H Personenbeschreibung

Image und Wirklichkeit

Sportlicher Ehrgeiz

Das "Viermädelhaus"

Der Bart

Freunde und Mitarbeiter

Lebenswege

Aus der Sicht der Gegner

Lebenslauf

Image und Wirklichkeit


Als die "Bild"-Zeitung dem Aufsteiger Scharping "Westerwälder Schwermut" bescheinigt, protestiert Jupp Castor, sein "Bodyguard": "Die so etwas schreiben, sollten mal nach Mainz kommen, wenn die Staatskanzlei von seiner 300-Watt-Stereoanlage erzittert. Wenn er zum Beispiel eine CD von Eric Clapton, dem United Jazz And Rock Ensemble oder einen Vivaldi auflegt." Er kann gesellig sein, Witze erzählen. Er kann...
Dennoch wird Scharping so schnell sein Image nicht los. "Spröde" sei er, schreibt jede zweite Zeitung. Er bewege sich, als habe er einen Besenstil verschluckt. Die FAZ meint, er könnte "ein gemeinsamer Enkel von Robert Mitchum (Haltung) und Walter Matthau (Gang) sein".
"Er geht gravitätisch wie Willy Brandt als Siebzigjähriger", witzeln anfangs die Genossen in der Parteizentrale. Die Parallele zu Brandt, der bei aller Herzlichkeit Distanz spüren ließ und selten Gefühle und Stimmungen nach außen kehrte, scheint nicht so ganz dabenen zu liegen. Selbst Christoph Grimm, Landtagspräsident und sein Nachfolger als Koblenzer SPD-Bezirkschef, sagt: "Der Rudolf tut sich schwer, Emotionen zu zeigen." Der "Stern" zitiert einen namentlich nicht genannten FDP-Minister des Kabinetts: "Alles bei ihm ist durchdacht. Selbst Spontaneität ist inszeniert." Daß ihm "Biederkeit" nachgesagt wird, ist noch das geringste. "Ich muß erst mal im Lexikon nachschauen, was das eigentlich ist", kontert er.
Der Sängerpoet Konstantin Wecker, einer seiner Freunde außerhalb des Alltagsgeschäfts, mit dem er lieber die Brahmsschen Violinsonaten in der Interpretation von Nigel Kennedy hört als über Asylpolitik zu diskutieren, sieht ihn so: "Ein aufrichtiger Mensch mit großem kulturellen Verständnis, der genießen und witzig sein kann." Der Aufstieg zur Macht habe "ihn überhaupt nicht verändert, er ist mein Kumpel geblieben, mit dem gleichen offenen Haus". Aber auch der quirlige Wecker bestätigt indirekt das Manko im Emotionalen des Rudolf Scharping, wenn er dem "Stern" sagt: "Vielleicht kann er aus meiner Spontaneität was saugen."
Verräterisch immerhin Scharpings Bekenntnis , er fahre gerne zu Weinfesten und anderen geselligen Ereignissen draußen im Land, "um der Herrschaft der Vermerke zu entrinnen". Gerne bricht er aus dem Korsett der Amtsgeschäfte aus, redet über anderes als Politik. Etwa, wenn die Redakteure einer Lokalzeitung in Speyer bei seinem Redaktionsbesuch von ihm erfahren, wo man im Südwesten Frankreichs für bescheidene 110 Francs bestens essen kann.
Wie sieht Scharping sich selbst? Auch er hat irgendwann einmal den berühmten Fragebogen des FAZ-Magazins ausfüllen müssen. Das war Ende 1991, da war er schon ein halbes Jahr lang Ministerpräsident. Was ist für Sie das größte Unglück? "Ignoranz gegenüber menschlichem Leid." Was wäre für Sie persönlich das größte Unglück? "Das meinen Kindern widerfahrende." Wo möchten Sie leben? "Hier und jetzt." Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück? "Liebe, Zeit, bunte Wiese, blauer Himmel, trockener Riesling, am besten alles zusammen." Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten? "Die eingesehenen." Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten? "Sensibel, humorvoll, tapfer." Die gleiche Antwort gibt er für Frauen.
Dann all die Lieblingsgestalten. Romanhelden: "Die Besonnenen, der kleine Prinz." Geschichte: "Menschliche Menschen." Heldinnen der Wirklichkeit: "Frauen, die sich gegen Krieg und Gewalt engagieren." Heldinnen der Dichtung: "Die Anmutigen." Maler: Picasso, Feininger, Frank. Komponisten: "Warum nur Komponisten?" fragt Scharping zurück und zählt auf: Mozart, Jarrett, Vivaldi, Nannini, Tschaikowsky, Mangelsdorff. Lieblingsfarbe: Rot. Lieblingsblume: Gänseblümchen. Lieblingsvogel: Friedenstaube. Lieblingsschriftsteller: Nadolny, Kundera, Márquez. Lieblingsnamen: Jutta, Susanne, Tina, Julia (natürlich sein vier Frauen daheim).
Fußballer hätte er gerne werden wollen, besäße gerne die Sprache und Musikalität von Konstantin Wecker und Hanns Dieter Hüsch. "Geduldige Konsequenz" nennt er seinen Hauptcharakterzug, "gelassen und frei" möchte er sein, "bewußt und zuversichtlich" sterben, "Haß und Borniertheit" verabscheut er am meisten, "Offenheit und Verläßlichkeit" schätzt er an seinen Freunden, als "neugierig und wach" bezeichnet er seine Geistesverfassung. Sein Lebens-Motto: "Bedenke wer du bist."
Das ist Scharping, wie er sich sieht, wie er gerne sein möchte. Das alles scheint O-Ton zu sein, nicht aufgeschrieben von findigen PR-Leuten. Es überrascht aber auch nur in den wenigsten Punkten. Das Spektrum seiner Eigenschaften hält sich in Grenzen.
Der "Bild am Sonntag" nennt er "Fußballer" als seinen Traumberuf. Sein Fehler sei "zuviel Geduld". Die Lieblingsrolle, die er spielen würde: "In Wim Wenders Himmel über Berlin' die Rolle, die Bruno Ganz spielt." Und wenn er eine Million übrig hätte - er würde sie nicht verprassen, sondern: "Mein Haus abbezahlen". Als sein Gewicht gibt er 94 Kilo an,als Körpergröße 1,89 m, Schuhgröße 44 und Konfektionsgröße 52.
"Ich bin ein zuversichtlicher Realist", sagt er von sich selbst. "Ich glaube, daß ich eine optimistische Grundeinstellung habe, aber es gibt auch Verhältnisse, in denen Optimismus sehr aufgesetzt wirken kann. Wenn ich mir das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft, die Armutsentwicklung, die Kriminalität ansehe, glaube ich nicht, daß man mit einem fröhlichen Optimismus weiterkommt."
Werner Perger schreibt in der "Zeit": "Scharping ist kein Mann der politischen Experimente und gesellschaftlichen Versuche, die Zeit ist ja auch nicht danach. Vielleicht, um ein früheres Zeit'-Urteil abzuwandeln, passen Mann und Zeit diesmal zusammen. Führen könne nicht heißen, Querschnittsmeinung zu bilden,... Ich kann nicht alle bedienen.'"
Und Gunter Hofmann schreibt im gleichen Blatt: "Die Entdeckung der Langsamkeit oder der Selbstbegrenzung als Prinzip, darin steckt sein Geheimnis."

Sportlicher Ehrgeiz


Eine von Scharpings Eigenschaften jedenfalls heißt Ausdauer. Dazu passen seine sportlichen Ambitionen. In der Schule tat er sich als Speerwerfer hervor. ("Man sieht es heute noch an seinen Händen", sagt seine Frau.) Als Jung-Politiker war er ein begeisterter Kicker und ist es bis heute geblieben. Er wurde Vorsitzender der "SG Eintracht Lahnstein", ist bis heute Präsident des Vereins. Für Fußball-Freundschaftsspiele findet er als Mitglied des "FC Schwarz-Rot Landtag" bei aller Terminenge noch immer Zeit. Gelegentlich sogar für ein Tennismatch.
Beim Fußball, so sagt er, habe er gelernt, "daß eine Mannschaft, die auf den Platz geht und unentschieden spielen will, in der Regel verliert". Als er schon Oppositionsführer ist, entdeckt er den Radsport. Er kauft sich ein Rennrad, "ein ganz normales mit einem 28er Kranz, 14 Gängen." Dreitausend Kilometer pro Jahr sind sein Pensum geworden. Er hat schon Zweitausender wie den Mont Ventoux oder Paßstraßen in den französischen Pyrenäen erklommen, die bei der Tour de France zum schwierigsten Teil gehören. "Es ist eine Herausforderung, wenn man den inneren Schweinehund überwindet", sagt er. Und er radelt rund um und kreuz und quer durch Mallorca und schwingt sich natürlich auch bei rheinland-pfälzischen Festivitäten in den Sattel, wann immer es paßt, und küßt artig wartende Weinköniginne - nicht im dunklen Zweireiher, sondern im grellfarbigen Radfahrer-Trikot. Honoratioren und Freunde, die es ihm an Sportlichkeit gleichtun wollen, hängt er schnell ab. Selbst seine Leibwächter keuchen. Das Landeskriminalamt mußte ihnen wohl oder übel Rennräder kaufen, damit sie ihren Schutzbefohlenen in jeder Situation überwachen können.
Der sportliche Ehrgeiz verbindet Scharping mit dem passionierten Tennisspieler Gerhard Schröder. Der Niedersachse steht ihm konditionell nichts nach, ist als Läufer sogar noch schneller: hundert Meter in 12,6 Sekunden. Scharping brauchte beim Sportabzeichen zwei Sekunden mehr, ist dafür zu Rad unschlagbar. Schröder sarkastisch: "Ich gönne Rudolf Scharping die Ehre, der beste Radfahrer der SPD zu sein."
"Radfahren verschafft frische Luft, verlangt Ausdauer und Krafteinteilung", sagt Scharping, und es will nicht so recht dazu passen, daß er sich erst einmal ein Zigarette ansteckt, wenn er einen Gipfel erklommen hat. Aber er kann es sich wohl leisten, denn Krankheiten hat er, sieht man von einer Mandeloperation ab, nie gehabt.

Das "Viermädelhaus"


Sommer 1969. Die achtzehnjährige Winzerstochters Jutta Krause aus dem rheinhessischen Volxheim, nahe bei Bad Kreuznach, beendet gerade ihre Berufsausbildung als Chemielaborantin bei Boehringer in Ingelheim. Dort gibt es Konflikte mit der Betriebsjugendvertretung, deren Arbeit die Firmenleitung verhindern will. Jutta Krause ist zwar nicht unmittelbar engagiert, interessiert sich von nun an aber für Politik. Ihr Bruder und ihre Freundin betätigen sich zusammen mit einem bärtigen Studenten aus Bonn namens Rudolf Scharping als Wahlkampfhelfer für Wilhelm Dröscher, den SPD-Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises Bad Kreuznach. Jutta läßt sich überreden, an einer Bauernkundgebung mit dem sozialistischen EG-Kommissar Sicco Mansholt teilzunehmen. "Da hatte ich den ersten Blickkontakt mit Rudolf", erinnert sie sich. Dann geht sie mit auf "Canvassing"-Tour, also Klinkenputzen, und lernt Rudolf Scharping ein bißchen näher kennen.
Aber erst auf der Wahlfete am Abend des 28. September 1969, der die Voraussetzungen für die sozialliberale Koalition in Bonn bringen sollte, kommen sich die beiden näher. Jutta tritt noch 1969 der SPD bei. Rudolf Scharping hat damals eine kleine Studentenbude am "Pützchens Markt" in Beuel, dem damals noch selbständigen Gegenüber von Bonn. Jutta findet eine Anstellung als Chemielaborantin beim Lebensmitteluntersuchungsamt der Stadt Bonn, ist zuständig für die Analyse von Pestizid-Rückständen in Lebensmitteln. Die beiden finden eine kleine Wohnung in der Adolfstraße in der Bonner Nordstadt. 1971 beschließen sie zu heiraten. Im Wonnemonat Mai soll die Hochzeit sein. Doch da bekommt Rudolfs Mutter die Einladung, am "Friedenszug" nach Moskau teilzunehmen. Rudolf sagt: "Hilde mach's, wir verschieben unsere Hochzeit." Schließlich geht es im Juli zum Standesamt.
Bis Ende 1974 leben die beiden in Bonn. Jutta bekommt schon damals einen Vorgeschmack auf das Leben als Politikerfrau. Rudolf hat seinen ersten Wohnsitz weiter bei den Eltern in Lahnstein, denn dort macht er Kommunalpolitik. Fast jeden zweiten Abend hat er irgendwelche Versammlungen. Tagsüber arbeitet er als Assistent im Bundestag und studiert. 1974 ist dann das erste Kind unterwegs; Susanne wird am zweiten Weihnachtstag geboren. Kurz vorher ist das junge Paar nach Lahnstein umgezogen, in eine geräumige Mietwohnung in der Emser Straße 4 im Stadtteil Niederlahnstein, wo Rudolf ein richtiges Büro für seine politische Arbeit hat. Jutta ist seither nicht mehr berufstätig, sondern Hausfrau und Mutter.
Wer ist Jutta Scharping? Eine hellwache Frau, die innerlich wie äußerlich jung geblieben ist. Herzlich, direkt, zupackend. Sie ist weder der Typ der elegant herausgeputzten "Frau an seiner Seite" noch das zurückgezogene Hausmütterchen. War Rudolf ihr Traummann? "Geträumt habe ich von Winnetou", ist ihre nüchterne Antwort.
Am 29. März 1976 kommt das nächste Kind zur Welt. "Ich war fest überzeugt, daß es ein Junge wird", erinnert sich Jutta Scharping. Aber es ist wieder eine Tochter: Christine. "Tina" nennen die Scharpings sie von Anfang an. Am 23. April 1982 dann Nummer drei, auch diesmal eine Tochter: Julia. 1987 sieht man die Familie auf Wahlplakaten in ganz Rheinland-Pfalz. Ein bewußter Kontrast zum damaligen CDU-Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, dem eingefleischten Junggesellen, der trotzdem versucht, sich als Landesvater darzustellen. "Es würde schon einmal guttun, wenn fröhliches Kinderlachen auf den Gängen zu hören wäre", durchkreuzt Scharping unverhohlen diese Strategie.
Scharping als Familienvater. Paßt das überhaupt zu dem Karriere-Ehrgeiz? Die Bilder von der trauten Harmonie trügen nicht. "Einer, der so mit seinen Kindern umgeht, dürfte eigentlich nicht Ministerpräsident sein", hat seine Kultusministerin Rose Götte einmal gesagt. Damit trifft sie den wunden Punkt: Der politische Terminkalender hat für Rudolf Scharping immer Vorrang gehabt. Freunde der Familie wissen, daß Ehefrau Jutta so manches Mal verzweifelt gefragt hat, ob er denn nun jeder Einladung irgendeines kleinen Ortsvereins folgen müsse, um dann irgendwann weit nach Mitternacht nach Hause zu kommen und morgens um acht wieder am Schreibtisch zu sitzen.
Als er 1985 Landes- und Fraktionschef und 1991 Ministerpräsident wird, hat Scharping noch weniger Zeit für seine Kinder. Und in den Wochen, als es um den SPD-Vorsitz geht, wird der Hilfefruf von Tochter Julia von einer Fernsehkamera eingefangen: "Vati, wann hast Du mal wieder Zeit?" Immer seltener kommt er während der Woche nach Lahnstein, immer häufiger nächtigt er im Mainzer Regierungs-Gästehaus.
1991, nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten, beantwortet Scharping die Frage von "Bild am Sonntag", ob ihn sein Amt verändert habe, so: "Ich habe weniger Zeit, auch für die Familie. Das ist das Schlimmste. Ich beobachte, daß man von ganz normalem Tun von mir Notiz nimmt. Wenn ich in einer Kneipe in Koblenz flippern gehe, steht es am nächsten Tag in der Zeitung. Wenn ich zum Betzenberg gehe, wie alle Jahre vorher, wird das per Stadionlautsprecher verkündet. Und Jutta muß immer wieder sagen: 'Ich bin keine Landesmutter, ich bin Frau Scharping.' Das alles sagt eine Menge über das Verhältnis der Deutschen zum Staat aus."
Um ein Konzert des Saxophonisten Charlie Mariano in der Koblenzer Christuskirche zu hören, so erzählt er, habe er die Eintrittskarte einem jungen Mann auf der Straße abgekauft - "sonst lassen die an der Kasse den Ministerpräsidenten wieder umsonst rein".
Die beiden älteren Töchter gehen gerne mit ihrem Vater aus, aber sie legen Wert darauf, selbständige Individuen und nicht "Scharpings Töchter" zu sein. Zum letzten Mal haben sie sich im Landtagswahlkampf 1991 im Familienkreis fotografieren lassen. Sie waren auch noch dabei, als ihr Vater im Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. "Wenn die Familie sagt, das interessiert mich, da möchte ich gerne dabei sein, dann finde ich das in Ordnung", ist Scharpings Einstellung. Mittlerweile verweigern sich die Töchter der Neugier fotografierender und schreibender Journalisten. Beide jobben nach der Schule (sie besuchen dasselbe Gymnasium wie einst ihr Vater) in der Koblenzer "Brasserie" als Kellnerinnen. Scharping ist dort selbst gerne Gast, nimmt schon mal Besucher mit. "Wer war das eigentlich letztes Mal", fragt Susanne ihren Vater nach so einem Abend. "Ein Journalist", antwortet er. Sie: "Wenn Du mir das vorher gesagt hättest, hätte ich den nicht bedient."
Selbst "Nesthäkchen" Julia ist das Scheinwerferlicht leid. "Unverschämtheit, da hat mich doch gerade einfach einer fotografiert", beschwert sie sich am Abend des 13. Juni, als sie in Mainz den Sieg ihres Vaters bei der Mitgliederbefragung miterlebt. Scharping: "Wenn sie auf dem Schulhof gefragt wird, ob sie's denn wirklich sei und sagt, Nein, ich heiße Müller' signalisiert das auch etwas. Ich kann sehr gut verstehen, daß Kinder ihr eigenes Leben leben und nicht durch den Vater definiert werden wollen. Daß ich hingehe und sage: Liebe Tochter, geh doch mal auf einen Fototermin - diesen Fehler habe ich früher gemacht, und den werde ich nicht mehr machen."
So gibt es denn seit 1993 nur "Home-Stories" mit Ehefrau Jutta solo. Ihr macht es nichts aus, mit Journalisten zu reden. Niemand soll das Gefühl bekommen, es gebe etwas von dem zu verheimlichen, was in den vier Wänden der Scharpings geschieht.
Das Haus, ein Jugendstilbau an der Wilhelmstraße im Ortsteil Niederlahnstein, haben die Scharpings Ende 1980 für 450.000 Mark gekauft - auch ein Signal für Bodenständigkeit bei allem Karrierestreben. Ich erinnere mich an den ersten Besuch Mitte 1985. Die Untermieter im Obergeschoß, aus deren Mieteinnnahmen die Familie des Landtagsabgeordneten - die Diäten waren noch bescheiden - zunächst das Glück vom eigenen Heim mitfinanzieren mußte, sind gerade ausgezogen. Die Scharpings machen sich selbst an die Arbeit, das Haus zu renovieren, Juttas Vater, der Winzer, hilft mit. Er streicht die angegraute Fassade weiß, zimmert das Ehebett. Möbel vom Sperrmüll sind erster Notbehelf, einige, wie der große Tisch, an dem sich Familie und Freunde versammeln, gehören noch heute zum Inventar. Es ist noch gar nicht lange her, daß die Tür aus dem Schloß sprang, wenn einmal ein Laster durch die sonst ruhige Wilhemstraße donnerte. Daß dies heute nicht mehr passiert, dafür haben die Sicherheitsexperten gesorgt. Zum Grundstück gehört ein kleiner romantischer Garten, in dem jeden Jahr an einem Augustsamstag ausgiebig gefeiert wird. Geladen sind jene Freunde und Weggefährten, die Scharping schon begleitet haben, als er noch nicht im Rampenlicht der Bundespolitik stand. Zwei Katzen gehören zum Haushalt. Jutta Scharping holte sie aus dem Tierheim.
Sie hat sich längst damit abgefunden, mit einem Mann verheiratet zu sein, der nicht pünktlich jeden Abend um fünf nach Hause kommt. "Ich organisiere mir mein eigenes Leben selbst", sagt sie. Sie zieht die Lederjacke über, fährt mit ihren beiden älteren Töchtern nach Köln in ein Rockkonzert der Gruppe "U 2" oder nach Koblenz ins Rock-Café Hahn. Sie ist keine "Landesmutter" im herkömmlichen Sinn, sondern sucht sich die Aufgaben selbst, die sie erfüllen möchte. "Ich entscheide selbst, zu welchen Terminen ich meinen Mann begleite oder wo ich ihn vertrete. Dazu brauche ich keinen Fahrer - ich setze mich selber ans Steuer unseres Passat-Kombi." Etwa, wenn sie in Linz am Rhein zu mitternächtlicher Stunde den Kleinkunstpreis an den Bonner Kabarettisten Konrad Beikircher überreicht.
Mit Künstlern geht Jutta Scharping gerne um. In der "Heimat"-Veranstaltungsserie, die ihr Mann 1986 ins Leben rief, hat sie persönliche Erfahrungen, Freundschaften und Interessen gefunden und fortentwickelt. Sie ist Vize-Vorsitzende einer Aktionsgruppe rheinland-pfälzischer Künstler in Koblenz. Sie hat in Lahnstein eine Wohngruppe für HIV-Infizierte mitgegründet. "Ich packe dort selbst an, denn ich will Vorurteile gegen AIDS-Kranke abbauen helfen", sagt sie. Schirmherrin für irgendeine gute Sache - das wäre ihr zuwenig. Und wenn dann noch Zeit bleibt, liest sie oder joggt über die nahen Taunushöhen. "Dreißig Kilometer pro Woche habe ich mir fest vorgenommen." Für Politik interessiert sie sich sehr, aber sie hat sich entschieden, nicht aktiv einzusteigen. "Ich werde meinem Rudolf doch keine Konkurrenz machen."
First Lady in Bonn? "Ich finde Hillary Clinton gut. Es ist toll, wie sie das macht. Aber ich kann nicht so sein wie sie. Ich habe einen ganz anderen beruflichen Hintergrund." Auf jeden Fall bliebe Lahnstein ihr Lebensmittelpunkt und nicht der Kanzler-Bungalow.
Wenn von Ehekrisen bisher nichts zu hören war, dann wohl auch deshalb, weil die beiden sich in ihren Interessen sehr ähnlich sind: Sport, Musik, Kleinkunst. Und in ihren politischen Grundüberzeugungen. Über Politik können sie nächtelang miteinander reden. Aber wie ist ein Mensch, der als Politiker recht autoritär auftreten kann, als Familienvater im "Viermädelhaus"? Seine Frau: "Entscheiden, ja das kann er. Aber er läßt sich auch überzeugen. Gelegentlich überstimmen wir ihn auch schon mal."

Der Bart


Der Bart, Scharpings Kennzeichen ist mittlerweile mit einzelnen grauen Härchen durchsetzt. Schon mit siebzehn hat sich Scharping für diese Haartracht entschieden - "so etwas wie Protest war es schon". Zunächst umkränzte der Bart den Mund, erst später wuchs er kinnaufwärts. Bei seinem ersten Landtagswahlkampf als Spitzenkandidat 1987 rieten wohlmeinende Berater und die Herren von der Werbeagentur, ihn abzurasieren. "Der Bart bleibt dran", entschieden Jutta und die Töchter. In den Ferien habe er ihn mal zur Probe abrasiert. Schrecklich. Das sieht Scharping selbst nicht anders: "Ohne Bart bin ich nicht, was ich bin." Sogar seine Kontrahentin Heidemarie Wieczorek-Zeul antwortet am "Tag des Ortsvereins" auf die Frage, was ihr am besten an Rudolf Scharping gefalle: "Sein gepflegter Bart." Und die dicken Brillengläser? "Kontaktlinsen vertrage ich nicht", sagt er. Punktum.
Wie fragte doch Markus Heller in der "Zeit": "Ein Vollbart? Mitten im Gesicht des Kanzlers? geht das überhaupt?" Und die Antwort: "Karl der Große trug einen Vollbart, das prägte. Noch Heinrich I. (919 bis 936) und der viel spätere Heinrich II. hatten so etwas prachtvoll Gelocktes an sich... Von den zwanzig deutschen Kanzlern in Kaiserreich und Weimarer Republik trugen neunzehn einen Oberlippenbart, drei in Kombination mit einem Kinnschmuck." Na also.

Freunde und Mitarbeiter

Außerhalb seiner Partei, in der das Genossen-"Du" dazugehört, ist Scharping mit dem Duzen nicht schnell dabei. Obwohl man in einem kleinen Landtag über die Parteigrenzen hinaus leicht Freundschaften knüpft, gibt es nur drei CDU-Abgeordnete, mit denen er auf "Du" steht: CDU-Fraktionschef Hans-Otto Wilhelm und die Abgeordneten Franz Peter Basten und Peter Schuler. Dem rheinland-pfälzische FDP-Chef Rainer Brüderle ist er schon seit Mitte der achtziger Jahre freundschaftlich verbunden, und seit sie in einem Kabinett sitzen, duzen sie sich. Sie treffen sich jeden Dienstagmorgen zu einem anderthalbstündigen Frühstück zu zweit. Im Kabinett freilich geht es anschließend ganz förmlich zu.
Ein Freund im engeren Sinne ist im Kabinett Wissenschaftsminister Jürgen Zöllner. Freunde sind auch Fraktionschef Kurt Beck, sein "Kronprinz", und Landtagspräsident Christoph Grimm. In Scharpings Regierungsteam für die Bundestagswahl gehören Oskar Lafontaine und Ulrich Maurer zu den persönlichen Freunden. In seiner täglichen Umgebung sind vor allem zu nennen: Staatskanzlei-Chef Karl-Heinz Klär, Regierungssprecher Herbert Bermeitinger und Büroleiter Friedhelm Wollner.
Scharping und der zwei Jahre Friedhelm Wollner kennen sich seit 1967. Der Koblenzer Wollner zieht damals nach Lahnstein, macht ebenfalls bei den Jusos mit. Als Scharping dann Juso-Landesvorsitzender ist, führt Wollner den Unterbezirk Rhein-Lahn an. 1969 folgt er Scharping an die Bonner Universität, beide belegen die gleichen Fächer. Beide schreiben gemeinsam Aufsätze für Zeitschriften und Bücher. Und beide verdienen sich ihr Studium als Mitarbeiter im politischen Bereich. Wollner arbeitet im Kanzleramt bei Brandts ersten Planungschef Reimut Jochimsen (zuletzt Landeszentralbank-Chef in Nordrhein-Westfalen). Danach ist er Assistent bei der jungen Abgeordneten Herta Däubler-Gmelin.
Als Scharping 1975 nach Mainz geht, übernimmt Wollner dessen Job beim Abgeordneten Dietrich Sperling. Als Sperling Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesbauministerium wird, geht Wollner als Büroleiter mit. Die beiden machen Schlagzeilen, als sie den Weg vom Bauministerium an der Deichmannsaue, ganz im Süden von Bonn-Bad Godesberg, zum Bundeshaus statt mit dem Dienstwagen mit dem Paddelboot zurücklegen. Sperling, der seinen Wahlkreis lahnaufwärts von Scharpings Wirkungsgebiet Rhein-Lahn-Kreis im Hessischen hat, ist ein begeisterter Paddler. Seit den siebziger Jahren sind gemeinsame Paddeltouren des Sperlingschen Freundeskreises auf der Lahn eine feste Institution. Scharping ist fast immer dabei.
Nach der politischen Wende in Bonn ist Wollner im Bauministerium für Verkehrswegeplanung, namentlich der Bundesbahn zuständig. Er läßt sich schließlich für die Arbeit als Referent in der SPD-Bundestagsfraktion beurlauben. In dieser Zeit arbeitet er seinem Freund in Mainz vielfältig zu. Als die SPD 1991 die Wahl in Rheinland-Pfalz gewinnt, läßt sich Wollner vom Bonner SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel nach Mainz "ausleihen", um zunächst als Fachmann bei den Koalitionsgespräche mit der FDP und den Grünen dabeizusein. Wie selbstverständlich wächst er in seine neue Aufgabe. Als die Regierung steht, bedarf es gar keiner Worte mehr zwischen den beiden Lahnsteiner Freunden: Wollner wird Leiter des Ministerpräsidenten-Büros.
Friedhelm Wollner ist ein Mann, der ganz im Hintergrund wirkt. Er ist bescheiden, das Gegenteil von geltungssüchtig, wortkarg, kann aber auch "ausflippen", wenn nicht alles klappt. Die andere Seite dieses Mann ist sein stiller Humor. Er hat mit seinem Mentor Sperling den Phantom-Abgeordneten Jakob Maria Mierscheid erfunden, der sogar mit Anfragen in den Protokollen des Bundestages auftauchte und in Bonn für viel Wirbel, aber auch Gelächter gesorgt hat. "Mierscheid ist zu zwei Dritteln von mir. Manche Leute schmücken sich mit falschen Federn", sagt Wollner. Zu einer der Mierscheid-Thesen aus Wollners Feder: die Parallelität der SPD-Wahlerfolge zur Stahlproduktion. "Ich fürchte, Mierscheid muß sich nun eine andere Theorie ausdenken, wenn wir 1994 gewinnen wollen", sagt Wollner schmunzelnd.
Wollner und Scharping sitzen im Sommersemester 1971 im Hauptseminar beim Politikwissenschaftler Karl-Dietrich Bracher. Ein dritter ist dabei, den man nach 1991 auf der Führungsetage in Mainz findet: Karl-Heinz Klär. Wie Scharping wurde er 1947 geboren. Er ist Saarländer, studiert zunächst in Saarbrücken. Im Sommersemester schreibt er sich in Bonn ein. Mit Scharping kommt es zu zu einer losen Freundschaft. Klär tritt in Bonn in die SPD ein, ist im Unterbezirk der Partei aktiv. Scharping vermittelt ihm einen Job arbeitet als Lektor beim Neuwieder Luchterhand-Verlag, zu dem er gute Kontakte hat. Dann arbeitet Klär beim SPD-nahen Verlag Neue Gesellschaft/J.H.W. Dietz und als Archivar bei der Friedrich-Ebert-Stifung. Nebenbei schließt er sein Studium ab, promoviert 1979 zum Dr. phil. 1980 bekommt er eine C-1-Stelle als Assistenzprofessor an der Gesamthochschule Kassel. Als 1983 der Posten des Büroleiters von Willy Brandt in der Parteizentrale frei wird, empfiehlt Brandts Freund Horst Ehmke, Bonner Bundestagsabgeordneter, Klär. Nach Brandts Rücktritt wird Klär unter dem neuen Parteichef Hans-Jochen Vogel Leiter der Abteilung für Politische Planung in der "Baracke".
1987 und 1991 hilft Klär Scharping im Wahlkampf. So ist es nach dem Sieg für die beiden ausgemachte Sache, daß er nach Mainz geht. Er wird Chef der Staatskanzlei, also höchster Beamter des Landes, und übernimmt damit nach 44 Jahren CDU-Herrschaft einen der heikelsten Posten. In der Zwischenbilanz bekommt Klär allenthalben gute Noten. Er hat den Laden im Griff, spielt sich nicht in den Vordergrund. Er pfuscht dem Regierungssprecher nicht ins Handwerk, hat aber ein Feld für sich reserviert: die Medienpolitik. Er vertritt die medienpolitischen Interessen des Landes Rheinland-Pfalz, ist Vorsitzender der Kommission zur Ermittlung der Fernsehgebühren und hat die SPD-Länder bei der Schaffung des "nationalen Hörfunks" koordiniert. Scharping ist im Juni 1993 noch nicht zum neuen SPD-Chef gewählt, da wird Klär schon als künftiger Bundesgeschäftsführer gehandelt. Doch zwischen den beiden steht von vornerhein fest: Klärs Aufgaben liegen jetzt erst recht in Mainz, wenn sein Chef wegen bundespolitischer Verpflichtungen weniger Zeit für die Landespolitik hat. Und was eines Tages wird... Man wird sehen. Der Saarländer Klär jedenfalls, mittlerweile ein eingefleischter Bonner, ist ganz bewußt auf der "schäl Sick", im rechtsrheinischen Beuel, wohnengeblieben und nicht nach Mainz gezogen.
Eine Etage unter Scharping sitzt in der Staatskanzlei Regierungssprecher Herbert Bermeitinger, achtzehn Jahre älter als er, ein väterlicher Ratgeber, sozialdemokratisches Urgestein. Bermeitinger wird, nachdem er zunächst in der Bundestagsfraktion tätig war, 1969 Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. Als wenig später Wilhelm Dröscher sein neuer Chef wird, stellt er seinen Posten zur Disposition. Doch Dröscher will ihn behalten. Bermeitinger, der 1979 nur knapp mit einer Kandidatur für das Europäische Parlament scheitert, ist ein wandelndes Lexikon und Geschichtsbuch. Er hat den Scharpings Weg seit dessen Einzug in den Landtag 1975 begleitet und ist sein loyaler Sprecher ab 1985, als Scharping Fraktionschef wird, dessen loyaler Sprecher.
Die Umgebung im Regierungsalltag des Rudolf Scharping wäre unzureichend beschrieben, wenn man nicht auch seine Chefsekretärin Marie-Luise Fricker erwähnen würde, die er aus der Oppositionsetage mitbrachte, wo sie auch schon unter seinen Vorgängern die Seele des Büros war. Nummer zwei im Sekretariat ist Sonja Naab. Heike Raab ist seit 1993 seine persönliche Referentin. Zum engeren Stab gehören auch der Jurist Georg Wilmers und Rolf Engels als "Mädchen für alles". Engels, zu Scharpings Juso-Zeiten Vorsitzender des Unterbezirks Neuwied, war wie Wollner zuvor im Bundesbauministerium. Dieser Kreis setzt sich jeden Mittag am großen Tisch von Wollner zusammen, um gemeinsam zu Mittag zu essen. Man zahlt in eine gemeinsame Kasse, einer muß im Wechsel das Essen besorgen. Scharping vespert mit, wann immer es geht. Er liebt diese Art der Kommunikation, wo sich in den Gesprächen Dienstliches unmerklich mit Privatem vermischt. Und dienstags nach Feierabend tut sich dieser Kreis mit Wissenschaftsminister Zöllner und seinem Büro zusammen, um Volleyball zu spielen.
Treue zu Personen zeichnet Scharping aus: Cheffahrer Dieter Wienerl hat ihn schon zu Oppositionszeiten kutschiert. Der zweite Fahrer, Rolf Arnold, ist Lahnsteiner, seine Tochter engste Freundin von Scharpings Jüngster, Julia. Scharping: "Ich hatte Rolf Arnold 1990 in einer für ihn schwierigen persönlichen Situation zu helfen versprochen und das nach gewonnener Wahl sofort eingelöst." Vertrauensvoll auch das Verhältnis Scharpings zu seinen "Bodyguards". Jupp Castor und Karlheinz Maron sind der harte Kern der Sicherheitstruppe, gehören fast zur Familie. Für die Scharpings gibt es keine "Standesfragen".
Und die Freunde außerhalb der Politik? Da sind Fußballer wie Stefan Kuntz vom FC Kaiserslautern und Klaus Toppmöller zu nennen, inzwischen Trainer von Eintracht Frankfurt, andererseits Hans-Dieter Hüsch, der Barde und Kabarettist. Und Konstantin Wecker ist wohl sein ungewöhnlichster Freund. Der linke Liedermacher aus München, der sich am eigenen Schopf aus dem Drogensumpf gezogen hat, war einige Male zu Gast in Lahnstein. Scharping fuhr nach München, die beiden zogen über das Oktoberfest, flippten so richtig aus. Wecker in der "Bunten" im Juni 1993: "Ich weiß, daß Scharping oft für einen etwas spröden Beamtentypen gehalten wird, aufrichtig zwar, fleißig und korrekt, aber nicht gerade von sinnlicher Lebensfreude sprühend, und viele wundern sich über unsere Freundschaft. Aber ich kenne Rudolf auch als einen Menschen, der bis vier Uhr morgens meinen Geburtstag feiert, meine Freunde mit seinem Witz begeistert, auf der Heimfahrt nach Mainz im Auto schläft, um sich dann pünktlich um acht Uhr wieder dem Regieren zu widmen."
Scharping, der die "Toskana-Fraktion" der SPD zum Gegen- wenn nicht gar Feindbild erkoren hat (in dem großen Mißverständnis, es handele sich um ein Synonym für Luxus und Hedonismus; das Gegenteil ist der Fall: Toskana bedeutet Freude am einfachen Leben), besucht im Herbst 1991 Wecker auf dessen Landgut in Ambra, einem Dörfchen mitten im Dreieck Florenz-Siena-Arezzo. Das einzig Störende an dem Treffen ist die ständige Anwesenheit der italienischen Carabinieri, die vom Bundeskriminalamt über den hohen Privatbesuch alarmiert worden waren. Aber einmal können Wecker und seine Gäste ausbüchsen. In der "OsteriA Le Logge", gleich hinter der Piazza del Campo, genießen sie urwüchsige toskanische Küche. Gianni, der Küchenchef, präsentiert dem Gast stolz sein eigenes Kochbuch - mit einem Vorwort von "Le Logge"-Freund Otto Schily, dem Repräsentanten der Toskana-Fraktion, der gleich um die Ecke auf seinem Landgut im Arbia-Tal lebt, wann immer er Bonn entfliehen kann.
Nicht, daß sie immer einer Meinung sind, Scharping und sein Sänger-Freund Wecker. Etwa, wenn es um das Asylrecht geht. Oder auch um das Buch "Uferlos", in dem sich Wecker als ehemaliger Junkie outet. "Da bin ich mit vielem nicht einverstanden", sagt Scharping. Aber, so Wecker: "Es ist bei Rudolf immer wieder möglich zu vergessen, daß er Ministerpräsident ist. Ich glaube, nur so läßt sich eine Freundschaft auch aufrechterhalten - und ich wünsche ihm und uns von Herzen, daß ihm das bei seinen kommenden Aufgaben nicht verloren gehen möge."

Lebenswege


Um Scharping zu verstehen, ist es aufschlußreich, seinen Lebensweg mit dem anderer Brandt-"Enkel" zu vergleichen.
Oskar Lafontaine zum Beispiel. Er hatte es vergleichsweise leicht. Als er sich entschloß, Karriere zu machen, war die saarländische SPD faktisch führungslos. Sie war nach der Zerreißprobe um die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik - ein Teil der Partei wollte bei Frankreich bleiben oder einen autonomen Staat bilden - nie wieder hochgekommen. Eine Handvoll Jung-Politiker, vornean Lafontaine, hatte es nicht schwer, das entstandene Vakuum zu füllen. Lafontaine hat Physik studiert, beruflich aber Karriere mit dem Parteibuch gemacht - über öffentliche Betriebe bis zum Oberbürgermeistersessel der Stadt Saarbrücken, bis er schließlich 1985 Ministerpräsident wurde.
Oder Björn Engholm. Ein Mann des zweiten Bildungsweges, der sich erst beruflich nach oben arbeitete, ehe er politisch Karriere machte. Ehrgeiz hat er nie ausgestrahlt, dafür Sympathie und Menschlichkeit. Das brachte ihn nach oben. SPD-Chef wollte er nicht werden, zierte sich tagelang. Daß er kurz vor Weihnachten 1990 doch Ja sagte, war vielleicht auch deshalb eine Fehlentscheidung, weil sie ihm gegen den Strich ging.
Oder Gerhard Schröder. Ähnlich wie Scharping in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, ähnlich wie er aufgrund dieser sozialen Erfahrung in die SPD eingetreten, schnelle Spitzenkarriere bei den Jusos, abgeschlossenes Studium und Berufspraxis als Rechtsanwalt, dann Bundestagsabgeordneter. Im entscheidenen Augenblick erhebt er den Führungsanspruch in Niedersachsen, drängt die Altvorderen beiseite. Ein Mann, der schon mal auf persönliches Risiko setzt. Wenn es schiefgeht, hat er Pech gehabt.
Dagegen Rudolf Scharping. So bedächtig, wie er auftritt, verlief seine Karriere. Jene, die ihn angesichts seiner Wahl zum SPD-Vorsitzenden zum Senkrechtstarter erklärten, vergessen, daß sein Weg nach oben lange gedauert hat. Zuerst Kommunalpolitik, 1975 Landtag, 1979 die erste herausgehobene Position als Fraktions-Geschäftsführer, erst 1985 der nächste und entscheidende Schritt an die Spitze von Partei und Fraktion in Rheinland-Pfalz. Er hat sich jeden dieser Schritte erarbeitet. Das bedeutet aber auch, daß er ein dichtes Netz persönlicher Kontakte aufbauen konnte. Im entscheidenden Augenblick hielt es. Er brauchte sich seine Mehrheiten nicht zusammenzutelefonieren.
Vielleicht ist ja etwas dran an dem Satz von Helmut Kohl, Scharping sei ein "Typus Politiker, der seine Karriere über Jahre hinweg auf dem Reißbrett entwickelt" habe. Denn er wußte schon, was er wollte. "Sein Ziel war immer die Bundespolitik", sagt sein Bruder Wolfgang, der grüne Kommunalpolitiker aus Kerpen im Erftkreis. Aber der reine Berufspolitiker ohne Lebenserfahrung ist er deshalb nicht (was, wenn Kohl dies mit seinem Vorwurf gemeint haben sollte, ohnedies ein Bumerang-Argument wäre). Weil seine Eltern ihm das Studium nicht finanzieren konnten, hat er in den Semesterferien gejobbt, auch schmutzige Arbeiten ausgeführt. Er hat Graswurzelarbeit als Kommunalpolitiker und Landtagsabgeordneter geleistet, so daß ihm niemand nachsagen kann, er wisse nicht, was den kleinen Mann bewegt. Natürlich ist sein Lebensweg nicht mit dem der vorigen Politiker-Generation vergleichbar; für sie waren Krieg und Nazi-Barbarei ein wesentlicher Teil ihres Lebens. Ein Lebensrisiko bleibt für Scharping: Er ist gelernter Politiker. Wenn er morgen stürzt, fängt ihn keine Anwaltskanzlei, keine Universität, keine Gewerkschaftsbürokratie auf. Was er vorzeigen kann, sind reichliche Erfahrungen im Management.

Aus der Sicht der Gegner

Die linke Kritik an Scharping kulminiert in der Schlagzeile "Pfälzer Rot-Kohl" ("Die Woche"). "Die Sozialdemokraten könnten künftig vor dem Dauerproblem stehen, den kleinen Unterschied zwischen Scharping und Kohl erklären zu müssen", wird die Grünen-Politikerin Gisela Bill zitiert (die ja so gerne Scharpings Frauenministerin geworden wäre).
Heinrich Pachl bringt in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" die linke Sichtweise auf den Punkt: "Mit dem Genossen Scharping haben wir das Konzentrat einer Mitte, deren Substanz genau so ist, wie er selbst spricht und argumentiert, indem er auf Fragen eingeht, ohne sich auf Antworten festzulegen, aber dabei keinesfalls ausweicht, sondern eine Festigkeit suggeriert, bei der die Form Vertrauenswürdigkeit produziert und damit ausreichende Überzeugungskraft rüberbringt, daß auf die Inhalte gewartet werden kann, weil ganz klar gilt: Ein Schritt nach dem anderen. Die offensive Fehlervermeidung hat zugeschlagen, die Ehrbarkeit des Amtmanns mit dem Keramiklächeln, welches allen klar verheißt, daß es nicht darauf ankommt, daß man ihn nicht einschätzen kann, sondern darauf, daß man eines gewiß nicht kann: ihn unterschätzen. Das Prinzip des jungen Kohl mit sozialdemokratischen Mitteln. Ein Hoffnungsträger, der verspricht - so jung wie er noch ist -, den CDU-Kanzler nicht unbedingt zu vertreiben, aber bestimmt mal wegzusitzen."
Ulrich Deupmann bemerkt in der "Süddeutschen Zeitung" (15. Juni 1993): "Scharping weiß, daß er noch eine ganze Weile mit den Klischees vom biederen, hölzernen, langweiligen Mann' wird leben müssen. Nicht nur in Teilen der SPD herrscht die Meinung, daß die Begriffe Scharping' und Attraktivität' jede Gemeinsamkeit ausschließen. Auch bei den hohen Kulturschaffenden in dieser Republik ist eine seltsam heftige Aversion gegen die Person Scharpings zu beobachten. Gerade solche, die sich ihren Ruf in politischen Feuilletons sonst durch geistige Schärfe und Tiefe erworben haben, gaben in den vergangenen Wochen hinter vorgehaltener Hand jede Menge Sprüche dieser Qualität zum besten, daß der Scharping erst einmal zum Visagisten muß', daß der so hüftsteif geht wie Willy Brandt mit 70' oder daß das einzig gute an Scharping ist, daß er nicht fremdgeht'. Diese Töne klingen merkwürdig bekannt. Ähnliches haben Publizisten und Intellektuelle schon einmal über einen bekannten Politiker namens Helmut Kohl gesagt."
Und was sagt ein Gegenspieler aus dem konservativen Lager? Hans-Otto Wilhelm rückte schon 1974 in den Landtag nach. Ab 1975 waren dann er bei der CDU und Scharping bei der SPD die beiden vorwärtsdrängenden und in ihren Fraktionen links stehenden Jungpolitiker. Man hat sie damals oft miteinander verglichen. Beide kannten sich schon vorher: der eine als Vorsitzender der Jungen Arbeitnehmerschaft, der andere als Juso-Landesvorsitzender. Da gab es Begegnungen, und seither duzen sie einander. Später sind sie die Vorsitzenden ihrer Fraktionen, ab 1991 der eine - Scharping - Regierungschef, der andere - Wilhelm - Oppositionsführer.
Wilhelm, der selber unter dem Makel des "Königsmörders" zu leiden hat, zeichnet ein differenziertes Bild von seinem Counterpart Scharping. Er hält ihn für eine "chamäleonhafte Persönlichkeit". Er sei äußerst konsequent in der Erreichung mittel- und langfristiger Ziele, betreibe das Geschäft mit buchhalterischer Akkuratesse ("Dagegen bin ich ein Sponti"), sei bei alledem aber auch skrupellos. Seine Karriere habe er "auf dem Hintern" gemacht, durch Präsenz und Fleiß. Dabei sei ihm die Schwäche der SPD-Fraktion zugute gekommen.
Was den persönlichen Umgang angeht, habe Scharping Probleme, auf Menschen zuzugehen. Gelegentliche Annäherungen seien gekünstelt und kalkuliert. Die Art, in der er rede, sei aufgesetzt, sein bedächtig-steifer Gang antrainiert ("Anfangs war er anders"). Kurzum, so das Urteil Wilhelms: eine Kunstperson, zu wenig natürlich. "Er geht nicht aus sich heraus, er berechnet alles auf seine Wirkungen hin."
In seiner Rhetorik beherrsche Scharping durchaus "vordergründige Tricks", sagt Wilhelm. So nehme er bei Landtagsreden gerne Bücher mit ans Pult und lese dann in aller Breite, aber mit gedämpfter Stimme daraus vor. "Die Ohren der Zuhörer sollen immer größer werden", meint Wilhelm dies alles durschaut zu haben. "Mittlerweile rufe ich bei solchen Gelegenheiten meinen Leuten zu: Laufen, laufen!' Das schafft dann Unruhe und bringt ihn aus dem Konzept."
Trickreich sei Scharping auch, wenn es darum gehe, in Gesprächsrunden allumfassende Kompetenz zu vermitteln. Ein Beispiel seien die Bonner Solidarpaktverhandlungen, wie sie ihm aus Sicht seiner CDU-Freunde geschildert worden seien. Scharping habe den Augenblick abgewartet, als der Kanzler, die beteiligten Minister und die Ministerpräsidenten noch einmal ganz ohne ihre Fachleute und Mitarbeiter versuchten, den gordischen Knoten zu durchschlagen. "Da saßen die meisten wie Blindschleichen. Scharping aber hatte sich von seinem Finanz-Staatssekretär präparieren lassen und stellte zwei, drei Fragen, die den Kern des Problems trafen. Sogar der Kanzler war beeindruckt, und bei den nächsten Verhandlungsrunden schauten alle auf Scharping."
Solange die SPD in der Opposition war, habe Scharping mit Vorliebe Untersuchungsausschüsse verlangt und durchgesetzt. "Das war seine Art von Voyeurismus." Er habe dieses Mittel auch ohne Skrupel und ohne Rücksicht auf Menschen, die damit unverschuldet auf die Anklagebank gerieten, eingesetzt. Wilhelm spricht aus eigener Erfahrung, denn im Untersuchungsausschuß zur Vergabe von Spielbanklizenzen und Hörfunkfrequenzen mußte er selber in den Zeugenstand. Dabei, so Wilhelm, habe Scharping allerdings selbst einen "Blackout" gehabt. Er hatte bestritten, mit einer beteiligten Person je gesprochen zu haben. Doch aus seinem Terminkalender ergab sich ein einstündiges Gespräch.
Wilhelm sieht auch positive Seiten. "Glaubwürdigkeit und Kompetenz - das ist eine Devise, nach der er und ich stets zu handeln versucht haben." Wenn man mit ihm unter vier Augen etwas vereinbare, so könne man sich auch hundertprozentig darauf verlassen.
Der Wahlsieg von 1991 kam nach Ansicht von Wilhelm für die SPD nicht unverdient. "Die Leute wollten die Vision einer Alternative." Deshalb kann er sich auch nur wundern, wenn Bernhard Vogel auf dem CDU-Bundesparteitag in Berlin im September 1993 behauptet: "Auch ein Scharping ist besiegbar." Der heutige Ministerpräsident von Thüringen, so merkt Wilhelm bitter an, habe wohl vergessen, daß er 1987 in der Auseinandersetzung mit Scharping 6,8 Prozent verloren habe.
Ein Mann wie Wilhelm hält es durchaus für möglich, daß der nächste Bundeskanzler Rudolf Scharping heißt. Und Scharping selber? "Verzaget nicht! Wer selbst nicht daran glaubt, daß er gewählt wird, den werden auch die Wähler nicht wählen." Das sagte er im Januar 1985 anläßlich des zwanzigjährigen Bestehens des SPD-Ortsvereins Herschbach bei Pirmasens. Es ist sein Motto geblieben.

Lebenslauf


1947 Rudolf Albert Scharping wird am 2. Dezember als Sohn von Hilde und Albert Scharping in Niederelbert geboren
1949 Die Familie zieht nach Niederlahnstein
1954 Volksschule in Niederlahnstein
1958 Städtisches Gymnasium in Oberlahnstein
1966 Eintritt in die SPD
1966 Abitur, anschließend Grundwehrdienst in Büchel (Eifel)
1967 Studium (Jura, Soziologie, später Politologie) an der Universität Bonn
1968 SPD-Ausschlußverfahren
1969 Wahlhelfer und anschließend Assistent des Bundestagsabgeordneten Wilhelm Dröscher
1969 Rheinland-pfälzischer Landesvorsitzender der Jungsozialisten (bis 1974); Wiederaufnahme in die SPD
1971 Kandidat für den Landtag (B-Liste)
1971 Heirat mit der Winzerstochter Jutta Krause aus Volxheim
1972 Assistent des Bundestagsabgeordneten Dietrich Sperling (bis 1975)
1974 Mitglied des Stadtrats von Lahnstein (bis 1991)
1974 Stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos (bis 1976)
1974 Studienabschluß als Magister Artium in politischer Wissenschaft an der Universität Bonn
1975 Wahl in den Landtag von Rheinland-Pfalz
1979 Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion
1979 Mitglied des Kreistags von Bad Ems (bis 1991)
1984 Vorsitzender des SPD-Bezirks Rheinland/Hessen-Nassau (bis 1990)
1985 Fraktionsvorsitzender und SPD-Landesvorsitzender
1987 Spitzenkandidat bei der Landtagswahl
1988 Wahl in den SPD-Parteivorstand
1991 Sieg bei der Landtagswahl und Wahl zum Ministerpräsidenten
1993 Bewerbung für das Amt des SPD-Vorsitzenden, relative Mehrheit bei der Mitgliederbefragung; am 25. Juni Wahl zum SPD-Vorsitzenden