G Überzeugungen

Keine Zeit für Marx

Umwelt-Tandem mit Lafontaine

Öffnung der SPD

Von Frankfurt bis Seeheim

Der "Enkel" Willy Brandts

Vorbild Helmut Schmidt

Keine Zeit für Marx


5. Mai 1993. Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz macht eine seiner regelmäßigen Kreisbereisungen. Diesmal ist der Stadtkreis Trier an der Reihe. Es ist der 175. Geburtstag von Karl Marx, dem größten Sohn dieser Stadt. Das kann doch kein Zufall sein, denkt sich ein Kameramann des ZDF-Teams, das den Mann begleitet, der wenige Tage nach dem Rücktritt von Björn Engholm als möglicher künftiger Vorsitzender der deutschen Sozialdemokratie im Gespräch ist. Auf dem Tagesplan kommt Marx zwar nicht vor, aber...
Kein Aber. "Ich habe nicht vor, ins Karl-Marx-Haus zu gehen", läßt Scharping wissen. Zu Fuß macht er sich auf den Weg. Zwanzig Meter vor der Brückenstraße, wo das von der Friedrich-Ebert-Stiftung betreute Marx-Geburtshaus steht, biegt er gemeinsam mit dem CDU-Bürgermeister und dem SPD-Regierungspräsidenten ab in Richtung Viehmarktplatz, wo Zweitausendjähriges ausgegraben wird. Keine sozialistischen Sentimentalitäten.
Dabei hielt der verstorbene Werner Klein, der zeitweilige SPD-Fraktionschef in Mainz, Scharping stets für einen "lupenreinen Marxisten". War er das überhaupt jemals? Natürlich beherrschte er einst das einschlägige Vokabular, sonst wäre er sicher nicht 1974 einer der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Jusos geworden. Aber das war nur Fassade. "Ich war nie Marxist", sagt Scharping heute. "Karl Marx war ein bedeutender Philosoph, der in seinen Konsequenzen von Lenin und anderen entstellt wurde. Der Historische Materialismus war nie meine Sache, weil ich glaube, daß zum Menschsein mehr gehört als die Einsicht in materielle Zusammenhänge."
Gleichwohl: Das marxistische Vokabular scheint er gut zu beherrschen. Deutlich zeigt sich das in seinem Beitrag zu dem "rororo-aktuell"-Bändchen "Überwindet den Kapitalisumus oder Was wollen die Jungsozialisten?" von 1971. Da finden sich dann Sätze wie: "Kapitalistische Produktionsweise" sei definiert "durch den grundlegenden Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung." Doch zieht man den semantischen Vorhang beiseite, erweist sich sein Aufsatz als wohlbegründete Warnung vor einem Defizit an Demokratie (nicht zuletzt auch am Arbeitsplatz) in der Europäischen Gemeinschaft. Scharping analysiert, daß sich die Kapitalinteressen in der damaligen EWG bestens zu organisieren verstehen, während die Gegenmacht der Arbeitnehmer nicht sichtbar ist, zumal in Frankreich ganz andere Vorstellungen über Mitbestimmung am Arbeitsplatz bestehen als in Deutschland.
Scharping heute: "Meine Überzeugung war und ist unveränderlich: Die Arbeitnehmer müssen am Sagen und Haben beteiligt werden. Sie dürfen nicht bloßes Werkzeug sein, denn ihre Phantasie und Organisationsfähigkeit ist viel zu wertvoll. Auch der Staatssozialismus ist daran gescheitert, daß er dies nicht begriffen hat."
Allerdings hängt auch er damals der Vorstellung an, der Staat könne die "verschärften Verteilungskämpfe" zugunsten der Arbeitnehmer steuern. Noch im Januar 1975 schreibt er gemeinsam mit Gerd Walter, dem schleswig-holsteinischen Juso-Vorsitzenden (seit 1992 schleswig-holsteinischer Bundesratsminister), in der Zeitschrift "Neue Gesellschaft": "Der Anspruch, Volkspartei der Arbeitnehmer zu sein, findet nur im Rahmen eines reformerischen Konzepts der Umverteilung von Einkommen, Vermögen und Macht zugunsten der Masse der Arbeitnehmer seine materielle Basis. Die Entwicklung politischer (insbesondere wirtschaftspolitischer) Instrumente und der Einsatz der vorhandenen Instrumente ist unter diesem Gesichtspunkt nicht zu leisten." Dabei habe der Staat nicht nur indirekte Steuerungsmaßnahmen zur Hand; "gerade beim Einsatz der gegebenen Möglichkeiten ist deutlich zu machen, daß weitere der direkten Lenkung gefunden und durchgesetzt werden müssen".
Im Dezember 1992 sagt Scharping auf dem Landesparteitag der rheinland-pfälzischen SPD: "Sozialpolitik als bloße Methode der Umverteilung, Reformpolitik als bloßes Einnehmen von Geld und Umverteilen mit Hilfe des Staates, das allein wird in den nächsten Jahren nicht mehr gehen."
Im November 1973 erscheint bei "rororo aktuell" dann das Bändchen "Demokratischer Sozialismus und Langzeitprogramm". Herausgeber: Rudolf Scharping und Friedhelm Wollner. Prominente Linke beziehen darin Position in der Parteidiskussion um ein Langzeitprogramm, das dann 1975 in Mannheim als "Orientierungsrahmen '85" verabschiedet wird. Scharping schreibt im Vorwort gemeinsam mit Wollner (heute sein Büroleiter in Mainz) zur Standortbestimmung des demokratischen Sozialismus: "Allein eine programmatische und politisch-taktische Abgrenzung oder Zurückweisung von Vorwürfen des Revisionismus einerseits, der Systemüberwindung oder des Volksfrontdenkens andererseits ergibt keine offensiv angelegte Theorie des demokratischen Sozialismus. Auch die linke SPD und die Jungsozialisten können deshalb ihrem eigenen Anspruch nicht voll genügen, weil die bisher geleisteten Beiträge zu einer theoretisch-programmatischen Diskussion eine streckenweise erhebliche Differenz erkennen lassen zwischen der Fähigkeit, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu analysieren, und derjenigen, aus den vorhandenen Zielvorstellungen die Umsetzung in Instrumente der politischen Praxis zu leisten."
Getreu dem Willy-Brandt-Motto "Mehr Demokratie wagen" fordert Scharping "die Sicherung und Ausweitung demokratischer Rechte auf alle Lebensbereiche". Zwar beklagt er, daß sich "immer mehr wirtschaftliche Macht in immer weniger Händen konzentriert", verlangt aber nicht - wie es damals bei den Jusos en vogue ist - die Vergesellschaftung von Banken oder Schlüsselindustrien. Er setzt, wie damals sogar weite Teile des Partei-Establishments, auf die Ausweitung des öffentlichen Sektors (Helmut Schmidt spricht vom "öffentlichen Korridor"), um Gegenmacht zu schaffen. Aber selbst in dieser Frage zeigt er sich äußerst skeptisch: "Die Ausweitung des öffentlichen Sektors wirft freilich eine Fülle von Problemen auf. Sie betreffen die Steuerung und Lenkung dieses Bereichs, seine Demokratisierung und die Strukturierung dieser Entscheidungsprozesse. Diese Probleme werden vielfach unterschätzt."
1976 veröffentlichen die Jusos ein "Gleichheitspapier". Es sei im Grunde von Scharping formuliert worden, sagt die damalige Bundesvorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul. Wieder einmal schreibt er dazu im Theorieorgan "Neue Gesellschaft" eine Aufsatz. Damals, vor der Bundestagswahl 1976, versucht CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf die klassischen sozialdemokratischen Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit (oder Gleichheit) und Solidarität für die Christdemokratie zu vereinnahmen und umzuinterpretieren.
Scharping liefert in dem Aufsatz seine Interpretation der Grundwerte. Der Wert der Freiheit, so schreibt er, "bemißt sich an den sozialen, den wirtschaftlichen Möglichkeiten". Wirtschaftliche Krisen wirkten sich freiheitsmindernd aus, etwa bei der Wahl des Arbeitsplatzes oder des Berufs. "Freiheit ohne soziale Verankerung ist nicht vollständig", folgert er. Ähnlich materialistisch interpretiert er den Grundwert der Gerechtigkeit oder Gleichheit. "Gleichheit vor dem Gesetz ohne entsprechende soziale Absicherung bleibt hohl", schreibt er. Gleichheit der Waffen sei weder vor der Justiz noch am Arbeitsplatz vorhanden. Die Solidarität schließlich, den dritten Grundwert also, sieht er "durch die sich verschärfenden Verteilungskämpfe zu Lasten der Arbeitnehmer" gefährdet.

Umwelt-Tandem mit Lafontaine


Einen weiteren Aufsatz in dem rororo-Bändchen von 1973 hat Scharping gemeinsam mit seinem saarländischen Juso-Freund Oskar Lafontaine verfaßt. "Umweltkrise und Langzeit-Diskussion" ist der Titel. Damals ist die Debatte über den ersten Bericht des "Club of Rome" über "Die Grenzen des Wachstums" voll im Gange, werden Umweltgefahren von der Müllawine bis zur Klimakatastrophe bereits drastisch dargestellt. Lafontaine und Scharping fordern Lösungen, "damit 1. wir aus dem Stadium hilf- und machtloser Appelle herauskommen; 2. wir der Gefahr entgehen können, Umweltprobleme ohne politischen Bezug als technisches und notfalls individuelles Problem (jeder sein eigener Umweltschützer) darzustellen;3. Umweltprobleme nicht scheinbar gelöst in ein Wirtschaften integriert werden, das Dreck profitabel produziert, um denselben dann ebenso profitabel wieder zu beseitigen oder - wo das nicht möglich ist - diese Beseitigung dem Staatshaushalt bzw. dessen Infrastrukturmaßnahmen überläßt."
Die reine Marktwirtschaft kann das in den Augen der Autoren nicht lösen. "Auf der anderen Seite", schreiben die Autoren, "wird man jedoch mit der einfachen Devise 'Kapitalismus macht Dreck - Kapitalismus muß weg' nicht viel weiter kommen." Der Hinweis auf die Umweltprobleme der "sozialistischen Länder" ist für Lafontaine und Scharping "ein durchaus ernst zu nehmendes Argument".
Das Verursacherprinzip reicht Scharping und Lafontaine zur Bewältigung der Umweltprobleme nicht aus. Es würde nach ihrer Ansicht dazu führen, "daß weiterhin die Umwelt mit etwas verteuerten Produkten im gleichen Umfang wie bisher verschmutzt wird". Damit würden alle Maßnahmen letztlich überwälzt "auf die wirtschaftlich Ohnmächtigen nach dem Motto, daß die Verursacher der Abfallberge ohnhin nur die sind, die Verpackungen wegwerfen". Bedenkt man die Probleme mit dem "Dualen System", klingen diese Formulierungen auch nach zwanzig Jahren zeitgemäß. Oder, wenn man so will, vorausschauend.
Und die Lösung? Umweltpolitik, so schreiben Lafontaine und Scharping 1973, brauche zu ihrer Durchsetzung "abgestufte Einfluß- und Eingriffsmöglichkeiten gegenüber den Entscheidungen über Investition, Standortwahl, Produktionsziele, anzuwendende Technik und Produktionsverfahren. Ihre Instrumente reichen im wesentlichen in die Bereiche der Wirtschaftspolitik, der Raumordnungs- und Strukturpolitik sowie der Forschungspolitik hinein. Steuer- und ordnungspolitische Instrumente, insbesondere ein einheitliches und verschärftes Strafrecht, werden diesen Katalog ergänzen."
Das alles mag vor zwanzig Jahren in konservativen Ohren nach sozialistischer Systemveränderung geklungen haben. Doch nüchtern betrachtet hat seither die Umweltpolitik nichts anderes gemacht oder versucht, selbst unter der Regierung Kohl.

Öffnung der SPD


In dem bereits erwähnten Aufsatz für die "Neue Gesellschaft" im Januar 1975, den er gemeinsam mit dem schleswig-holsteinischen Juso-Chef Gerd Walter verfaßt, beschreibt Scharping sein Konzept einer Volkspartei: "Die SPD muß wieder zur Sozialdemokratie, zur in der Bevölkerung wurzelnden Bewegung werden, sie muß ihr soziales Umfeld zurückgewinnen." Zwei Jahre später, als nach der knapp gewonnenen Bundestagswahl wieder einmal das Thema "Parteireform" in der SPD diskutiert wird, fragt Scharping dau ebenfalls in der "Neuen Gesellschaft": "Hat die SPD die inhaltliche und organisatorische Kraft, auf Zukunftsprobleme und -ängste nicht nur richtige Antworten zu finden, sondern diese Antworten auch so zu erarbeiten, daß die betroffenen Menschen sich daran beteiligen, sich und ihre Probleme in den Antworten wiederfinden können?" Un wiederum einige Jahre später sagt er: "Eine Partei, die Realitäten nicht zur Kenntnis nimmt, fällt auf die Nase. Eine Partei, die Stimmungen nicht zur Kenntnis nimmt, fällt ebenfalls auf die Nase."
Schon in der Kommunalpolitik hat Scharping bewußt Menschen hinzugezogen, die selber nicht SPD-Mitglieder sind. 1991 schreibt er, Sozialdemokraten müßten sich "als reformerische Partei mehr dem Einfluß von Leuten öffnen, die kein Parteibuch wollen" . Weiter: "Wenn ich Phantasie und gesellschaftliche Innovation aus den Parteien raushalte, dann verknöchern sie, und für die Innovation bilden sich neue Formen. Es ist eine bittere, jetzt aber aufgearbeitete Erfahrung der Sozialdemokratie, daß sich in der Vergangenheit wichtige Veränderungen außerhalb der SPD abspielten und sich manchmal sogar gegen sie richteten."
"Aus Betroffenen Beteiligte machen", ist später Scharpings Devise als Ministerpräsident. Oder auch: "Die große Idee entfaltet ihren Sinn durch kleine, erfahrbare Schritte." Seinen Politikbegriff definiert er im Januar 1985 in einer bemerkenswerten Rede zum zwanzigjährigen Bestehen des Ortsvereins Herschberg so: "Politik ist nicht nur, ob man irgendwo an der Regierung ist, Politik findet nicht nur in den Medien und Parlamenten statt, Politik ist nicht nur eine Frage der Ideen und Werte - sondern vor allem der Menschen, die sie glaubwürdig verkörpern. Eine Partei braucht emotionale Fundamente. Sonst droht ihr das Schicksal der amerikanischen Parteien."
Schon 1982 analysiert Scharping, damals Fraktionsgeschäftsführer in Mainz, gründlich die neue Partei der Grünen. Er schreibt gemeinsam mit Joachim Hofmann-Göttig, seinem einstigen Mitstreiter im Juso-Bundesvorstand, zu jener Zeit bereits als Nachfolger von Paul Leo Giani Referent der SPD-Bundestagsfraktion für die Koordination mit den Ländern, einen Aufsatz in der "Zeitschrift für Parlamentsfragen". Die Autoren nehmen der SPD die Illusion, die Grünen seien eine nicht sonderlich ernstzunehmende "Ein-Punkt-Partei". Das von den Grünen abgesteckte Spektrum sei "deutlich breiter". Scharping und sein Ko-Autor kommen nach Analyse von 300 Redebeiträgen grüner Sprecher und Mandatsträger unter anderem zu folgenden Schlußfolgerungen:
"Die programmatischen Äußerungen der Grünen lassen wenig positive Gestaltungsabsichten erkennen. Der Umgang der Grünen mit Finanzproblemen offenbart ein naives bis illusionäres Verhältnis zum politisch Machbaren."
"Die Kritik der Grünen am Sozialstaat liegt in der Nähe neokonservativer Entstaatlichungs- und Privatisierungsforderungen. Die Grünen stehen in deutlicher Distanz zu den Gewerkschaften."
"Die emphatische Betonung des Pazifismus nach Außen steht bei einigen von ihnen im Widerspruch zu einer diffusen Grenzziehung gegenüber möglicher Gewaltanwendung im Innern und deren fragwürdige Legitimierung."
Obwohl Scharping und Hofmann-Göttig den Grünen keine große Zukunft voraussagen, warnen sie die eigene Partei: "Wir haben den Eindruck, daß den Hoffnungen und Sehnsüchten vor allem vieler jüngerer Bürger der traditionelle Politikbetrieb nicht gerecht wird."

Von Frankfurt bis Seeheim


Lange hat sich Scharping zum linken Flügel der SPD gezählt und an den Tagungen des linken "Frankfurter Kreises" teilgenommen. Nach seiner Wahl zum Landesvorsitzenden ist er selber Gastgeber; er lädt die Genossen ins Schützenhaus der St. Sebastianus-Schützen von Koblenz-Ehrenbreitstein ein.
Am 23. Mai 1987 kommt es zu einer denkwürdigen Zusammenkunft des Frankfurter Kreises im Novotel Bonn. Scharping hat gerade seine erste Wahl als Spitzenkandidat verloren, Hessen ist an die CDU verlorengegangen, Willy Brandt zurückgetreten. Scharping legt selbstkritisch Rechenschaft ab: "Wir mußten die völlig zerstörte Motivation der Partei wieder aufbauen. Ehrlicherweise muß man feststellen, daß die CDU auch verloren hat, weil die konfessionellen Bindungen sich allmählich auflösen. In der SPD-Mitgliedschaft gibt es eine tiefe Verunsicherung in Fragen, die über die Tagesaktualität hinausgehen. Das Gerede über Bündnisfragen hat zur Folge, daß Jugendliche in der SPD eine opportunistische Partei sehen. Wir haben in Rheinland-Pfalz das Gefühl eines Grippekranken, der das erste Mal kein Fieber mehr hat - erleichtert, aber noch nicht gesund."
Peter von Oertzen, der linke Partei-Vordenker vom Steinhuder Meer, sieht die Kräfteverhältnisse ganz nüchtern: "Es hat nie eine Mehrheit für den demokratischen Sozialismus gegeben - selbst bei der Willy-Wahl 1972 nicht. Die Aufsplitterung zwischen Rot und Grün hat sich seit zehn Jahren entwickelt und ist nicht so einfach rückgängig zu machen."
Der "Frankfurter Kreis" verliert mit der Zeit an Bedeutung, Scharping gehört bald nicht mehr zu den ständigen Teilnehmern. 1989 beteiligt er sich an einem Sammelband unter dem programmatischen Titel "Die linke Mitte heute", der von Florian Gerster und Dietrich Stobbe herausgegeben wird, zwei Exponenten des "Seeheimer Kreises", dem Gegenstück zum linken Frankfurter Kreis. Scharpings Aufsatz hat den Titel "Öffnung für eine neue Generation - Wertewandel und politisches Engagement" und enthält einige sehr grundsätzliche Aussagen, die den Standort des Autors kennzeichnen. "Als Partei wollen wir Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, den Schutz der Lebensgrundlagen und die Sicherung des Friedens. Wir selbst sind verpflichtet, den Sinn unseres politischen Handelns als reformerische, verändernde Kraft und den inneren Zusammenhang unserer Politik zu vermitteln. Konservative Politik bewahrt Strukturen. Ihr genügt das schlichte weiter so'. Jeder kann aber heute erkennen, daß es so nicht weitergeht, wenn die Gesellschaft nicht sozial und kulturell zerfasern, ökologische Katastrophen und die Unfähigkeit der Politik zur Gestaltung das Ergebnis sein soll. Gerade die SPD mit ihren Grundforderungen und Grundwerten für ein menschliches und friedliches Zusammenleben muß Informationen zusammenfassen und bündeln, einzelne Mosaiksteine zu einem überschaubaren Ganzen zusammenfügen, an Werten orientieren und zugleich Interessen organisieren."
Rückblickend auf die Streitfragen der siebziger und frühen achtziger Jahre wie Umweltschutz, Atomkraft und Nachrüstung schreibt er weiter: "Unsere Diskussion war notwendig, aber sie erschien vielen als innerparteiliches Gerangel, auch bestimmt von sachfremden Bedürfnissen nach Macht und Mehrheit. Das hat das Aufkommen der Grünen begünstigt. Ähnliche Wirkungen hatte die Debatte über die Nachrüstung`. Jeder konnte spüren, daß die Sozialdemokratie Loyalität zur Erhaltung von Regierungsverantwortung eine Zeitlang höherstellte als innere Überzeugung. Da ist es kein Wunder, wenn die 1983 gezogenen Schlußfolgerungen vielen Jüngeren wie ein opportunistischer Schwenk erschienen. Diese Wahrnehmung unserer eigenen politischen Diskussion haben wir selbst begünstigt. Denn bisher ist unserer Partei nicht gelungen, was wir für die Zukunft leisten müssen, nämlich: Die offene Vermittlung von unterschiedlichen politischen Auffassungen auf der Grundlage offen erarbeiteter Informationen und vor dem Hintergrund der die Sozialdemokratie verbindenden politischen Ziele. Politische Glaubwürdigkeit ist neben klaren politischen Zielen der zentrale Wert, mit dem neue Hoffnungen auf die Sozialdemokratie verbunden werden. Glaubwürdigkeit erfordert Übereinstimmung von Denken, Reden und Handeln. Sie entsteht nicht aus der Abgeschlossenheit scheinbarer Patentrezepte, die wir gut verpackt und als geschlossenes Paket werbend vermitteln."
Seine Utopie formuliert er so: "Wer Aufklärung und Sinnlichkeit, Rationalität und Spaß an praktischer Gestaltung, Ideale für die Zukunft mit alltäglicher Arbeit verbindet, global denkt und lokal handelt, der kann aus dem individuellen Anspruch an das eigene Leben auch die Phantasie, den Mut und die Tatkraft für eine neu begründete solidarische Gesellschaft entwickeln. Das ist eine konkrete Hoffnung. Aus dem Mut zum Träumen erwächst die Kraft zum Kämpfen. Sie macht aus Utopien von heute die Realitäten von morgen. Sie kann darauf verzichten, über Vereinzelung, fehlende Erfahrung von sozialer Bindung und mangelndes historisches Wissen die ideologischen Gewölbe von vorgestern zu errichten."
Im November 1992 taucht Scharping auf der Jahrestagung des "Seeheimer Kreises" auf. Thema der Veranstaltung: "Regierungsfähigkeit". Er beklagt die unzureichende wirtschaftliche Kompetenz der Partei; ohne sie könne man keine Wahlen gewinnen. Günter Bannas schreibt in der "Frankfurter Allgemeinen" über Scharpings Seeheim-Auftritt: "Diese pragmatischen, gewerkschaftsnahen, vor allem aber regierungswilligen Sozialdemokraten betrachten den früheren Linken längst als einen der Ihren und als Hoffnungsträger der SPD."
Im Vorfeld des Wiesbadener Parteitages wirbt Scharping, mittlerweile Parteichef, zunächst bei der Gruppe der linken Bundestagsabgeordneten um Zustimmung für seine Positionen. Am 16. Oktober 1993 sind es dann aber wiederum die Seeheimer, die Scharping in Tutzing besucht, wo sie sich auf den Parteitag vorbereiten. Sprecher der Seeheimer ist mittlerweile der Hannoveraner Abgeordnete und IG Chemie-Funktionär Gerd Andres. Er stammt wie Scharping aus dem Westerwald - aus Wirges, vierzehn Kilometer von Scharpings Geburtsort Niederelbert entfernt -, und er war nach ihm stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos.
"Regieren macht konservativ", hat Christoph Grimm nach zwei Jahren Regierung Scharping bilanziert und die diskussionslose Geschlossenheit der rheinland-pfälzischen SPD beklagt. Alte sozialdemokratische Ideen, so der Scharping-Nachfolger im Vorsitz des SPD-Bezirks Rheinland/Hessen-Nassau, scheiterten an Schranken, "die andere aufgestellt haben". Und es könne eben nur das ausgegeben werden, was die Gesellschaft erarbeitet hat. Womit Grimm einen der Parameter Scharpingscher Politik-Vorstellung trifft. "Das hat er von Wilhelm Dröscher gelernt", sagt sein langjähriger Wegbegleiter Herbert Bermeitinger, "daß man erst fragen muß, wo das Geld herkommt, ehe man es ausgibt." Nicht ganz zu Unrecht hat man der Sozialdemokratie vorgeworfen, gerade darauf keine Rücksicht zu nehmen - solange die Kassen noch gefüllt waren. Scharping fordert denn auch "Schluß mit der traditionellen sozialdemokratischen Verhaltensweise: verteilen, verteilen, verteilen".

Der "Enkel" Willy Brandts

Rudolf Scharping, so wird nicht zu unrecht vermutet, sei am Ende Willy Brandts "Lieblings-Enkel" gewesen. "Vergeßt mir den Mainzer nicht", hat der einmal gesagt. Scharping war einer der letzten Besucher am Krankenlager des SPD-Ehrenvorsitzenden. Über seinen Besuch in Unkel an einem heißen Augusttag des Jahres 1992 notiert er in einem Nachruf, der im November 1992 im "Vorwärts" erscheint: "Willy, aufmerksam für die politischen und gelassen in persönlichen Dingen, über ein Schlußwort' nachdenkend, und doch im gefurchten Gesicht, das wir kennen, gelegentlich ein leises, ja, heiteres Lächeln." Als der unheilbar an Darmkrebs erkrankte 78jährige am späten Nachmittag des 8.Oktober stirbt, erfährt Scharping als erster von seinem Tod, respektiert aber den Wunsch der Witwe, die Nachricht erst später bekanntzugeben. Gleich am nächsten Morgen ist er bei ihr in Unkel. Er gehört auch zum kleinen Kreis derjenigen, die am 17. Oktober Brandt auf dem Waldfriedhof in Berlin-Zehlendorf das letztes Geleit zum Ehrengrab des Berliner Senats geben.
Die Beziehungen zwischen den beiden SPD-Politikern, zwischen denen 34 Jahre liegen, reichen in die Zeit zurück, als Scharping im Juso-Bundesvorstand ganz im Sinne des Parteichefs die Schülerarbeit neu organisierte. Engere Kontakte gibt es aber erst, nachdem Brandt 1980 mit seiner neuen Lebensgefährtin und späteren dritten Frau Brigitte Seebacher nach Unkel am Rhein gezogen ist. Die Kleinstadt liegt im Norden von Rheinland-Pfalz, unmittelbar an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen. Brigitte Seebacher-Brandt wird SPD-Ortsvereinsvorsitzende und übt dieses Amt bis 1987 aus. Scharping ist als Chef der SPD Rheinland/Hessen-Nassau "ihr" Bezirksvorsitzender.
Als Scharping am 28. September 1985 in Bad Kreuznach zum Landesvorsitzenden gewählt wird, ist Brandt - damals noch Parteichef - selbstverständlich Ehrengast. Er macht den Delegierten Mut: die Chance, die schwarze Mehrheit in Mainz zu kippen, sei da. "Was an der Saar möglich war, muß auch hier möglich sein", sagt er in Anspielung auf den wenige Monate zurückliegenden Sieg Lafontaines im Nachbar-Bundesland. Auf die Frage, was er von dem großen alten Mann gelernt habe, sagt Scharping: "Menschlich viel, politisch? Vielleicht dies: eine Linie, einen Kurs durchhalten, sich nicht vom Tagespolitischen beeinflussen lassen."
Die neue Verbindung Brandt-Scharping klappt jedoch nicht immer so ganz nach dem Wunsch des SPD-Vorsitzenden. Johannes Rau ist Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl am 25. Januar 1987. Dabei taucht ein Problem auf: Natürlich muß der Spitzenkandidat der SPD auch an der Spitze seiner eigenen Landesliste stehen. Das aber ist seit mehreren Wahlen der Stammplatz von Willy Brandt. Mittlerweile ist der Parteichef rheinland-pfälzischer Bürger geworden. Was liegt also näher, als ihn diesmal in Rheinland-Pfalz an die erste Stelle der Landesliste zu setzen.
Nachdem Brandt Ende 1985 Scharping auf eine Polen-Reise migenommen und weiteres Zutrauen zu dem jungen Mann gefaßt hat, fragt er ein paar Monate später bei ihm wegen des Landeslistenplatzes an. Scharping verspricht ihm zu helfen und redet mit seinen Bezirksvorsitzenden. Seinerzeit sind die drei Bezirke in Rheinland-Pfalz noch sehr stark, vor allem verfügen sie über feste Landeslistenplätze. Ohnehin ist alles eng, denn bestenfalls Platz 13 gilt noch als sicher. Scharping muß feststellen, daß sich nichts mehr bewegen läßt. Selbst in seinem eigenen Bezirk hat man schon alles aufgeteilt. Und außerdem will niemand die Regel durchbrechen, daß ein Listenkandidat auch direkt in einem Wahlkreis kandidieren muß. Selbst der für Brandt zuständige Wahlkreis Neuwied-Altenkirchen ist längst vergeben, zumal hier die feste Absprache gilt, daß abwechselnd die Landkreise Neuwied und Altenkirchen dran sind. Diesmal ist der Neuwieder SPD-Chef Manfred Scherrer, ein alter Scharping-Freund, fest gebucht.
Ganz abgesehen von der Frage, ob Brandt eine Direktkandidatur zuzumuten gewesen wäre, taucht ohne das Zutun von Scharping sofort ein anderes Problem auf: Brandts Frau Brigitte ist bei der SPD im Kreis Neuwied nicht unumstritten. Es wird die Parole ausgegeben: Wenn Willy erst einmal kandidiert, will sie später in seine Fußstapfen treten.
Ob Brandt von diesem Kulissengerangel je erfahren hat, ist fraglich. Als er Scharping Anfang 1986 seinen Wunsch nach Landeslistenplatz 1 in Rheinland-Pfalz vorträgt, ist es zu spät. Der mag zwar ein starker SPD-Landesvorsitzender sein, aber mit Brachialgewalt kann auch er nichts durchsetzen. Zerknirscht teilt er Brandt mit, es lasse sich nichts machen, und er möge doch bitte weiterhin in Nordrhein-Westfalen kandidieren.
"Ein wenig enttäuscht war Willy schon", gibt Scharping zu. Aber Spuren von Verärgerung bleiben damals bei dem großen alten Mann nicht zurück. Im Gegenteil. Er setzt auf Scharping, unterstützt ihn vor allem im Landtagswahlkampf 1991. Der letzte große, denkwürdige Auftritt ist am 18. April 1991, unmittelbar vor dem Wahlsonntag. In der Lahnsteiner Stadthalle treten auf: Willy Brandt und Konstantin Wecker. Eine große Umarmung zwischen den Generationen. Brandt beschwört den Wahlsieg, der dann auch eintritt, Wecker bietet das beste aus seinem Repertoire. So etwas hat das kleine Städtchen am Rhein lange nicht erlebt.
Brandts Engagement 1991 ist wohl auch ein Stück Wiedergutmachung dafür, daß vier Jahre zuvor sein eigener Rücktritt als Parteichef der SPD in Rheinland-Pfalz ziemlich ungelegen gekommen war. Da taucht jener 21. März 1987 wieder aus der Erinnerung auf, als Brandt und seine "Enkel" in Norderstedt beisammensitzen. Scharping ist gemeinsam mit Björn Engholm, Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine, Heidemarie Wieczorek-Zeul und Herta Däubler-Gmelin dabei, aber steht noch nicht im Mittelpunkt. Brandt ist entschlossen, am folgenden Montag sein vorzeitiges Ausscheiden als Parteichef bekanntzugeben, nachdem er die Griechin Margarita Mathiopoulos nicht als Parteisprecherin hatte durchsetzen können. Was nun? Alles scheint auf Lafontaine zuzulaufen, der auch schon über ihm nahestehende Journalisten sein Ja signalisiert hatte. Doch Lafontaine zaudert. Er fühle sich noch zu jung für die Verantwortung. Der Generationswechsel bleibt aufgeschoben - Hans-Jochen Vogel wird in die Pflicht des Doppelamts eines Oppositionsführers und Parteichefs genommen.
In Brandts Erinnerungen liest sich das so: "Am 23. März teilte ich dem Parteivorstand mit: Ich gedächte, meinen Abschied zu nehmen, und bäte, den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Dr. Hans-Jochen Vogel, zu meinem Nachfolger zu bestellen. Überrascht war niemand. Ich fühlte mich in meinen Vorschlägen durch eine Aussprache bestätigt, die ich am voraufgegangenen Wochenende mit jüngeren Parteiführern gehabt hatte." Kein Wort der Enttäuschung über Lafontaine.
Ein zweites Mal zaudert der Saarländer am Tag nach der verlorenen Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990. Vogel bietet ihm den Parteivorsitz an - er sagt nein, fühlt sich unter Entscheidungsdruck gesetzt. Hinzu kommt, daß Brandt in der Vorstandssitzung am 3. Dezember mit der Wahlkampfstrategie des Saarländers abgerechnet hat. Er habe den Eindruck erweckt, daß ihn die deutsche Einheit nicht interessiere. "Macht doch euren Kram alleine", wollen Teilnehmer daraufhin aus dem Mund von Lafontaine vernommen haben.
Selbstzweifel dieser Art hat man bei Scharping nicht wahrgenommen. Das muß wohl auch Brandt damals gespürt haben, als Lafontaine absagt und Engholm sich Bedenkzeit ausbittet. Schon damals bringt der Ehrenvorsitzende vorsichtig Scharping als Parteichef ins Gespräch. Als am Tag darauf in der Sitzung des Pateirates jemand Brandt einen Zettel mit dem Satz zuschiebt: "Jetzt ist nichts wichtiger, als Rudolf zu helfen", da habe, so wird berichtet, der alte Herr genickt. Engholm selbst, noch die Flucht aus der neuen Verantwortung versuchend, die da auf ihn zuläuft, nennt ebenfalls den Namen Scharping.
Eine Woche nach dem Wahlsonntag - Lafontaine hat sich längst urlaubend nach Spanien abgesetzt - trifft sich die SPD-Spitze unter Beteiligung der Länderchefs auf dem Frankfurter Flughafen. Engholm läßt sich breitschlagen, die Parteiführung zu übernehmen. Scharping kommentiert den Vorgang mit den Worten: "Ihr habt ihn in die Sänfte gesetzt. Hoffentlich wißt ihr, daß ihr ihn jetzt auch tragen müßt."
Anläßlich von Brandts Tod hat Scharping noch einmal rekapituliert, wie das drei Jahre zuvor, 1987, in Norderstedt gewesen war. Ein "kleinkariertes Gerede" habe es um die parteilose Griechin gegeben. Er beklagt die "Unernstigkeit", mit der die "Enkel" mit der Zukunft der Partei umgingen, und erinnert sich: "Der Abschied am Morgen, zufällig auf dem Parkplatz, und das flaue Gefühl, da geht etwas zu Ende, und keiner, der könnte, packte zu, halte und stütze." Seinen Nachruf auf Brandt, in dem er sich an die Szene erinnert, schließt er mit dem Satz: "Willy Brandts Leben vermittelt eine große Zuversicht."
Die Brandt-Witwe: ein schwieriges Kapitel. Selbst Vogel und Rau haben ihre Schwierigkeiten mit ihr. Als sich Streit um das Brandt-Archiv abzeichnet, weil Brigitte Seebacher-Brandt sich als Alleinerbin betrachtet, fährt Engholm mit klaren Ratschlägen aus der Friedrich-Ebert-Stiftung nach Unkel. Doch es gibt kein Ergebnis. Engholm plaudert mit ihr lieber über Kunst, sie überläßt ihm die Meistermann-Grafik "Schwarz-rot-gold" als Leihgabe.
Scharping wird nachgesagt, noch die besten Beziehungen zur Witwe zu haben. Er kann sie überzeugen, zum "Asylparteitag" Mitte November 1992 nach Bonn zu kommen. Die Partei ehrt dort ihren langjährigen Vorsitzenden, Scharping ist an ihrer Seite. Als beide im März 1993 in der SAT1-Talkshow "Talk im Turm" beisammensitzen und Brigitte Brandt Engholm mit den Worten abqualifiziert, ihr Mann hätte dazu gesagt, man müsse mit dem auskommen, was man habe, sitzt Scharping stoisch daneben, läßt sich nicht provozieren, während sich die Mit-Diskutanten Joschka Fischer und Heiner Geißler über die streitbare Dame erregen.
Die Regelung des Brandtschen Nachlasses scheint alsbald festgefahren. Über die "Berliner Morgenpost" teilt die Witwe der Öffentlichkeit mit, sie denke an eine Gedenkstätte in Form einer Bundesstiftung im Schöneberger Rathaus von Berlin. Sie habe mit Scharping darüber bereits Einvernehmen erzielt - was dieser bestreitet, ohne sich öffentlich in der Sache zu äußern. Er setzt auf stille Diplomatie, besucht Brigitte Brandt in Unkel. Ständiger Mittelsmann ist Christoph Charlier, Sprecher der Mainzer SPD-Landtagsfraktion, jahrelang an der Seite von Brigitte Brandt an der Spitze des SPD-Ortsvereins Unkel.
Zum Sonderparteitag, auf dem Scharping gewählt werden soll, erscheint die Brandt-Witwe nicht. Auf die Einladung von Bundesgeschäftsführer Blessing antwortet sie mit einer Absage. Sie ist beleidigt, weil Blessing der "Bild"-Zeitung zu Spekulationen, die CSU wolle sie abwerben, gesagt hatte, so etwas täten "anständige Sozialdemokraten" nicht. Wird sie, so wurde schnell gemunkelt, an Scharping die Taschenuhr August Bebels weiterreichen, die ihr Mann zuletzt besaß? Ende August 1993 ist Scharping zu später Stunde in Unkel. Was im Haus auf dem Rheinbüchel besprochen wird, behält er für sich.
Am 8. Oktober 1993, dem ersten Jahrestag des Todes von Willy Brandt, findet im Rathaus von Berlin-Schöneberg eine Gedenkfeier der SPD statt, die Scharping nutzt, an die Ostpolitik des früheren Kanzlers zu erinnern und sie weiterzuentwickeln: "Dank an das Lebenswerk Willy Brandts kann man am besten dadurch ausdrücken, daß man den Blick nach vorne richtet - und eine neue Ostpolitik ins Auge faßt." Scharping setzt sich dafür ein, durch eine über den bestehenden NATO-Kooperationsrat hinausgehende echte Mitgliedschaft der osteuropäischen Staaten die NATO zu erweitern. Dies könne Krisenlagen dämpfen und Konflikte vermeiden. Genauso eindeutig sagt er aber auch: "Dagegen würde eine rasche Mitgliedschaft solcher Staaten in der europäischen Gemeinschaft vermutlich eher die wirtschaftlichen und sozialen Probleme erheblich steigern, nicht nur in diesen Ländern, sondern auch im Westen Europas."

Vorbild Helmut Schmidt


Von Brandt hat Scharping gelernt, was "Compassion" bedeutet, die Fähigkeit, sich in das einzufühlen, was die Menschen bewegt. Die "Visionen und den Mut" Brandts nehme er sich ebenso zum Vorbild wir die "Klarheit und Effizienz" Helmut Schmidts, hat er mehrfach geäußert. Schmidt - das ist das andere Vorbild des Rheinland-Pfälzers, und in seinem alltäglichen Handeln eifert er offenkundig eher dem Hamburger nach als dem Lübecker.
Schmidt selber hat zunächst seine Probleme mit dem bärtigen Nachwuchsstar aus dem Südwesten. Er ordnet ihn in die Kategorie "68er" ein, schaut dann aber genauer hin. Er läßt sich überzeugen, einen Beitrag zur ersten Jahresbilanz der Regierung Scharping zu verfassen. Darin stellt der Ex-Kanzler Scharping in die Tradition von Wilhelm Dröscher, Klaus von Dohnanyi und Hugo Brandt. "Scharpings Stil ist nicht die Verbreitung lupenreiner Thesen. Mit Intelligenz, Wachsamkeit und Fleiß hat er sich wirtschaftlichen Sachverstand und Urteilsvermögen erarbeitet, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen akzeptiert werden."
"Dieser Ministerpräsident", so schreibt Schmidt weiter, "setzt auf das Gespräch. Er sucht es gleichermaßen mit den Moselwinzern, den Handwerkern und dem Management großer Unternehmen... Seine auf das künftige geeinte Europa orientierte Zukunftsinitiative ist ein gut durchdachter Ansatz künftiger Perspektiven für Rheinland-Pfalz."
Am "Tag des Ortsvereins" hat Schmidt dann Scharping gewählt, nachdem er zwei Tage zuvor noch mit ihm in seinem Hamburger Büro gesprochen hatte. Und als Johannes Rau vorfühlt, ob Schmidt bereit sei, als Überraschungsgast auf dem Sonderparteitag zu sprechen, fragt er zwar den einen oder anderen Vertrauten um Rat, doch sein Entschluß für die Zusage steht längst fest, auch, als er noch zweimal mit Scharping darüber telefoniert.
Drei Tage später sind die beiden wieder zusammen: in Ludwigshafen, zur Verabschiedung des langjährigen Ludwigshafener Bürgermeisters Werner Ludwig, Weggefährte Schmidts aus jugendbewegten Nachkriegsjahren beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS).
Scharping will den ehemaligen Bundeskanzler wieder stärker in die Partei einbinden. "Warum", so fragt er, "muß ein Mann wie Helmut Schmidt eigentlich ein Buch schreiben, in dem er sagt, wie es mit diesem Land weitergeht. Warum soll er seinen Rat nicht in der SPD geben?"