erfolg haben.
"Ich habe die Absicht, häufiger hier zu sein", kündigt er den Abgeordneten an. "Ich bitte darum, daß ihr euch nicht wundert, wenn ich dann im Zweifel auch mal zwei, drei Stunden in der Fraktion sitze und schlicht zuhöre." Der erste Auftritt jedenfalls, so die Reaktionen der meisten Abgeordneten, ist gut angekommen. Scharping hat zwar keine Erfahrungen mit der Bundestagsarbeit, aber er war lange genug Mitglied, Geschäftsführer und dann Vorsitzender einer Landtagsfraktion. Er weiß aber auch, daß die Individualisten in Bonn schwerer unter einen Hut zu bekommen sind. Die autoritäre Attitüde aus Mainz hat er daher wohlweislich abgelegt, vermittelt aber gleichwohl klare Orientierungen. Jeder soll wissen, wo es langgeht. Jeder hat selbst zu entscheiden, ob er im Mainstream der Entscheidungen beteiligt ist oder nicht.
In der folgenden Ausgabe des Parteiorgans "Vorwärts" präzisiert Scharping seine Ankündigung, ohne Rückfahrkarte nach Bonn gehen zu wollen. Sein Amt als Ministerpräsident werde er aufgeben - "am Tag, bevor der neue Bundestag nach der Wahl im Oktober 1994 zusammentritt". Vier Vorsätze habe er sich als Parteivorsitzender gefaßt: "Ich will die Partei zu einer wirklichkeitsnahen Reformpolitik ermutigen, möchte in ihr politische Verbindlichkeit und Loyalität vermitteln, mit aller Kraft für die sozialdemokratischen Überzeugungen bei den Bürgern werben und nicht zuletzt gegen die politischen Kontrahenten mit Leidenschaft kämpfen." Und er fügt hinzu: "Wenn das bei den Menschen, die mich beurteilen, zu dem Eindruck zusammenfließt: Dem Scharping und der SPD können wir vertrauen' - dann bin ich zufrieden."
Schon am 5. Juli werde er die Zusammensetzung der Kommission bekanntgeben, die das Regierungsprogramm auszuarbeiten habe, hat Scharping bereits vor dem Parteitag angekündigt, als er Anspruch auf die Kanzlerkandidatur erhob. Sie enthalte Hinweise, wer zu seiner Mannschaft für die Bundestagswahl gehöre.

Erste Entscheidungen


Am Rande des Sonderparteitags in Essen bleibt viel Raum für Spekulationen. Wer wird dabei sein? Wen wird Scharping verstoßen? Welche Überraschungen hat er im Köcher? Das große Staunen gibt es nicht, als Scharping am 5. Juli nach einer Sitzung des Parteivorstandes seine Mitstreiter vorstellt. Der neue Parteichef setzt auf die bewährten Kräfte und bindet seine Kontrahenten ein. Auch Engholms Schattenkabinett hätte nicht viel anders ausgesehen. Lafontaine ist, wie angekündigt, für Wirtschaft und Finanzen zuständig, Fraktionschef Hans-Ulrich Klose für die Außenpolitik. Heidemarie Wieczorek-Zeul darf weiter ihr Feld Europa beackern, Gerhard Schröder bleibt Koordinator für einen Energiekonsens, ist aber nicht so richtig im "Schattenkabinett". Die Entscheidung, Herta Däubler-Gmelin für den Bereich Justiz einzusetzen, ist deshalb bemerkenswert, weil die Politikerin zwar für das Amt einer Bundesverfassungsrichterin nominiert ist, die Union ihre Wahl aber blockiert. Die Partei-Vizechefin hat schon auf das Amt der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden verzichtet und droht nun vollends durch den Rost zu fallen. Für Scharping ist es auch eine Frage des Anstands, sie in das neue Team einzubinden.
Mit dabei ist auch Peter Glotz für den Bereich Kultur, Wissenschaft und Bildung, obwohl sich der Vizechef der Bayern-SPD zum Erstaunen vieler öffentlich für Heidemarie Wieczorek-Zeul als Parteivorsitzende und Oskar Lafontaine als Kanzlerkandidat ausgesprochen hatte. Rudolf Dreßler bleibt der Mann fürs Soziale, obwohl es Scharping nicht einfach haben wird, den Traditionalisten für die angekündigte "Modernisierung des Sozialstaats" zu gewinnen.
Die weiteren Mitglieder des Teams: Der baden-württembergische SPD-Chef Uli Maurer (Inneres), die niedersächsische Umweltministerin Monika Griefahn (Umwelt), Präsidiumsmitglied Christoph Zöpel (Bauen und Verkehr), die brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt (Familie) und die Aachener Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt (Gleichstellung). Nicht dabei ist die Finanzexpertin der Fraktion, Ingrid Matthäus-Maier. Lafontaine hatte gegen ihre Berufung Protest eingelegt.
Bevor er seinen Sommerurlaub in den französischen Pyrenäen antritt, löst Scharping auch die letzte offene Personalfrage: die Besetzung des Bundesgeschäftsführer-Postens. Karlheinz Blessing hatte bereits, ehe entschieden war, wer neuer Parteichef würde, dem Übergangs-Vorsitzenden Rau mitgeteilt, er stelle sein Amt zur Verfügung. Der Neue müsse freie Hand haben. Scharping fragt zuerst den nordrhein-westfälischen Staatsminister Wolfgang Clement, der schon einmal Parteisprecher und stellvertretender Bundesgeschäftsführer war. Doch der sieht seine Zukunft in der Landespolitik, sagt nach zwei Stunden Bedenkzeit ab.
Dann fragt Scharping Günter Verheugen, einen der parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. Der Mann hat einschlägige Erfahrungen: Er war bis 1982 Generalsekretär der FDP. Den Job kann er, doch reicht der Stallgeruch? Die Mehrheit der Kernmannschaft bestärkt Scharping, sich für Verheugen zu entscheiden. Am 12. Juli bestätigt eine Sprecherin der SPD, daß Blessing, obwohl bis zum nächsten regulären Parteitag gewählt, am 15. August ausscheidet und Verheugen seine Aufgaben zunächst kommissarisch übernimmt.
In der Presseberichterstattung taucht übrigens noch ein weiterer angeblicher Kandidat auf: Reinhard Klimmt, der saarländische SPD-Fraktionsvorsitzende. Doch Scharping dementiert, je mit ihm darüber geredet zu haben. Entscheidend für Scharpings Wahl ist, daß er einen starken, wirklich politischen "Generalsekretär" in Bonn braucht, im politischen Alltag faktisch die Nummer drei nach ihm und dem Fraktionschef. Entscheidend ist auch, daß bis zur Bundestagswahl nur noch fünfzehn Monate Zeit bleiben. Also braucht er jemanden, der schon einmal bewiesen hat, daß er einer solchen Aufgabe gewachsen ist, der in der Bundestagsfraktion heimisch ist und zugleich die Bonner Journaille kennt. Alles Voraussetzungen, die bei Verheugen erfüllt sind.
Auch in Rheinland-Pfalz bestellt Scharping sein Haus. Schon eine Woche nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden nominieren auf seinen Wunsch die Spitzengremien der Landespartei Kurt Beck als Nachfolger im Amt des Landesvorsitzenden; er übernimmt es auf der Stelle geschäftsführend. Auch als Ministerpräsident soll Beck Ende 1994 Scharping nachfolgen. Schnelle Klarheit sei notwendig, um das Vertrauen des Koalitionspartners zu erhalten, sagt Scharping. Jedenfalls hat er alle Personalspekulationen im Keime erstickt. Die ebenfalls als Ministerpräsidenten-Kandidaten genannten Christoph Grimm und Florian Gerster müssen sich mit der Entscheidung abfinden. Joachim Mertes, ein alter Scharping-Weggefährte, wird bereits vorsorglich zum künftigen Fraktionschef gewählt.
Für Scharping gibt es bald neue, gute Nachrichten von der Demoskopen-Front. Besonders beachtet wird die alljährliche Manager-Umfrage des Allensbacher Instituts für die Wirtschaftszeitschrift "Capital". Bei Führungskräften in Wirtschaft, Politik und Verwaltung verfalle das Ansehen der Bundesregierung rapi- de, stellt die als CDU-nah geltende Allensbach-Chefin Elisabeth Noelle-Neumann fest. Scharping erinnere viele Führungskräfte hingegen an den jungen Helmut Kohl. Die Mehrheit von 671 Spitzenleuten traut ihm zu, den amtierenden Kanzler schon bei der nächsten Wahl zu kippen. Es könne zu einem "Clinton-Effekt" kommen, wenn er bei den Inhalten der Politik noch zulege. Vorteilhaft bewerten die Manager Scharpings Fähigkeit, Konsens herzustellen, die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen, die moralische Integrität und sein politisches Fingerspitzengefühl. Anders als bei Lafontaine und Schröder werden ihm allerdings noch nicht die rechten Fähigkeiten zum Krisenmanagement sowie der Mut zu Unpopulärem oder die Kraft zu Visionen zugetraut.
"Noch ist das Rennen um das Kanzleramt offen bis hin zu einem Sieg Scharpings", stellt Noelle-Neumann fest. In ihrer "Capital"-Analyse heißt es: "Kohl entfernt sich immer weiter von den Bürgern und deren Problemen. So beurteilen auch im Capital-Panel die Jüngeren Scharping durchweg positiver als die Älteren... Einen Platzvorteil kann sich Kohl auch nicht mehr durch größere Alltagsnähe ausrechnen. Denn Scharping gehört nicht zur hedonistischen Toskana-Fraktion. Statt wie Lafontaine das Recht auf Faulheit zu propagieren, radelt er im Urlaub volksnah und präsentiert sich in Bilderblättern als Mensch-ärgere-dich-nicht-spielender Familienvater. So lebt der Westerwälder im Einklang mit den konservativen Tugenden Fleiß und Anstand, die Kohl für die Krisenzeiten einfordert."
Im Vergleich zu seinem Vorgänger Helmut Schmidt schneidet Kohl, so Noelle-Neumann, "miserabel" ab. Nur 22 Prozent der Befragten bescheinigen ihm das Format eines Staatsmannes, Schmidt dagegen 45 Prozent.

Schlagabtausch mit dem Kanzler


Am 23. August kommt es im Bundeskanzleramt zur ersten Begegnung zwischen dem Kanzler und dem neuen Parteichef der SPD. Die Erwartungen der Öffentlichkeit sind hoch gespannt. Wichtige Personalien, die einen Konsens der großen Parteien voraussetzen, stehen an - die Neubesetzung des Amts des Generalbundesanwalts ebenso wie die des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts (wofür die SPD Herta Däubler-Gmelin nominiert hat). Doch es kommt zu keiner Verständigung. Zwischen den beiden Rheinland-Pfälzern geht es nüchtern zu, kooperativ und gleichwohl distanziert.
Schnell bekommt Scharping den Spitznamen "Rotkohl". Das Klischee von den beiden "Pfälzern", die sich eigentlich ähnlich seien und die beide das gleiche wollten, taucht täglich in Kommentaren auf. Die Einsicht, daß man in der Politik nichts mit der Brechstange durchsetzen kann, mag beide verbinden. Aber die Charaktere sind dennoch zu unterschiedlich. "Mit Helmut Kohl werde ich oft verglichen, was ich für beide Seiten als unberechtigt empfinde", sagt Scharping. Er sieht bei Kohl zuviel Feuilleton und zuwenig Präzision. Im Gegensatz zu ihm "bin ich zu systematischem Denken fähig", sagt er selbstbewußt.
Am 8. September 1993 kommt es zum ersten Schlagabtausch im Bundestag. Es ist Haushaltswoche, der Etat des Kanzleramts steht auf der Tagesordnung, traditionell Anlaß für eine Generaldebatte über die Politik der Regierung. Eigentlich ist es das Geschäft des Fraktionsvorsitzenden der größten Oppositionsfraktion, diese Debatte zu eröffnen. Doch Klose läßt Scharping auf dessen Wunsch den Vortritt.
Am Abend zuvor hat der SPD-Chef noch Wahlkampf in München (Oberbürgermeister-Wahl) gemacht und sich anschließen, um kein Nebel-Risiko einzugehen, noch nach Bonn fahren lassen. Um drei Uhr nachts trifft er ein und schläft nur wenige Stunden in der rheinland-pfälzischen Landesvertretung. Um 8.54 Uhr öffnet sich im Bonner "Wasserwerk" - der Bundestag tagt in jener Woche zum letzten Mal in diesem Provisorium - die rechte Tür hinter dem Präsidiumstisch: Scharping tritt ein, setzt sich auf die Bundesratsbank neben Lafontaines Bonner Dienststellenleiter Joachim Schwarzer.
Eine halbe Minute später tritt Kohl durch die linke Tür, setzt sich auf den Stammplatz des Bundeskanzlers. Duell, Schlagabtausch - die Erwartungen sind hochgeschraubt. Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth ruft "den Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz" als ersten Redner auf. Da steht er nun am Pult mit seinem dunkelblauen Zweireiher und weinroter Krawatte. "Diese Bundesregierung mutet dem Volk viel zu", beginnt er. Der Verlust an Vertrauen sei der eigentliche Mangel. "Große Umbrüche erzeugen große Unsicherheit, manchmal auch Angst." Gerade deshalb müsse man den Menschen die ungeschminkte Wahrheit sagen.
Scharping greift das gerade aktuelle Thema Pflegeversicherung auf. "Es wird nicht über die betroffenen Menschen geredet, es wird geredet über die Frage der Finanzierung." Daraufhin großes Gelächter bei der Union. Warum eigentlich? Einen Tag später lobt Arbeitsminister Norbert Blüm gerade diese Passage der Scharping-Rede.
Er spricht weitgehend frei. Nur manchmal, wenn es um kompliziertere Sachverhalte geht, hält er sich am Manuskript fest, trägt es ein wenig zu hastig und sotto voce vor. "Man kann darüber reden, ob wir über unsere Verhältnisse gelebt haben", sagt er. "Viel wichtiger ist, daß wir unter unseren Möglichkeiten regiert werden." Gleichwohl hat er auch Lob für den Kanzler bereit: Kohl habe die Chance der Einheit unbestritten im richtigen Augenblick ergriffen. Aber er hatte Illusionen geweckt, die er nicht erfüllen konnte. Und die Schwächeren seien zu Lasteseln der Einheit geworden. Kohl schreibt nach diesen Sätzen intensiv mit.
Polemik ist nicht Scharpings Metier, an diesem Tag schon gar nicht. Die schärfste Formulierung seiner Rede: "Sie schätzen das Bankgeheimnis organisierter Gauner höher als den Schutz der Bevölkerung." Beim Thema Kriminalitätsbekämpfung und Blauhelme dann aber immer wieder das Angebot zur Zusammenarbeit. "Wir bauen nicht auf Ihren Niedergang, warum auch, wir bauen auf eine bessere Alternative und eine bessere Zukunft in Deutschland", schließt er seine Rede. Minutenlanger Beifall, nicht frenetisch, aber respektvoll, ist die Reaktion der SPD-Fraktion.
Der Kanzler redet zwei Stunden später. Er greift Scharpings Tonlage auf. Fast väterlich sagt der siebzehn Jahre ältere: "Ich stand ja mal in einer ähnlichen Position wie Sie hier." Er gibt ihm den Rat, zu seinen Überzeugungen zu stehen, statt "vor einer vermeintlichen Tagesmehrheit zurückzuweichen". Alle Parteien seinen gemeinsam an Fehlentscheidungen beteiligt gewesen. "Lassen Sie uns doch jetzt nicht lamentieren, sondern handeln."
Die SPD-Abgeordneten sind zufrieden mit ihrem neuen Parteichef. Etwas mehr Biß freilich hätte seine Rede schon haben können.

Konflikte


Mit seinem Hinweis auf das Thema Blauhelme markiert Scharping freilich einen der ersten Konflikte, der seine ersten Wochen als Parteichef bestimmt. Die SPD-Außenpolitiker hatten sich an die Arbeit gemacht für einen Leitantrag zum Bundesparteitag. Hans-Ulrich Klose will mehr als nur die Beteiligung der Bundeswehr an humanitären und friedenserhaltenden Maßnahmen. Er glaubt Scharping so verstanden zu haben, als sei auch er für Kampfeinsätze. Doch mitnichten. Das Bild ist in Kommentaren und Karikaturen schnell gefunden: Scharping hat Klose im Regen stehen lassen. Doch der verweist auf klare Äußerungen, die er auch schon im innerparteilichen Wahlkampf gemacht habe. Scharping über seinen Dissens mit dem Fraktionschef in der "WELT": "Es gibt zwischen uns eine unterschiedliche Einschätzung darüber, ob die Vereinten Nationen im Sinne des Artikels 43 ihrer Charta kriegerische Maßnahmen unter eigenem Kommando vornehmen. Alle Experten, mit denen ich darüber gesprochen habe, gehen davon aus, daß dieser Fall nicht absehbar ist, und er ist aus meiner Sicht auch nicht wünschenswert. Politik muß sich darauf konzentrieren, Kriege zu verhindern, anstatt sie von vornherein einzuplanen."
Das Klose-Argument, es gehe im kommenden Wahlkampf um die Zuverlässigkeit und um die Partner- und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik, läßt er nicht gelten: "Die Menschen in Deutschland bewegt insbesondere die Frage, ob es wieder mehr Arbeitsplätze gibt, ob es eine dynamische Wirtschaftspolitik gibt, ob soziale Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, ob es bezahlbare Wohnungen gibt. Diese Fragen des praktischen Lebens und der Zukunftsperspektiven in Deutschland und seiner wirtschaftlichen und sozialen Einheit sind viel wichtiger als außenpolitische Detailfragen. Und in der Außenpolitik gibt es auch Wichtigeres: das Verhältnis zu Frankreich, eine neue Ostpolitik, die EG oder der Nord-Süd-Konflikt."
Die SPD, so sagt er voraus, komme auf eine einheitliche Linie. "Es muß möglich sein, auf der Grundlage von unterschiedlichen Positionen und unterschiedlichen Einschätzungen in einer so großen Volkspartei wie der SPD diese dennoch in gemeinsamem Handeln zu bündeln." In der SPD zeichne sich eine Beschlußlage ab, die vollständig abdecke, was in den letzten zehn, fünfzehn Jahren Praxis der Vereinten Nationen war. "Das heißt konkret: Blauhelm-Aktivitäten uneingeschränkt, und zwar mit dem Recht der Selbstverteidigung und der Verteidigung des Auftrages. Das heißt Embargomaßnahmen mit den Möglichkeiten ihrer Durchsetzung, und es heißt Bereitstellung von Soldaten, die speziell für Einsätze im Rahmen der UNO ausgebildet und ausgerüstet sind. Die Trennlinie heißt für mich Kriegführung'. Und wir werden uns an aktiver Kriegführung, gleich in welcher Form im einzelnen, nicht beteiligen. Das ist Deutschland noch nie gut bekommen."
Auch die Rolle der Nato ist für ihn klar: "Die Nato ist ein strikt auf Verteidigung orientiertes Bündnis, nach ihren Verträgen und nach ihrer Praxis. Und das sollte sie auch bleiben, selbst dann, wenn sie sich den Charakter einer Unterorganisation der Vereinten Nationen gibt. Die Nato könnte militärische Mittel auch nur mit Zustimmung des Weltsicherheitsrates einsetzen und nie aus eigenem Recht."
Er habe von Anfang an die Meinung vertreten, die SPD müsse bis zu ihrem Parteitag im November Fragen klären, die jetzt noch ein billiges Einfallstor für den politischen Gegner sind. "Das sind Fragen, die mit der Außenpolitik und mit der inneren Sicherheit zusammenhängen", sagt Scharping der "WELT".
Bei der inneren Sicherheit scheint der Kraftakt noch größer. Eine Kommission unter der Leitung von Herta Däubler-Gmelin hat dazu einen Leitantrag erarbeitet. Das Konzept sieht den verstärkten Kampf gegen Drogenhandel, organisierte Kriminalität und Geldwäsche vor. Doch der Knackpunkt heißt "großer Lauschangriff". Mit 10 zu 9 Stimmen, gegen das Votum seiner Vorsitzenden, stimmt das Gremium für den uneingeschränkten Einsatz technischer Abhörmaßnahmen auch in Privaträumen, wenn es um schwerste organisierte Kriminalität geht. Die rechtlichen Hürden dafür sollen hoch sein, aber die Erkenntnisse sollen auch im Prozeß verwertet werden dürfen. Ulrich Maurer, "Schatten-Innenminister", verficht das Konzept offensiv, doch der Widerstand in der Partei ist erheblich. Rechtsexperten fürchten um den Artikel 1 des Grundgesetzes.
Ebenso wie Maurer setzt Scharping darauf, eine Zerreißprobe vermeiden zu können. "Ich bin ganz sicher, daß die SPD in Fragen der inneren Sicherheit ein ebenso geschlossenes wie offensives Konzept gegen die Bundesregierung vertreten wird. Denn bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität ist die Bundesregierung viel zu spät aufgewacht und hat nur sehr halbherzige gesetzgeberische Maßnahmen gegen die Geldwäsche vorgeschlagen. Das muß wesentlich schärfer und härter angepackt werden, sonst werden weiter jährlich 80 bis 100 Milliarden Mark gewaschen. Auf kriminelle Weise zustande kommendes Vermögen muß außerdem beschlagnahmt werden können. Leider hat sich in der innerparteilichen Debatte der SPD zuviel auf die stinkende Wurst konzentriert, die uns die CDU mit dem sogenannten großen Lauschangriff ins Fenster gehängt hat."
Scharping versucht die Kritiker zu überzeugen: "Ich bin zunächst einmal der Meinung, daß bei uns zuviel abgehört wird. 1992 gab es in Deutschland in diesem Feld insgesamt 3500 Abhörmaßnahmen beim Telefon, ein Mehrfaches dessen, was beispielsweise in den USA abgehört worden ist. Das deutet auf einen zu laxen Umgang hin. Der rechtsstaatliche Schutz in diesem Feld muß verbessert werden. Das steht in einem Zusammenhang mit der anderen Frage, nämlich dem Abhören des gesprochenen Wortes. Es darf nur noch darauf ankommen, welcher begründete Tatverdacht für schwerste Straftaten vorliegt. Dann muß man einen begründet Verdächtigten auch unabhängig vom Aufenthaltsort entsprechend verfolgen können."

Nicht nur Freunde...


Der Landesparteitag in Berlin, der erste nach seiner Wahl zum Parteichef, zeigt, daß sich Scharpings Gegner noch nicht mit dem Ergebnis der Mitgliederbefragung abgefunden haben. Selbst ist er nicht dabei, doch als sein Name fällt, gibt es Mißfallensbekundungen. Man wirft ihm beispielsweise "Wackelei" in der Frage des Umzugs von Regierung und Parlament nach Berlin vor. Scharping in der "WELT": "Ich habe nicht erwartet, daß gewohnte, aber politisch schädliche Verhaltensweisen in wenigen Wochen abgestellt werden können. Aber bis November müssen sie abgestellt sein. Diese dauernde Profilierung auf Kosten von Mehrheitspositionen in der SPD oder auf Kosten von einzelnen Personen schadet nur dem gemeinsamen Anliegen."
Die Berliner SPD und Scharping: Alte Frontstellungen der siebziger Jahre werden wieder sichtbar. Hier der Reformer Scharping, dort die "Anti-Revis" und "Stamokaps" wie die Berliner Klaus-Uwe Benneter und Kurt Neumann. Sie haben auf Schröder gesetzt - 1978 genauso wie 1993. Scharping versucht Schröder einzubinden, aber so recht will das nicht gelingen. Er besucht ihn bei seiner "Sommerreise" durch Niedersachsen auf einem Bauernhof bei Göttingen. Schulterschluß wird für die Presse demonstriert, besonders echt wirkt das nicht. Irgendwann nimmt er Schröder beiseitige und macht im eindringlich klar: Mein Erfolg ist auch dein Erfolg.
Und der Burgfrieden mit Lafontaine - wie lange wird er halten? Schon eine Woche nach dem Sonderparteitag in Essen setzt der Saarländer erste Stoppschilder. Falls Scharping bewaffnete Bundeswehr-Einsätze "out of area" wolle, müsse er wissen, daß es dafür in der Partei keine Mehrheiten gebe. Auch Kürzungen von Sozialleistungen, wenn sie Scharping denn um der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft willen vorhabe, seien eine "Unverschämtheit" angesichts der Tatsache, daß in den letzten Jahren nur "von unten nach oben" verteilt worden sei. Noch am 18. Juni hatte Lafontaine in der "ZEIT" gefordert, "auch unter den Bedingungen einer Mediengesellschaft, einer Gesellschaft, in der oft Rivalitäten und Eitelkeiten dominieren, als Führung einvernehmlich aufzutreten".
Der "Super-Minister" Lafontaine läßt sich auf den ersten beiden Sitzung von Scharpings "Schattenkabinett" nicht blicken: Terminprobleme. Hat er sich noch nicht damit abgefunden, hinter dem fünf Jahre Jüngeren zurücktreten zu müssen? Eine Konstellation deutet sich an, die an Willy Brandt und Helmut Schmidt erinnert. Auch sie waren fünf Jahre auseinander, vertraten unterschiedliche politische Kulturen in der SPD, auch sie bemühten sich um Geschlossenheit nach außen. Aber wer ist der neue Wehner? Klose, der Einzelgänger, gewiß nicht.
Als Lafontaine am 16. September in der Saarbrückener Eissporthalle seinen 50. Geburtstag feiert, hält Scharping eine schlichte, herzliche Rede. Er gratuliere dem "Kumpel", nennt ihn "ab und zu unbequem, immer solidarisch, kantig". Lafontaine sei "ein guter und zuverlässiger Freund". Der antwortet: Die Lehre aus 1990, als er selber Kanzlerkandidat war, heiße: "Die deutsche Sozialdemokratie kann nur bestehen, wenn sie ihre Spitzenleute in entscheidenden Auseinandersetzungen rückhaltlos und ohne Vorbehalte unterstützt." Bei allen Differenzen in der Sache, "die es immer gibt", könne nichts dazu führen, "daß Versuche erfolgreich sind, Keile zwischen uns zu treiben". Und Lafontaine fügt hinzu: "Du hast meine volle Unterstützung. Wir wollen gemeinsam erfolgreich sein."
Der Führungsstil des neuen Parteichefs wird bald sichtbar. Scharping bringt die Mitarbeiter der Parteizentrale ins Schwitzen. Da gibt es sogar Referenten, die ihre Kandidatur für die NRW-Kommunalwahl wieder zurückziehen, weil sie Berge von Arbeit auf sich zukommen sehen. Briefe an die SPD, so verlangt Scharping, seien ab sofort individuell zu beantworten. Im übrigen wird das Telefon zu seinem wichtigen Arbeitsmittel. Nicht nur seine eigene Partei nimmt er durch permanente Kommunikation in die Pflicht, auch die Ministerpräsidenten der unionsregierten Länder pflegt er direkt anzurufen. So gelingt ihm beispielsweise in zweitägigen unablässigen Telefonaten sämtliche Ministerpräsidenten davon zu überzeugen, daß sie den Bundeshaushalt 1994 im Bundesrat in erster Lesung ablehnen, um die Bundesregierung zu Verhandlungen zu zwingen. Intensive Kommunikation pflegt er auch mit gesellschaftlichen Gruppen wie den Gewerkschaften. Wo es brennt, wie in den Bereichen Stahl, Kohle und Kali, trifft er sich sogleich mit Betriebsräten und Gewerschaftern. In Bonn läßt er keinen Journalistenzirkel aus, um sich zu präsentieren.
Präsenz ist das andere Prinzip, das man von Scharping schon aus Rheinland-Pfalz gewohnt ist. Er taucht wiederholt in den Sitzungen der SPD-Bundestagsfraktion auf und bringt die Union aus dem Tritt, als er ohne Vorankündigung im Bundestag über die Pflegeversicherung redet. Das Prinzip Scharping heißt All-Gegenwart.